… Minus 039 Countdown läuft …
 
»Ich heiße Amelia Williams. Benjamin Richards hält mich als Geisel fest. Er sagt, wenn Sie uns nicht freies Geleit geben, wird er mich töten.«
Einen Augenblick lang herrschte Stille. Richards konnte das Tuten des Lufthorns einer Jacht weit draußen auf dem Ozean hören.
Dann die geschlechtslose, plärrende Stimme eines elektronisch verstärkten Megafons: »WIR WOLLEN MIT BEN RICHARDS REDEN!«
»Nein«, sagte Richards schnell.
»Er sagt, er will nicht.«
»KOMMEN SIE AUS DEM WAGEN, MADAM.«
»Aber dann wird er mich töten!«, schrie sie entsetzt. »Hören Sie denn nicht zu? Vorhin haben schon ein paar Männer versucht, uns zu erschießen! Er sagt, es ist Ihnen egal, wen Sie töten. Mein Gott, hat er etwa recht?«
Eine heisere Stimme aus der Menge brüllte: »Lasst sie durch!«
»KOMMEN SIE AUS DEM WAGEN, ODER WIR SCHIESSEN!«
»Lasst sie durch! Lasst sie durch!« Die Menge hatte die Forderung in ihren Singsang aufgenommen wie eifrige Fans bei einem Killer-Ball-Match.
»KOMMEN SIE AUS …«
Die Menge übertönte das Megafon. Von irgendwoher flog ein Stein. Die Windschutzscheibe eines Polizeiwagens war plötzlich von Rissen überzogen.
Auf einmal das Geräusch von anspringenden Motoren, und die beiden Streifenwagen fuhren auseinander und machten einen schmalen Streifen in der Mitte der Straße frei. Die Menge schrie begeistert auf und wurde dann wieder still, um abzuwarten, was als Nächstes geschah.
»ALLE BÜRGER VERLASSEN DAS GEBIET«, sang das Megafon. »ES KANN ZU EINEM SCHUSSWECH-SEL KOMMEN. ALLE BÜRGER VERLASSEN SOFORT DAS GEBIET, ODER SIE WERDEN WEGEN WIDERSTANDS GEGEN DIE STAATSGEWALT UND ILLE-GALER ZUSAMMENROTTUNG FESTGENOMMEN. DIE STRAFEN FÜR DIESE VERGEHEN BETRAGEN MINDESTENS ZEHN JAHRE STAATSGEFÄNGNIS ODER EIN BUSSGELD VON ZEHNTAUSEND DOLLAR ODER BEIDES. RÄUMEN SIE DAS GEBIET. RÄUMEN SIE DAS GEBIET.«
»Klar, damit niemand sehen kann, wie Sie die Frau erschießen!«, schrie eine hysterische Stimme. »Zum Teufel mit euch Bullen!«
Die Menge bewegte sich nicht. Ein schwarz-gelber Übertragungswagen kam mit schwungvollem Kreischen zum Stehen. Zwei Männer sprangen heraus und machten sich daran, eine Kamera aufzustellen.
Zwei Cops rannten auf sie zu, und es gab ein kurzes, heftiges Handgemenge um die Kamera. Schließlich riss einer der Cops sie los, packte das Stativ und zerschmetterte die Kamera auf der Straße. Einer der Technikos ging auf ihn los und wurde mit einem Knüppel niedergeschlagen.
Ein kleiner Junge schoss aus der Menge hervor und warf dem Cop einen Stein an den Hinterkopf. Der Mann fiel vornüber, und sein Blut spritzte auf die Straße. Ein halbes Dutzend Polizisten warf sich sofort auf den Jungen und schleppte ihn fort. Plötzlich war an den Straßenrändern eine wilde Schlägerei zwischen den elegant gekleideten Städtern und den abgerissenen Slumbewohnern im Gange. Eine Frau in einem zerfetzten, verblichenen Hauskleid stürzte sich auf eine übergewichtige Dame und fing an, ihr die Haare auszureißen. Sie stürzten schwer zu Boden und wälzten sich tretend und kreischend auf der Straße.
»Mein Gott«, sagte Amelia angewidert.
»Was ist los?«, fragte Richards. Er wagte es nicht, über das Armaturenbrett hinauszuschauen.
