Was es bedeutet, Bachman zu sein
 
von Stephen King
 
Das ist meine zweite Einführung zu den sogenannten Bachman-Büchern – ein Ausdruck, der (zumindest in meinen Augen) die ersten unter dem Namen Richard Bachman veröffentlichten Romane bezeichnet, die als Taschenbucherstausgaben im Signet-Verlag erschienen sind. Meine erste Einführung war nicht besonders gut; sie liest sich für mich wie ein Paradefall von Autor-Verschleierung. Aber das ist nicht erstaunlich. Als sie geschrieben wurde, war Bachmans Alter Ego (mit anderen Worten: ich) nicht in einer Stimmung, die ich als kontemplativ oder analytisch bezeichnen würde; ich fühlte mich im Grunde beraubt. Bachman war nicht als kurzfristiges Pseudonym gedacht; er sollte eigentlich ein langes Leben haben, und als mein Name im Zusammenhang mit seinem genannt wurde, war ich überrascht, aufgebracht und verärgert. Das ist kein Geisteszustand, der dem Schreiben guter Essays förderlich ist. Diesmal gelingt es mir vielleicht ein bisschen besser.
Das Wichtigste, was ich über Richard Bachman sagen kann, ist vermutlich der Umstand, dass er real wurde. Natürlich nicht ganz und gar (sagte er mit einem nervösen Lächeln); ich schreibe dies ja nicht in einer Art Wahnvorstellung. Es sei denn … nun ja … vielleicht doch. Wahnvorstellungen sind schließlich etwas, worin Romanschriftsteller ihre Leser zu bestärken versuchen, zumindest während sie das Buch aufgeschlagen vor sich haben, und der Autor ist kaum immun gegen diesen Zustand einer … wie soll ich es nennen? Wie hört sich »gelenkte Wahnvorstellung« an?
Auf jeden Fall begann Richard Bachman seine berufliche Laufbahn nicht als Wahnvorstellung, sondern als ein Zufluchtsort, von dem aus ich einige Frühwerke veröffentlichen konnte, an denen Leser meiner Ansicht nach Gefallen finden mochten. Dann wurde er allmählich größer und lebendiger, wie es die Geschöpfe der Einbildungskraft eines Schriftstellers häufig tun. Ich fing an, mir sein Leben auf dem Bauernhof vorzustellen … seine Frau, die wunderschöne Claudia Inez Bachman … seine einsamen Vormittage in New Hampshire, die er damit verbringt, seine Kühe zu melken, in den Wald zu gehen und über seine Geschichten nachzudenken … während er seine Abende schreibend verbringt, immer mit einem Glas Whiskey neben seiner Olivetti-Schreibmaschine. Ich kannte mal einen Schriftsteller, der zu sagen pflegte, der Roman oder die Geschichte, an dem oder an der er gerade schrieb, »lege einige Pfunde zu«, wenn er gut damit vorankam. Auf ganz ähnliche Weise begann mein Pseudonym, einige Pfunde zuzulegen.
Als seine Tarnung aufgeflogen war, starb Richard Bachman. In den wenigen Interviews, die ich mich aus diesem Anlass zu geben verpflichtet fühlte, machte ich mich ein bisschen lustig darüber und sagte, er wäre an Pseudonymkrebs gestorben, aber eigentlich hat ihn der Schock umgebracht: die Erfahrung, dass dich die Leute manchmal nicht in Ruhe lassen. Um es ein wenig emphatischer (aber keineswegs ungenau) zu formulieren: Bachman war die Vampirseite meiner Existenz, die vom Sonnenlicht der Enthüllung getötet wurde. Meine dadurch ausgelösten Gefühle waren verworren genug (und fruchtbar genug), um ein Buch entstehen zu lassen (und zwar ein Buch von Stephen King): Stark – »The Dark Half«. Es handelt von einem Schriftsteller, dessen Pseudonym George Stark tatsächlich zum Leben erwacht. Diesen Roman hat meine Frau immer verabscheut, vielleicht weil der Traum, ein Schriftsteller zu sein, für Thad Beaumont die Realität seiner menschlichen Existenz überwältigt; in Thads Fall schlägt wahnhaftes Denken die Rationalität vollkommen aus dem Feld, und das hat furchtbare Konsequenzen.
Dieses Problem hatte ich allerdings nicht. Wirklich nicht. Ich ließ Bachman hinter mir, und obwohl es mir leidtat, dass er sterben musste, würde ich lügen, wenn ich nicht zugäbe, dass ich auch ein wenig erleichtert war.
