129 WEISER IMPERATOR JORA’H

Musiker des Prismapalastes hämmerten auf Trommeln und es klang nach dem Grollen eines Unwetters. Andere spielten auf seltsamen Instrumenten und fügten dem dumpfen Donnern erbauende, aber auch kummervolle Melodien hinzu, die die Trauer um den Verlust des Weisen Imperators Cyroc’h mit der Freude über den Amtsantritt von Jora’h verbanden. Die talentiertesten ildiranischen Sänger standen zusammen und erhoben ihre Stimmen zu einem wehklagenden Gesang, der die Herzen der Zuhörer berührte.

Jora’h trat einen weiteren Schritt vor und spürte dabei, wie ein Schmerz tief in seinem Innern intensiver wurde. Die Vergangenheit umgab ihn, voller Erinnerungen und verlorener Gelegenheiten. Und die Zukunft lud ihm eine Bürde aus zu vielen unbeantworteten Fragen auf.

In wenigen Momenten, mit der Vollendung der Zeremonie, ging die Zeit von Sex und Romantik zu Ende. Doch Jora’hs Sehnsucht nach Nira konnte nicht vom silbernen Messer des Arztes eliminiert werden. Er fragte sich, ob irgendein Weiser Imperator vor ihm verliebt gewesen war. Voller Entschiedenheit beschloss er, dass sich nicht alles ändern würde. Nicht alles.

Er hatte nach Dobro fliegen und Nira retten wollen, doch das kam nicht infrage, solange das ildiranische Volk der Panik nahe war und ein neues Oberhaupt brauchte. Zuerst musste er die Nachfolge seines Vaters antreten.

Aber nachher…

Stämmige Leibwächter begleiteten ihn auf seinem langsamen Weg in den Palast, bei dem ihn zahllose Zuschauer beobachteten. Die Trommeln dröhnten lauter, im Takt von Jora’hs Herzschlag. Fackelartige Glänzer schufen bunte Lichter, und die kristallenen Wände reflektierten sie.

Jora’h stieg die Treppe zum Podium unter der großen, mit Vögeln und Pflanzen gefüllten Himmelssphäre hoch. Weit oben hing eine Dunstwolke über der Säule aus Licht; Cyroc’hs wohlwollendes Gesicht blickte jetzt nicht mehr auf die Bittsteller im Empfangssaal hinab.

Bald würden dort die Züge des Weisen Imperators Jora’h erscheinen.

Ein Priester des Linsen-Geschlechts stand allein auf der gegenüberliegenden Seite des Podiums. Drei Ildiraner des Mediziner-Geschlechts bildeten ein Dreieck um den leeren Chrysalissessel, gekleidet in makellose weiße und silberne Umhänge. Auf einem nahen Tisch lagen ihre Instrumente – die rasiermesserscharfen Klingen blitzten im Licht. Jora’h sah kurz auf die medizinischen Werkzeuge, richtete den Blick dann nach vorn und konzentrierte sich.

Jeder Mann im Ildiranischen Reich hatte sich unmittelbar nach dem Tod des Weisen Imperators das Haar abgeschnitten, mit Ausnahme von Jora’h, dessen Haar jetzt zuckte. Während der Jahre seiner Herrschaft würde es wachsen und schließlich einen langen, seilartigen Zopf bilden, so wie bei seinem Vater.

Jora’h trat auf die Plattform und blieb stehen. Er straffte die Schultern, sah dann zur Himmelssphäre empor. Der Sonnenschein glitzerte in seinen Augen, aber er konnte das Thism und die Seelenfäden der Lichtquelle nicht sehen. Bald…

Er zwang sich zur Ruhe. Das ganze Reich schaute auf ihn.

Das Publikum im Saal beobachtete die Vorgänge mit Sorge und Hoffnung. Aufruhr herrschte auf Ildira und in allen Splitter-Kolonien. Die Ildiraner fühlten sich verloren ohne das telepathische Sicherheitsnetz, das sie alle miteinander verband. Die Designierten, Söhne des toten Weisen Imperators, waren von ihren jeweiligen Planeten nach Ildira zurückgekehrt. Vertreter aller Geschlechter drängten sich in Gebäuden und auf Plätzen zusammen, suchten beieinander Trost. Überall gab es Unruhe und Verwirrung. Das ganze Volk konnte den Verstand verlieren und dem Irrsinn anheim fallen, wenn Jora’h nicht die Zeremonie hinter sich brachte.

Indem er zum Weisen Imperator wurde, konnte er die Fäden des Thism wieder zusammenbinden. Ganz gleich, was er sonst fühlte oder fürchtete, er wagte nicht zu warten. Nicht einmal um Niras willen.