»Straßenkämpfe. Die Polizei schlägt auf die Leute ein. Jemand hat eine Fernsehkamera zerschmettert.«
»GEBEN SIE AUF, RICHARDS. KOMMEN SIE HERAUS.«
»Fahren Sie weiter«, sagte Richards leise.
Das Luftauto bewegte sich schlingernd nach vorn. »Sie werden auf die Luftkappen schießen«, sagte sie. »Und dann brauchen sie nur noch zu warten, bis Sie aufgeben.«
»Nein, das werden sie nicht tun«, sagte Richards.
»Warum nicht?«
»Sie sind zu dumm dazu.«
Sie schossen tatsächlich nicht.
Langsam fuhren sie durch die Straßensperre und die Reihen der Gaffer hindurch. Unbewusst hatten diese sich in zwei Gruppen geteilt. Auf einer Straßenseite standen die Ober- und Mittelklassebürger, die feinen Damen, die sich die Haare in Schönheitssalons frisieren ließen, und die feinen Herren in ihren Arrowhemden und Wildlederschuhen. Männer in Overalls, die ihre Firmennamen auf dem Rücken und ihre eigenen – in Gold gestickt – auf den Brusttaschen trugen. Frauen wie Amelia Williams, für einen Stadtbummel gekleidet. Ihre auf zahllose Weise unterschiedlichen Gesichter glichen sich alle in einer Hinsicht: Sie waren auf seltsame Weise unvollständig. Wie Bilder, die statt Augen Löcher im Gesicht hatten, oder wie ein Puzzlespiel, in dem ein winziges Teilchen fehlt. Es war der Mangel an Verzweiflung, dachte Richards. In diesen Bäuchen heulten keine Wölfe. Ihre Gedanken wurden nicht von verrückten Träumen und wahnsinnigen Hoffnungen beherrscht.
Diese Leute standen auf der rechten Seite der Straße, der Seite mit der Kombination aus Jachthafen und Country Club, an der sie gerade vorbeifuhren.
Auf der anderen Straßenseite, der linken, standen die Armen. Rote Nasen mit geplatzten Äderchen. Flache, hängende Brüste. Strähnige Haare. Weiße Socken. Offene Wunden. Pickel. Die verständnislosen Gesichter und offen stehenden Münder der Idiotie.
Auf dieser Seite war ein großes Polizeiaufgebot, und es kamen immer mehr hinzu. Richards war nicht sonderlich überrascht über ihr schnelles Auftauchen und ihr brutales Vorgehen. Selbst hier, in der absoluten Provinz, war man mit Schlagstöcken und Schusswaffen rasch zur Hand. Man ließ die Hunde in ihren Zwingern hungern. Die Armen brechen in die im Herbst und Winter verriegelten Sommerhütten ein. Die Armen überfallen Supermärkte in Kinderbanden. Die Armen schmieren bekanntlich obszöne Sprüche mit Rechtschreibfehlern auf Schaufensterscheiben. Die Armen haben ständig juckende Arschlöcher, und der Anblick von Lederpolstern und Chrom und Zweihundert-Dollar-Anzügen und dicken Bäuchen füllt bekanntlich die Münder der Armen vor Zorn mit Geifer. Und die Armen brauchen ihren Jack Johnson, ihren Muhammad Ali, ihren Clyde Barrow. Sie standen da und schauten zu.
Hier auf der rechten Seite, Leute, haben wir die Sommerfrischler, dachte Richards. Fett und schlampig, aber schwer gepanzert. Auf der linken Seite, mit einem Kampfgewicht von schlappen sechzig Kilo – aber ein aggressiver Kämpfer mit einem rollenden Auge, das nicht von Pappe ist – haben wir die Hungrigen Weißbrote. Sie pflegen die Taktik der Hungerleider; sie würden Christus persönlich überfallen, um ein Pfund Salami zu ergattern. Die Polarisierung macht vor dem letzten Provinznest nicht Halt. Nehmen Sie sich vor diesen Kontrahenten in Acht. Sie bleiben nicht im Ring; sie neigen dazu, auf den Zehn-Dollar-Sitzen weiterzukämpfen. Können wir einen Sündenbock für beide Parteien finden?
Langsam, mit fünfzig Sachen, fuhr Ben Richards zwischen ihnen hindurch.
Menschenjagd
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