Die ersten vier Bachman-Bücher wurden von einem jungen Mann geschrieben, der voller Zorn und Energie und ernstlich vernarrt in die Kunst und Technik des Schreibens war. Sie wurden nicht von vornherein als Bachman-Bücher geschrieben (Bachman war schließlich noch nicht erfunden worden), aber in einem bachmanesken Geisteszustand: von einer tief sitzenden Wut erfüllt, sexuell frustriert, auf verrückte Weise gut gelaunt und von Verzweiflung zerfressen. Ben Richards, der magere, schwindsüchtige Protagonist von Menschenjagd (er ist ungefähr so weit von der im Film durch Arnold Schwarzenegger verkörperten Figur entfernt wie überhaupt möglich), knallt mit seinem entführten Flugzeug gegen den Wolkenkratzer von Network Games, nimmt seinen eigenen Tod in Kauf, reißt aber Hunderte (vielleicht Tausende) von leitenden Free-Vee-Angestellten mit in diesen Tod: Das ist Richard Bachmans Version von einem Happy End. Die anderen Romane Bachmans enden sogar noch trostloser. Stephen King hat stets gewusst, dass die Guten nicht immer gewinnen (siehe Cujo, Friedhof der Kuscheltiere und – vielleicht – Christine), aber er hat auch begriffen, dass sie es meistens tun. Im wirklichen Leben gewinnen die Guten jeden Tag. Um diese Siege wird meistens nicht viel Aufhebens gemacht (mit der Schlagzeile MANN KOMMT ERNEUT SICHER VON DER ARBEIT NACH HAUSE würde man nicht viele Zeitungen verkaufen), aber sie sind nichtsdestoweniger real … und Romane sollten die Realität widerspiegeln.
Und dennoch …
In der ersten Fassung von Stark – »The Dark Half« ließ ich Thad Beaumont Donald E. Westlake zitieren, einen sehr humorvollen Schriftsteller, der eine Reihe von sehr düsteren Kriminalromanen unter dem Pseudonym Richard Stark veröffentlicht hat. Als er einmal gebeten wurde, die Dichotomie zwischen Westlake und Stark zu erklären, sagte er: »Westlake-Geschichten schreibe ich an sonnigen Tagen. Wenn es regnet, bin ich Stark.« Ich glaube nicht, dass diese Sätze es bis in die letzte Version von Stark – »The Dark Half« geschafft haben, aber ich habe sie immer vorzüglich gefunden (und eine besondere Beziehung zu ihnen entwickelt, wie man neuerdings gern zu sagen pflegt). Bachman – eine fiktive Figur, die mit jedem unter ihrem Namen publizierten Buch realer für mich wurde – ist ein Regentage-Typ vom Scheitel bis zur Sohle.
Die Guten gewinnen meistens, Mut triumphiert in der Regel über Furcht, der Familienhund fängt sich so gut wie nie die Tollwut ein; das sind Dinge, die ich mit fünfundzwanzig wusste, und es sind Dinge, die ich jetzt noch weiß, im Alter von 25 x 2. Aber ich weiß auch etwas anderes: Es gibt einen Ort in uns, wo es praktisch die ganze Zeit regnet, die Schatten immer lang und der Wald voller Ungeheuer ist. Es ist gut, eine Stimme zu haben, in der die Schrecken eines solchen Orts artikuliert und seine geografische Lage teilweise beschrieben werden können, ohne den Sonnenschein und die Klarheit zu verleugnen, die einen derart großen Teil unseres gewöhnlichen Lebens erfüllen.
In Der Fluch sprach Bachman zum ersten Mal selbst – es war der erste der frühen Bachman-Romane, der seinen Namen auf der ersten Fassung trug und nicht meinen -, und es kam mir wirklich unfair vor, dass er ausgerechnet in dem Moment, in dem er mit seiner eigenen Stimme zu sprechen begann, irrtümlich für mich gehalten wurde. Und der Eindruck, dass es sich um einen Fehler handelte, drängte sich mir einfach auf, weil Bachman allmählich zu einer Art Es für mich geworden war; er sagte jene Dinge, die ich nicht sagen konnte, und die Vorstellung, die er von sich dort draußen auf seinem Bauernhof in New Hampshire hatte – kein Bestseller-Autor, dessen Name auf einer blöden Forbes-Liste erscheint, von Leuten aus der Unterhaltungsindustrie mit mehr Geld auf dem Konto, als gut für sie ist, oder dessen Gesicht in der Today-Show auftaucht oder der Miniaturrollen in Filmen spielt -, wie er in aller Ruhe seine Bücher schreibt, gestattete ihm, auf eine Weise zu denken, wie ich nicht denken, und auf eine Weise zu sprechen, wie ich nicht sprechen konnte. Und dann kam es zu diesen Zeitungsmeldungen, in denen stand: »Bachman ist in Wirklichkeit King«, und es gab niemanden – nicht einmal mich -, der den Toten verteidigt oder auf den offensichtlichen Umstand hingewiesen hätte, dass King in Wirklichkeit auch Bachman war, zumindest eine gewisse Zeit.
