… Minus 074 Countdown läuft …
 
Um fünf Uhr verließ er sein Zimmer und ging in die Hotelhalle hinunter. Der Angestellte in der Rezeption lächelte ihm zu; vermutlich freute er sich auf seinen Feierabend.
»Guten Abend, Mr., äh …«
»Springer.« Richards lächelte ebenfalls. »Ich bin hier anscheinend auf eine Goldgrube gestoßen. Mein lieber Mann. Drei Kunden, die … empfänglich scheinen. Ich werde Ihr ausgezeichnetes Haus für zwei weitere Tage in Anspruch nehmen. Darf ich im Voraus zahlen?«
»Selbstverständlich, Sir.«
Dollars wechselten den Besitzer. Immer noch strahlend ging Richards in sein Zimmer zurück. Niemand befand sich auf dem Gang. Er hängte das BITTE NICHT STÖREN-Schild vor die Tür und ging schnell auf die Feuertreppe zu.
Das Glück war auf seiner Seite. Er traf unterwegs niemanden. Er lief den ganzen Weg zum Erdgeschoss hinunter und schlüpfte unbemerkt durch den Seiteneingang auf die Straße.
Der Regen hatte aufgehört, aber die Wolken hingen immer noch grau und tief über Manhattan. Die Luft roch nach undichter Batterie. Er ging schnell – diesmal ohne zu hinken – zum Elektrobusbahnhof bei der Hafenbehörde. Man konnte heutzutage immer noch eine Karte für einen Greyhound-Bus kaufen, ohne unterschreiben zu müssen.
»Boston«, sagte er zum bärtigen Fahrkartenverkäufer.
»Macht dreiundzwanzig Dollar, Freund. Der Bus fährt pünktlich um Viertel nach sechs los.«
Richards bezahlte; damit hatte er jetzt nur noch knapp dreitausend Neue Dollar. Er musste noch eine ganze Stunde totschlagen. Der Bahnhof war gerammelt voll mit Leuten, viele von ihnen Soldaten der Voluntary Army mit ihren blauen Baretten und leeren, jungenhaften, brutalen Gesichtern. Er kaufte sich ein Pornomagazin, setzte sich und hielt sich die Zeitschrift vors Gesicht. Die ganze nächste Stunde starrte er darauf und blätterte nur ab und zu eine Seite um, um nicht wie eine Statue dazusitzen.
Als der Bus vorfuhr, schlenderte er mit dem Rest der unauffälligen Menge auf die Türen zu.
»He! He, du da!«
Er sah sich um. Ein Wachmann kam rennend näher. Er blieb wie angewurzelt stehen, unfähig wegzurennen. Eine Stimme in seinem Kopf schrie, dass er dabei war, genau hier zu Boden zu gehen, genau hier, in diesem beschissenen Bahnhof mit den ausgespuckten Kaugummis auf dem dreckigen Fußboden und den obszönen Kritzeleien an den vor Dreck starrenden Wänden. Er würde zur Trophäe, einem Glückstreffer, eines dämlichen Polypen werden.
»Haltet ihn! Haltet den Kerl!«
Der Wachmann scherte zur Seite aus. Richards merkte, dass es gar nicht um ihn ging. Es ging um einen schmuddeligen Jungen, der, eine Damenhandtasche in einer Hand schwingend, die Treppe hinaufraste und die Leute dabei wie Bowlingkegel aus dem Weg räumte.
Sein Verfolger und er verschwanden, beide jeweils drei Treppenstufen auf einmal nehmend, aus dem Blickfeld. Der Pulk aus Einsteigenden, Aussteigenden und Begrüßenden blickte den beiden noch einen Augenblick mit vagem Interesse nach, dann kümmerte sich wieder jeder um seine eigenen Angelegenheiten, als wäre nichts geschehen.
Richards stand zitternd in der Warteschlange. Ihm war kalt.
Er brach auf einem Sitz im hinteren Teil des Busses zusammen, und bald darauf kroch der Bus leise summend die Fahrrampe hinauf, hielt einen Augenblick und fädelte sich dann in den Verkehr ein. Der Wachmann und sein Opfer waren wieder in der anonymen Masse der Menschheit verschwunden.
Wenn ich eine Pistole gehabt hätte, ich hätte ihn an Ort und Stelle abgeknallt, dachte Richards. Herr im Himmel.
Und gleich darauf: Nächstes Mal wird es kein Handtaschendieb sein. Nächstes Mal bist du dran.
Er würde sich auf jeden Fall in Boston eine Schusswaffe besorgen. Irgendwie.
Er erinnerte sich an Laughlin, wie er gesagt hatte, dass er wenigstens ein paar aus einem Fenster stoßen wollte, bevor sie ihn erledigen.
Der Bus fuhr nach Norden, in die tiefer werdende Dunkelheit.
Menschenjagd
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