… Minus 051 Countdown läuft …
 
Als sie in der Küche stand, um einen Tee zu machen, hatte sie ihn noch nicht erkannt.
Das Haus war alt und baufällig und düster, den Einrichtungsstil kannte Richards aus seiner eigenen Wohnung: Moderner Ramsch.
»Elton ist nicht da«, sagte sie, während sie über dem zerbeulten Aluminiumtopf auf dem Gasherd grübelte. Das Licht war hier besser, offenbarte die braunen Wasserflecken auf der Tapete, die toten Fliegen – Souvenirs vom vergangenen Sommer – auf der Fensterbank, den alten, von schwarzen Rissen durchzogenen Linoleumbelag, den Stapel feuchten Packpapiers unter dem undichten Abflussrohr. Es herrschte ein Geruch nach Desinfektionsmitteln, der Richards an letzte Nächte in Krankenzimmern erinnerte.
Sie durchquerte die Küche und wühlte mit ihren geschwollenen Fingern in dem Gerümpel auf der Ablage, bis sie zwei Teebeutel fand, von denen einer schon benutzt worden war. Richards bekam den benutzten. Er war nicht überrascht.
»Er arbeitet«, sagte sie und betonte das erste Wort leicht, sodass der Satz wie ein Vorwurf klang. »Sie kommen von diesem Kerl in Boston, nicht wahr? Der, dem Elton immer diese Briefe über die Luftverschmutzung schreibt.«
»Ja, Mrs. Parrakis.«
»Sie haben sich in Boston kennen gelernt. Mein Elton füllt nämlich Verkaufsautomaten auf.« Sie warf sich kurz in die Brust und trat langsam den Weg zurück, über die Dünen des Linoleums zum Herd an. »Ich hab Eltie gesagt, dass das, was dieser Bradley macht, gegen das Gesetz ist. Ich hab ihm gesagt, dass er dafür ins Gefängnis kommt oder Schlimmeres. Aber auf mich hört er ja nicht. Er hört nicht auf seine alte Mutter.« Ihr Lächeln angesichts dieser Verunglimpfung war von dunkler Süße. »Elton hat schon immer Dinge gebastelt, wissen Sie … Als er noch ein kleiner Junge war, hat er mal ein Baumhaus mit vier Zimmern gebaut. Das war, bevor sie die alte Ulme gefällt haben. Aber es war die Idee dieses Farbigen, so ein Gerät zur Messung der Luftverschmutzung in Portland zu basteln.«
Sie warf die Teebeutel in Tassen und blieb, mit dem Rücken zu Richards, am Herd stehen, um sich die Hände über der Gasflamme zu wärmen. »Sie schreiben sich Briefe. Ich hab ihm gesagt, die Post ist nicht sicher. Du kommst dafür ins Gefängnis oder noch was viel Schlimmeres. Aber Mama, hat er zu mir gesagt, wir schreiben einen Code. Er bittet mich um ein Dutzend Äpfel, ich schreib ihm, dass es meinem Onkel schlechter geht. Ich hab gesagt: Eltie, glaubst du wirklich, dass sie diesen Geheimagenten-Kram nicht rauskriegen können? Er hört nicht auf mich. Oh, früher war das anders. Früher war ich sein bester Freund. Aber die Dinge ändern sich. Seit seiner Pubertät hat sich alles verändert. Schmutzige Heftchen unter seinem Bett und diese ganze Sache. Und jetzt dieser Farbige. Ich nehme an, Sie hat man auch dabei erwischt, was? Beim Messen von Smog und krebserzeugenden Sachen in der Luft. Und jetzt sind Sie auf der Flucht, nicht wahr?«
»Ich …«
»Es spielt keine Rolle!«, sagte sie heftig und sah aus dem Fenster. Es ging auf den Hinterhof hinaus, in dem rostiges Blech, alte Autofelgen und ein Sandkasten zu sehen waren, der mal einem kleinen Jungen gehört hatte und jetzt, viele Jahre später, mit moderndem Herbstlaub gefüllt war.
