… Minus 037 Countdown läuft …
 
»Wir sind in Derry«, sagte sie.
Die Straßen waren schwarz vor Menschen. Sie beugten sich aus den Fenstern oder saßen auf Balkonen und Veranden, obwohl die Sommermöbel schon längst weggeräumt waren. Sie aßen Sandwiches oder Brathähnchen aus fettigen Pappschachteln.
»Sehen Sie Hinweisschilder zum Flughafen?«
»Ja, ich folge ihnen. Sie werden einfach die Tore schließen.«
»Wenn sie das tun, drohe ich einfach wieder damit, Sie umzubringen.«
»Wollen Sie ein Flugzeug entführen?«
»Ich werd’s versuchen.«
»Das schaffen Sie nicht.«
»Ich bin mir sicher, dass Sie recht haben.«
Sie bogen zuerst nach rechts, dann nach links ab. Die Menge auf der Straße wurde ununterbrochen durch ein Megafon aufgefordert, zurückzutreten und sich zu zerstreuen.
»Ist sie wirklich Ihre Frau? Ich meine die auf den Fotos.«
»Ja, sie heißt Sheila. Unser Baby, Cathy, ist gerade anderthalb Jahre alt. Sie hatte Grippe. Vielleicht geht es ihr jetzt schon besser. Aus diesem Grund bin ich in diese Sache hineingeraten.«
Ein Hubschrauber rauschte über sie hinweg und warf einen großen spinnenähnlichen Schatten vor sie auf die Straße. Eine fürchterlich verzerrte Stimme forderte Richards auf, die Frau freizulassen. Als sie geendet hatte und sie sich wieder unterhalten konnten, sagte sie: »Ihre Frau sieht wie eine kleine Schlampe aus. Sie sollte ein bisschen mehr acht auf sich geben.«
»An dem Bild wurde rumgedoktert«, sagte Richards tonlos.
»So was tun die?«
»So was tun die.«
»Da vorn ist der Flughafen. Wir fahren direkt darauf zu.«
»Sind die Tore geschlossen?«
»Ich kann es nicht erkennen … Moment … sie sind offen, aber blockiert. Ein Panzer. Das Geschützrohr ist direkt auf uns gerichtet.«
»Fahren Sie bis auf zehn Meter ran und bleiben Sie dann stehen.«
Der Wagen kroch langsam die vierspurige Flughafeneinfahrt entlang, durch die Reihen der Polizeiwagen und der Zuschauer hindurch, die unablässig zu schreien und zu plappern schienen. Über der Straße hing ein riesiges Leuchtschild: VOIGT AIRFIELD. Amelia sah auf beiden Straßenseiten einen Starkstromzaun, der das weite sumpfige, wertlose Feld auf beiden Seiten der Straße durchschnitt. Vor ihr, auf einer Verkehrsinsel, befand sich eine Art kombinierte Informations- und Verkehrskontrollzelle. Dahinter war das große Haupttor, das im Augenblick von einem A-62-Panzer blockiert wurde, dessen Kanone Geschosse mit dem Äquivalent einer viertel Megatonne abfeuern konnte. Weiter hinten entdeckte sie ein Gewirr von Fahrspuren und Parkplätzen, die alle zum Flughafengebäude führten, das die Sicht zu den dahinterliegenden Start- und Landebahnen versperrte. Ein riesiger Kontrollturm überragte alles, wie ein H.-G. Wells-Marsianer, dessen Westfenster die leuchtende Abendsonne widerspiegelten, sodass sie aussahen, als stünde das ganze Gebäude in Flammen. Passagiere und Flughafenangestellte hatten das Gebäude verlassen und standen jetzt auf dem nächsten Parkplatz, wo sie von der Polizei in Schach gehalten wurden. Ein pochendes, dröhnendes Heulen erfüllte die Luft, und Amelia sah, wie sich eine stahlgraue Lockheed/GA Superbird von einer der Startbahnen hinter den Hauptgebäuden in den Himmel erhob.
»RICHARDS!«
Sie zuckte zusammen und sah ihn erschrocken an. Er winkte gelassen ab: Ist schon gut, Ma, ich sterbe nur gerade.
»SIE DÜRFEN DEN FLUGHAFEN NICHT BETRETEN!«, warnte ihn die verzerrte, dröhnende Stimme. »LASSEN SIE DIE FRAU FREI UND KOMMEN SIE HERAUS!«
»Was nun?«, fragte sie. »Es ist eine Pattsituation. Sie brauchen nur zu warten, bis …«
»Wir wollen sie noch ein wenig provozieren«, sagte Richards. »Mal sehen, wie weit sie mit ihrem Bluff gehen. Beugen Sie sich hinaus. Sagen Sie ihnen, dass ich angeschossen und halb verrückt sei. Sagen Sie ihnen, dass ich mich der Flughafenpolizei ergeben werde.«
»Was wollen Sie tun?«
»Die Flughafenpolizei ist weder der Landes- noch der Bundespolizei unterstellt. Seit den UN-Verträgen von 1995 ist sie international. Es gab mal das Gerücht, dass man so etwas wie Amnestie kriegen könne, wenn man sich ihr ausliefere. So was Ähnliches wie freies Parken bei Monopoly. Das ist natürlich kompletter Quatsch. Sobald man in ihren Händen ist, übergibt sie einen den Jägern, und die Jäger tragen einen mit den Füßen voran nach draußen.«
Sie zuckte zusammen.
