… Minus 044
Countdown läuft …
Sie fuhren durch den
wie Fackeln brennenden Herbst nach Norden.
Die Bäume waren so
weit im Norden noch nicht von den giftigen Abgasen Portlands,
Manchesters und Bostons getötet worden, ihre Blätter leuchteten in
allen Schattierungen von Gelb, Rot und strahlendem Purpur. Sie
weckten in Richards eine schmerzliche Melancholie. Es war eine
Empfindung, die er an sich nicht kannte und die er vor zwei Wochen
noch für unmöglich gehalten hätte. In einem Monat würde die ganze
Landschaft unter einer Schneedecke liegen.
Alles endete im
Herbst.
Sie schien seine
Stimmung zu spüren und schwieg. Die Fahrtgeräusche füllten das
Schweigen zwischen ihnen und lullten sie ein. Bei Yarmouth
überquerten sie einen Fluss; danach führte die Straße endlos durch
den Wald. Unterwegs entdeckte er bloß ein paar Wohnwagen und
armselige Hütten, bei denen das Klo noch außen angebaut war.
(Trotzdem konnte man immer die Free-Vee-Antenne sehen, entweder auf
durchhängenden Fensterbänken, von denen die Farbe abgeblättert war,
oder neben verrotteten Haustüren, wo sie in der Sonne blinkten.)
Dann kamen sie nach Freeport.
Unmittelbar vor der
Stadt parkten drei Streifenwagen. Die Cops hielten so etwas wie
eine Konferenz am Straßenrand ab. Die Frau wurde steif wie ein
Brett, und ihr Gesicht nahm eine verzweifelte Blässe an. Richards
blieb völlig ruhig.
Sie fuhren vorbei,
ohne dass die Cops auf sie aufmerksam wurden, und die Frau sank in
sich zusammen.
»Wenn sie den
Verkehr kontrolliert hätten, wären sie jetzt wie der Blitz hinter
uns her«, sagte Richards beiläufig. »Warum schreiben Sie sich nicht
mit Leuchtfarbe BEN RICHARDS IST IN DIESEM AUTO auf die
Stirn?«
»Warum lassen Sie
mich nicht frei?«, platzte es aus ihr heraus, und im gleichen
Atemzug: »Haben Sie einen Joint?«
Reiche Leute rauchen Dope. Bei dem Gedanken lachte
er bitter und schüttelte den Kopf.
»Sie lachen mich
aus?«, fragte sie beleidigt. »Mann, Sie haben wirklich Nerven, Sie
feiger, kleiner Mörder! Sie erschrecken mich halb zu Tode und haben
wahrscheinlich vor, mich zu töten, genauso wie Sie die armen Jungs
in Boston umgebracht haben …«
»Es war ein ganzer
Haufen von armen Jungs«, sagte Richards. »Sie wollten mich
umbringen. Das ist ihr Job.«
»Töten für Geld. Sie
würden doch alles für Geld tun. Sie wollen das Land in Aufruhr
versetzen. Wissen Sie, warum Sie keine anständige Arbeit finden?
Weil Sie zu faul dazu sind! Leute wie Sie spucken doch nur auf
alles, was anständig ist.«
»Sind Sie denn
anständig?«, fragte Richards.
»Ja!«, rief sie
heftig. »Das ist ja der Grund, warum Sie mich ausgesucht haben.
Weil ich hilflos war und … und anständig. Damit Sie mich ausnutzen
können, damit Sie mich in den Dreck ziehen und auslachen können,
wenn ich genauso tief unten bin wie Sie.«
»Wenn Sie wirklich
so anständig sind, wie kommt es denn, dass Sie sich einen schicken
Wagen für sechstausend Neue Dollar leisten können, während meine
kleine Tochter an Grippe stirbt?«
»Was …« Sie sah ihn
verblüfft an. Ihr Mund öffnete sich, um etwas zu entgegnen, aber
dann klappte er wieder zu. »Sie sind ein Feind des Network«, sagte
sie nach einer Weile. »Das habe ich im Free-Vee gehört. Ich hab ein
paar von den hässlichen Dingen gesehen, die Sie getan
haben.«
»Wollen Sie wissen,
was hässlich ist?«, fragte Richards und zündete sich eine Zigarette
aus der Packung auf dem Armaturenbrett an. »Ich werd’s Ihnen sagen.
Es ist hässlich, wenn man auf die schwarze Liste gesetzt wird, nur
weil man seine Arbeit bei General Atomics gekündigt hat, um nicht
steril zu werden. Es ist hässlich, zu Hause rumsitzen und zusehen
zu müssen, wie die eigene Frau das Geld für Lebensmittel auf dem
Rücken liegend verdient. Es ist hässlich zu wissen, dass das
Network jedes Jahr Millionen Menschen tötet, indem es die Luft
verpestet und sich weigert, Nasenfilter zu produzieren, die nur
sechs Dollar das Stück kosten würden.«
»Sie lügen«, sagte
sie. Die Knöchel ihrer Hand traten weiß hervor.
»Wenn das hier
vorbei ist, können Sie wieder nach Hause«, sagte er. »Dann können
Sie sich in Ihr nettes Wohnzimmer setzen, einen Joint anzünden,
sich die Birne vollknallen und sich darüber freuen, wie hübsch Ihr
geputztes Silber in Ihrer Vitrine glänzt. Niemand, der in Ihrer
Nachbarschaft die Ratten mit dem Besenstiel bekämpft oder neben die
Hintertreppe scheißt, weil die Toilette nicht funktioniert. Ich hab
ein fünfjähriges Mädchen kennen gelernt, das an Lungenkrebs stirbt.
Na, ist das hässlich oder nicht? Was glauben …«
»Hören Sie auf!«,
schrie sie ihn an. »Sie reden
unanständig!«
»Das ist richtig«,
sagte er und blickte aus dem Fenster auf die vorbeifliegende
Landschaft. Hoffnungslosigkeit erfüllte ihn wie kaltes Wasser. Es
gab keine Verständigungsmöglichkeit mit diesen schönen
Auserwählten. Sie lebten ganz oben, wo die Luft fast zu dünn zum
Atmen war. Plötzlich verspürte er den Drang, die Frau ranfahren zu
lassen, ihr die Sonnenbrille aus dem Gesicht zu schlagen, sodass
sie auf dem Asphalt zersplitterte, sie am Straßenrand durch den
Dreck zu schleifen, sie den Staub schmecken zu lassen, sie zu
vergewaltigen, auf ihr rumzutrampeln, ihre Zähne fliegen zu lassen,
sie nackt auszuziehen und dann zu fragen, ob sie langsam eine
Vorstellung von dem Bild bekäme, das jeden Tag auf Kanal Eins
präsentiert wurde, vierundzwanzig Stunden lang und ohne
Nationalhymne am Anfang und Ende des Programms.
»Das ist richtig«,
murmelte er. »Was bin ich doch für ein unanständiger
Kerl.«