»Es spielt keine Rolle!«, wiederholte sie. »Es liegt an den Farbigen.« Sie drehte sich zu Richards um, und ihre Augen weiteten sich vor Zorn. »Ich bin fünfundsechzig, aber als das alles anfing, war ich ein frisches, junges Mädchen von neunzehn Jahren. Neunzehnhundertneunundsiebzig war das, und die Farbigen waren überall! Überall! Ja, das waren sie!« Sie schrie beinahe, als hätte Richards den Versuch gemacht, ihr zu widersprechen. »Überall. Sie haben diese Farbigen zusammen mit den Weißen in die Schule gesteckt. Sie haben sie sogar an die Regierung gelassen. Radikale, Rebellen, Unruhestifter! Ich bin ja eigentlich nicht …«
Sie brach mitten im Satz ab, als wären ihr die Worte im Mund zerplatzt. Sie starrte Richards an, nahm ihn zum ersten Mal wirklich wahr.
»Liebergottseimirgnädig!«, flüsterte sie.
»Mrs. Parrakis …«
»Nein!«, sagte sie mit vor Angst heiserer Stimme. »Nein! Nein! O nein!« Langsam schritt sie auf ihn zu, stoppte an der Küchenablage, um ein langes, glänzendes Fleischmesser aus dem Durcheinander zu nehmen. »Raus hier! Raus! Raus!« Richards stand auf und begann langsam rückwärts zu gehen. Zuerst durch den kurzen Flur zwischen der Küche und dem dunklen Wohnzimmer, dann durch das Wohnzimmer selbst.
Er bemerkte, dass an der Wand einer von den altmodischen Münzfernsprechern, aus der Zeit, als dies noch ein respektables Haus war, hing. Die blaue Tür, Gästehaus. Wie lange war das wohl her, fragte sich Richards? Zwanzig Jahre? Vierzig? Bevor die Farbigen außer Rand und Band geraten waren oder erst danach?
Er bewegte sich gerade rückwärts durch den Flur zwischen Wohnzimmer und Haustür, als er einen Schlüssel im Schloss klappern hörte. Beide erstarrten. Es sah aus, als hätte eine himmlische Hand den Film angehalten, um zu entscheiden, was als Nächstes folgen sollte.
Die Tür ging auf, und Elton Parrakis kam herein. Er war unglaublich fett, und sein stumpfes blondes Haar war in grotesken Wellen aus der Stirn zurückgekämmt, um ein rundes, unschuldiges Babygesicht, auf dem ein Ausdruck ständiger Verwunderung lag, freizulegen. Er trug die blaugoldene Uniform der Vendo-Spendo Company. Er sah Virginia Parrakis nachdenklich an.
»Leg das Messer weg, Mama.«
»Nein!«, rief sie, aber der Ausdruck von Entschlossenheit verschwand langsam aus ihrem Gesicht.
Parrakis schloss die Haustür hinter sich und schritt auf seine Mutter zu. Sein ganzer Körper schwabbelte.
Sie zuckte zurück. »Du musst ihn wegschicken, Sohn. Es ist dieser Verbrecher, dieser Richards. Wenn du ihn hierbehältst, kommst du ins Gefängnis oder Schlimmeres. Ich will nicht, dass du ins Gefängnis kommst!« Sie fing an zu weinen, ließ das Messer fallen und warf sich ihrem Sohn in die Arme.
Er zog sie an sich und wiegte sie sanft, während sie weinte. »Ich werde nicht ins Gefängnis kommen«, beruhigte er sie. »Bitte, Mama, wein nicht. Bitte, hör auf zu weinen.« Er lächelte Richards über ihre gekrümmten und zuckenden Schultern hinweg zu, ein Lächeln der Verlegenheit, das besagte, ihm tue das alles sehr leid. Richards wartete.
»Also«, sagte Elton zu seiner Mutter, als die Schluchzer in Schniefen übergegangen waren. »Mr. Richards ist ein guter Freund von Bradley Throckmorton, und er wird ein paar Tage bei uns bleiben, Mama.«
Sie fing an zu kreischen, und er hielt ihr den Mund zu, wobei er allerdings selbst zusammenzuckte.