Ich hielt es damals für unfair, und ich halte es heute für unfair, aber manchmal spielt dir das Leben einen kleinen Streich, das ist alles. Ich beschloss, Bachman aus meinen Gedanken und meinem Leben zu verbannen, und einige Jahre gelang mir das auch. Aber als ich einen Roman (einen Stephen-King-Roman) namens Desperation schrieb, tauchte Richard Bachman plötzlich wieder in meinem Leben auf.
Zu der Zeit arbeitete ich auf einem Wang-Textverarbeitungssystem; die Anlage sah aus wie das Visiphon in einer alten Flash-Gordon-Folge. Angeschlossen war sie an einen unwesentlich moderneren Laserdrucker, und von Zeit zu Zeit, wenn mir eine Idee durch den Kopf schoss, schrieb ich einen Satz oder einen möglichen Titel auf ein Stück Papier und klebte es an die Seite des Druckers. Als ich ungefähr drei Viertel von Desperation geschrieben hatte, klebte ein Stück Papier mit einem einzigen Wort darauf am Drucker: Regulator. Ich hatte eine großartige Idee für einen Roman gehabt, etwas, was mit Spielsachen, Schusswaffen, Fernsehen und der Welt der Vorstädte zu tun hatte. Ich wusste nicht, ob ich ihn je schreiben würde – aus vielen dieser »Drucker-Notizen« ist nie etwas geworden -, aber es war definitiv cool, darüber nachzudenken.
Dann kam mir an einem regnerischen Tag (einem Tag ganz nach Richard Starks Geschmack) noch eine Idee, als ich den Wagen in unsere Zufahrt hineinsteuerte. Ich weiß nicht, woher sie kam; sie hatte nichts mit dem belanglosen Zeug zu tun, das mir zu dieser Zeit durch den Kopf ging. Die Idee bestand darin, die Figuren aus Desperation zu nehmen und sie in Regulator zu versetzen. In einigen Fällen, dachte ich, könnten sie dieselben Leute spielen; in anderen würden sie sich ändern; in keinem Fall würden sie dieselben Dinge tun oder auf dieselbe Weise reagieren, weil die unterschiedlichen Geschichten verschiedene Vorgehensweisen erforderlich machen würden. Es wäre so, dachte ich, als ob die Mitglieder eines Repertoire-Ensembles in zwei verschiedenen Stücken spielten.
Dann schoss mir eine noch aufregendere Idee durch den Kopf. Wenn ich das Konzept des Repertoire-Ensembles bei den Figuren benutzen konnte, dann konnte ich es genauso gut bei dem Plot anwenden – ich konnte eine ganze Menge der Elemente von Desperation in einer völlig neuen Anordnung arrangieren und eine Art Spiegelwelt erschaffen. Ich wusste, noch bevor ich mich daranmachte, dass viele Kritiker diese Doppelung als Trick bezeichnen würden … und damit lägen sie nicht einmal ganz falsch. Aber, so dachte ich, es könnte ein guter Trick sein. Vielleicht sogar ein erhellender Trick, einer, der die Kraft und die Vielseitigkeit einer Erzählung veranschaulicht, ihre so gut wie grenzenlose Fähigkeit, ein paar Grundelemente in zahllosen erfreulichen Variationen durchzuspielen, ihren spitzbübischen Charme.
Aber die beiden Bücher durften nicht genau gleich klingen, und sie durften nicht das Gleiche bedeuten, genauso wenig, wie ein Stück von Edward Albee und eines von William Inge gleich klingen und das Gleiche bedeuten dürfen, selbst wenn sie an aufeinanderfolgenden Abenden von den gleichen Schauspielern aufgeführt werden. Wie konnte ich eine andere Stimme erschaffen?
Zunächst dachte ich, das könnte ich nicht und es wäre am besten, die Idee dem Reuben-Goldberg-Mülleimer anzuvertrauen, den ich in meinem Hinterkopf stehen habe – der mit dem Schild INTERESSANTE, ABER UN-DURCHFÜHRBARE VORHABEN. Dann fiel mir ein, dass mir die Antwort schon die ganze Zeit auf der Zunge lag: Richard Bachman konnte Regulator schreiben. Seine Stimme klang oberflächlich gesehen genauso wie meine, aber darunter bestand ein himmelweiter Unterschied – sagen wir, der Unterschied zwischen Sonnenschein und Regen. Und der Blick, mit dem er seine Mitmenschen bedachte, war immer von meinem verschieden, gleichzeitig lustiger und kälter (Bart Dawes in Sprengstoff, mein Lieblingsroman unter den frühen Bachman-Büchern, ist ein ausgezeichnetes Beispiel).