»Aber vielleicht nehmen sie es mir ab, dass ich es glaube. Oder dass ich mir selbst weisgemacht habe, dass es stimmt. Erzählen Sie ihnen, was ich eben gesagt habe.«
Sie lehnte sich nach draußen, und Richards’ Körper verkrampfte sich. Wenn es einen »unglücklichen Unfall« geben sollte, der Amelia ausschalten würde, dann war jetzt der richtige Augenblick dafür. Ihr Kopf und ihr ganzer Oberkörper waren schutzlos den Mündungen von über tausend Gewehren ausgesetzt. Ein winziges Zucken an einem Abzug, und die gesamte Farce war mit einem Schlag vorüber.
»Ben Richards will sich der Flughafenpolizei ausliefern!«, rief sie. »Er hat zwei Schussverletzungen!« Sie warf einen ängstlichen Blick über die Schulter, und ihre laute, klare Stimme durchbrach die plötzliche Stille, die das immer kleiner werdende Flugzeug hinterlassen hatte. »Er ist die Hälfte der Zeit nicht mehr bei Verstand, und Herrgott, ich habe solche AngstbittebitteBITTE!«
Die Kameras summten und zeichneten alles auf, innerhalb weniger Sekunden gelangten die Bilder in einen Live-News-Feed und wurden an alle Haushalte Nordamerikas und der halben Welt geliefert. Das war gut. Das war prima. Richards spürte wieder eine Spannung in sich, die seine Glieder erfüllte. Er hatte angefangen zu hoffen.
Wieder herrschte einen Augenblick Stille; hinter der Verkehrsinsel fand eine Konferenz statt.
»Sehr gut«, sagte Richards leise.
Sie sah ihn an. »Glauben Sie etwa, es fällt mir schwer, ängstlich zu klingen? Was immer Sie auch denken mögen, wir machen hier keine gemeinsame Sache. Ich möchte Sie nur endlich loswerden.«
Zum ersten Mal fiel Richards auf, wie vollkommen ihre Brüste sich unter der blutbefleckten, schwarz-grünen Bluse rundeten. Wie vollkommen und kostbar sie aussahen.
Plötzlich zerriss ein donnerndes Getöse die Stille, und sie schrie auf.
»Das ist bloß der Panzer«, sagte er. »Alles in Ordnung, bloß der Panzer.«
»Er fährt zurück«, sagte sie. »Sie lassen uns durch.«
»RICHARDS! SIE FAHREN JETZT DIREKT ZU PARKPLATZ 16! DIE FLUGHAFENPOLIZEI WIRD SIE DORT IN EMPFANG NEHMEN!«
»Also gut«, sagte er tonlos. »Fahren Sie los. Ungefähr achthundert Meter hinter dem Tor halten Sie wieder an.«
»Sie sorgen dafür, dass ich umgebracht werde«, sagte sie hoffnungslos. »Ich muss nur aufs Klo, und Sie sorgen dafür, dass ich umgebracht werde.«
Das Luftauto hob sich zehn Zentimeter in die Luft und fuhr langsam an. Als sie durch das Eingangstor kamen, duckte Richards sich in der Erwartung eines Überfalls, aber nichts geschah. Die glatte Asphaltstraße machte eine gemächliche Kurve auf die Hauptgebäude zu. Ein Schild mit einem Pfeil informierte sie, dass sie sich auf dem Weg zu den Terminals 16-20 befanden.
Polizisten standen oder knieten hinter gelben Barrikaden.
Richards wusste, dass man den Luftwagen bei der kleinsten verdächtigen Bewegung in Stücke reißen würde.
»Halten Sie jetzt an«, sagte er, und sie tat es.
Die Reaktion kam prompt. »RICHARDS! FAHREN SIE SOFORT WEITER ZU PARKPLATZ 16!«
»Sagen Sie ihnen, dass ich ein Megafon haben will«, sagte Richards leise zu ihr. »Sie sollen es zwanzig Meter vor dem Wagen auf die Straße legen. Ich will mit ihnen reden.«
Sie rief seine Botschaft zur Wagentür hinaus, und dann warteten sie. Einen Augenblick später trabte ein Mann in einer blauen Uniform auf die Straße hinaus und legte ein Megafon mit elektronischem Verstärker auf den Boden. Er blieb einen Moment stehen, in dem er sich vermutlich bewusst machte, dass ihn jetzt über fünfhundert Millionen Menschen beobachteten, dann zog er sich wieder in die Anonymität hinter den Barrikaden zurück.
»Weiter geht’s.«
Der Wagen kroch bis zum Megafon vor, und als die Fahrertür sich mit ihm auf einer Höhe befand, öffnete sie die Tür und zog es hinein. Es war rot und weiß gestreift, und auf die Seite waren über einem Blitz die Initialen G und A geprägt.
»Okay«, sagte er. »Wie weit ist es noch bis zum Hauptgebäude?«
Sie kniff die Augen zusammen. »Ich schätze vierhundert Meter.«
»Und wie weit bis zum Parkplatz 16?«
»Halb so weit.«
»Gut. Das ist sehr gut. Yeah.« Er spürte, dass er sich nervös auf die Unterlippe biss, und versuchte, damit aufzuhören. Der Kopf tat ihm weh, und sein ganzer Körper schmerzte von dem dauernden Adrenalinschub der letzten Stunden. »Fahren Sie weiter. Bis zum Parkplatz 16, und halten Sie genau davor.«
»Und dann?«
Er lächelte nervös und unglücklich. »Das«, sagte er, »wird der Schauplatz von Richards’ letztem Gefecht sein.«
Menschenjagd
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