»Doch, Mama, er wird bei uns bleiben. Ich werde seinen Wagen gleich in den Park fahren und dort verkabeln. Und du wirst morgen früh mit einem Paket zur Post gehen und es nach Cleveland schicken.«
»Boston«, sagte Richards automatisch. »Die Bänder gehen nach Boston.«
»Sie gehen ab jetzt nach Cleveland«, sagte Elton mit einem geduldigen Lächeln. »Bradley ist auf der Flucht.«
»O Gott.«
»Du wirst auch bald auf der Flucht sein«, fuhr Mrs. Parrakis ihren Sohn an. »Und dich werden sie auch kriegen. Du bist zu fett.«
»Ich bringe Mr. Richards jetzt nach oben und zeige ihm sein Zimmer, Mama.«
»Mr. Richards? Mr. Richards? Warum nennst du ihn nicht bei seinem richtigen Namen? Satan!«
Er befreite sich sehr sanft aus ihrer Umklammerung, und Richards folgte ihm gehorsam die dunkle Treppe hinauf. »Wir haben hier sehr viele Zimmer«, sagte Elton freundlich und etwas außer Atem, während sein riesiger Hintern vor Richards’ Augen auf und ab wackelte. »Vor vielen Jahren war dies mal eine Pension – als ich noch ein Baby war. Sie können von Ihrem Zimmer aus die Straße beobachten.«
»Vielleicht sollte ich doch lieber gehen«, sagte Richards. »Wenn Bradley wirklich aufgeflogen ist, hat Ihre Mutter vielleicht recht.«
»Das ist Ihr Zimmer«, sagte Elton, als hätte er Richards’ Einwand nicht gehört, und öffnete die Tür zu einem feuchten, staubigen Zimmer, auf dem die Last vieler Jahre lag. »Es ist nicht sehr gemütlich, fürchte ich, aber…«Er drehte sich mit einem Lächeln zu Richards um, das die Bitte ausdrückte, ihn doch zu mögen. »Sie können bleiben, so lange Sie wollen. Bradley Throckmorton ist der beste Freund, den ich jemals hatte.« Das Lächeln wankte. »Er ist mein einziger Freund. Ich sehe mal nach meiner Mutter. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Richards wiederholte nur sein Angebot: »Ich gehe jetzt lieber.«
»Nein, das können Sie nicht. Sie haben nicht mal meine Mutter mit Ihrem Kopfverband lange getäuscht. Ich werde Ihren Wagen jetzt an einen sicheren Ort fahren, Mr. Richards. Wir sprechen später darüber.«
Er verließ das Zimmer schnell und ungeschickt. Richards sah, dass der Hosenboden seiner Uniform glänzte. Er schien einen schwachen Geruch von Unterwürfigkeit im Zimmer zurückzulassen.
Richards zog den uralten grünen Vorhang ein wenig beiseite und sah, wie er auf die Straße ging und in seinen Wagen stieg. Dann kam er wieder heraus und lief zum Haus zurück. Richards’ Herz setzte einen Schlag aus.
Schwere Schritte, die eilig die Treppe heraufstapften. Dann ging die Zimmertür auf, und Elton lächelte Richards an. »Meine Mutter hat recht«, sagte er. »Ich gebe wirklich keinen sehr guten Geheimagenten ab. Ich hab die Autoschlüssel vergessen.«
Richards reichte sie ihm und versuchte es mit einem kleinen Scherz: »Ein halber Geheimagent ist besser als gar keiner.«
Entweder hatte er den falschen Ton angeschlagen – oder gar keinen; Elton Parrakis trug sein Leiden zu deutlich zur Schau, und Richards konnte die geisterhaften, spottenden Stimmen der Kinder fast hören, die ihm für alle Zeit folgen würden wie kleine Schleppkähne hinter einem großen Passagierdampfer.
»Vielen Dank«, sagte Richards leise.
Parrakis ging wieder hinunter und fuhr den kleinen Wagen, der Richards aus New Hampshire hierher gebracht hatte, in den Park.
Richards zog die Tagesdecke vom Bett und legte sich langsam hin, atmete flach und starrte einfach nur die Decke an. Das Bett schien ihn mit einer widernatürlich feuchten Umarmung zu umfangen, selbst durch die Decke und seine Kleidung hindurch. Ein schimmeliger Geruch drang ihm in die Nase, wie ein unbewusster Reim.
Unten hörte er Eltons Mutter weinen.
Menschenjagd
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