Natürlich war Bachman tot, das hatte ich ja selbst bekannt gegeben, aber der Tod ist im Grunde kein großes Problem für einen Schriftsteller – fragen Sie einfach Paul Sheldon, der Misery Chastain für Annie Wilkes wieder zum Leben erweckte, oder Arthur Conan Doyle, der Sherlock Holmes aus den Reichenbach-Fällen auftauchen ließ, als seine Fans im ganzen Britischen Weltreich ihn lautstark zurückforderten. Ohnehin ließ ich Richard Bachman nicht mehr von den Toten auferstehen; ich stellte mir lediglich eine Kiste mit vergessenen Manuskripten in seinem Keller vor, in der Regulator zuoberst lag. Und dann transkribierte ich das Buch, das Bachman schon geschrieben hatte.
Diese Transkription war ein bisschen zäher … aber sie war zugleich ungeheuer erfrischend. Es war wundervoll, Bachmans Stimme wieder zu hören, und das, was ich mir davon erhofft hatte, geschah tatsächlich: Ein Buch kam zum Vorschein, das eine Art Zwilling des Buchs war, das ich unter meinem eigenen Namen geschrieben hatte (und die beiden Bücher wurden ziemlich buchstäblich direkt hintereinander geschrieben: Das King-Buch wurde genau einen Tag, bevor ich mit dem Bachman-Buch begann, fertig). Sie ähneln sich nicht mehr, als King und Bachman einander ähneln. Desperation handelt von Gott; Regulator handelt vom Fernsehen. Das heißt vermutlich, dass sie beide von höheren Mächten handeln, aber sie sind gleichwohl sehr unterschiedlich.
Die Bedeutung, Bachman zu sein, lag für mich immer darin, eine gute Stimme und eine einleuchtende Perspektive zu finden, die von meiner ein wenig verschieden war. Nicht wirklich verschieden; ich bin nicht schizophren genug, das zu glauben. Aber ich glaube, dass es bestimmte Tricks gibt, die wir alle benutzen, um unsere Perspektive und unsere Wahrnehmung zu verändern – um uns auf eine neue Weise zu sehen, indem wir andere Sachen anziehen und uns eine neue Frisur verpassen -, und dass solche Tricks sehr nützlich sein können, eine Methode, alte Strategien, wie man sein Leben führt, das Leben wahrnimmt und schöpferisch tätig ist, mit neuem Leben zu erfüllen. Ich mache keine dieser Bemerkungen, um anzudeuten, dass ich in den Bachman-Büchern großartige Dinge vollbracht habe, und sie sollen bestimmt nicht als Argumente für eine besondere künstlerische Leistung dienen. Aber ich liebe das, was ich tue, so sehr, dass ich ungern zu einem routinierten Langweiler werde, wenn ich es verhindern kann. Bachman war für mich eine Methode, mit deren Hilfe ich versucht habe, meine Technik aufzufrischen, und die mich davor bewahrt hat, zu bequem und behäbig zu werden.
Diese frühen Bücher zeigen, wie ich hoffe, eine gewisse Entwicklung der Bachman-Persona, und ich hoffe, sie zeigen außerdem das Wesen dieser Persona. Richard Bachman, ein düsterer Charakter, verzweifelt sogar, wenn er lacht (eigentlich vor allem dann verzweifelt, wenn er lacht) – er ist kein Bursche, der ich die ganze Zeit sein möchte, selbst wenn er noch am Leben wäre … aber es ist gut, diese Möglichkeit zu haben, dieses Fenster zur Welt, auch wenn es vielleicht polarisiert ist. Trotzdem machen meine Leser, wenn sie seine Bücher lesen, vielleicht die Entdeckung, dass Dick Bachman eine Eigenschaft mit Thad Beaumonts Alter Ego, George Stark, gemeinsam hat: Er ist kein sehr netter Typ.
Und ich frage mich, ob es irgendwelche anderen guten Manuskripte, die vollendet sind oder kurz vor der Vollendung stehen, in der Kiste gibt, die von der verwitweten Mrs. Bachman im Keller ihres Bauernhauses in New Hampshire gefunden wurde.
Manchmal frage ich mich das wirklich.
Stephen King
Lovell, Maine
16. April 1996
 
[Die Vorworte stammen aus dem Bachman-Buch Regulator, einem Gegenstück zu Kings unter Realnamen veröffentlichtem Desperation, Anm. d. Red. ]
Menschenjagd
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