Jora’h hob die Hände und von einem Augenblick zum anderen wurde es still. Langsam drehte er sich um und schwieg noch immer. Er sah zum Chrysalissessel, der ohne die Körpermasse seines Vaters seltsam leer wirkte.

Der große Sessel – der Thron – weckte Furcht in Jora’h. Würde er ein Gefängnis für ihn sein? Er nahm sich vor, nicht zu einem invaliden Herrscher zu werden wie sein Vater. Die Tradition verlangte, dass die Füße eines Weisen Imperators nie den Boden berührten, aber ein Weiser Imperator konnte auch die Tradition ändern. Jora’h versprach sich stumm, gesund und aktiv zu bleiben. Ja, er hatte viel vor.

Aber seine gegenwärtige Perspektive mochte sich ändern, wenn er zum Zentrum des Thism wurde. Die Lichtquelle würde ihm viele Wahrheiten offenbaren.

Als Jora’h sprach, war seine Stimme laut und fest. Die Zuschauer hörten voller Ehrfurcht zu.

»Das Reich braucht einen neuen Weisen Imperator. Die Fäden des Thism müssen wieder miteinander verknüpft werden, auf dass unser Volk eins sein kann. Seit Tagen sind die Ildiraner voneinander getrennt und das hat lange genug gedauert. Zu lange. Heute trete ich die Nachfolge meines Vaters an und werde damit zu eurer neuen Kraft. Ich werde den Weg sehen und uns durch diese schweren Zeiten in die Zukunft führen.«

Jora’h öffnete seinen Umhang wie den Kelch einer Blume und stand nackt vor seinem Volk. Bald würde er alle Bürger kennen, ihre Gedanken, ihre Sorgen und Träume. Er empfand nicht die geringste Scham dabei, sich den Ildiranern auf diese Weise zu zeigen, nicht bei dieser wichtigen Zeremonie.

Das ganze Reich musste daran teilhaben. Der Erstdesignierte musste zeigen, dass seine Familie stark war.

Sein Sohn Thor’h war von den Wiederaufbauarbeiten auf Hyrillka nach Ildira zurückgekehrt. Der junge Mann hatte genug Zeit auf dem von den Hydrogern verwüsteten Kolonialplaneten verbracht, um viele Projekte einzuleiten. Jetzt würde er hier im Prismapalast bleiben, um ganz offiziell zum Erstdesignierten zu werden.

Jora’h hatte neue Ärzte angewiesen, sich um Rusa’h zu kümmern, der nach wie vor im Subthism-Schlaf ruhte. Er hatte viele Brüder und viele Söhne, aber als Erstdesignierter, als Weiser Imperator, durfte er keinen von ihnen verlieren, nicht einmal den verachtenswerten Udru’h, der Nira entführt und über Jahre hinweg gequält hatte. Für sie alle änderten sich nun Stellung und Status, was neue Verantwortung bedeutete – so wollten es die ildiranischen Bräuche und Gesetze.

Jora’h nahm im großen Sessel Platz und lehnte sich zurück. Der Thron schien ihn willkommen zu heißen, fühlte sich gleichzeitig fremd und vertraut an.

Die drei Ildiraner des Mediziner-Geschlechts kamen näher, untersuchten ihn und markierten die Stelle des Schnitts mit einer dünnen Linie. Jora’h zuckte zusammen, zwang sich aber, den Blick auf die nächsten Beobachter zu richten.

Sein ältester Sohn, Tal Zan’nh, stand unter ihnen, gekleidet in die Uniform der Solaren Marine. Jora’h hatte gerade erst von Adar Kori’nhs selbstmörderischem Angriff bei Qronha 3 erfahren. Eine Septa schneller Angriffsjäger war mit Bildern eingetroffen, die zeigten, wie die Kriegsschiffe des Adars sich geopfert und fast fünfzig Kugelschiffe der Hydroger vernichtet hatten.

Neben Zan’nh bemerkte Jora’h den sonst immer so ernsten und grimmigen Dobro-Designierten. Diesmal lächelte Udru’h zuversichtlich. Vielleicht glaubte er, dass der neue Weise Imperator alles verstehen und die Zuchtpläne billigen würde, sobald er vollen Zugang zum Thism hatte…

Jora’h rang mit seinem Zorn und schwor sich einmal mehr, Nira und alle anderen Gefangenen auf Dobro zu befreien, sobald er zum Weisen Imperator geworden war. Er würde den schrecklichen Experimenten ein Ende setzen und die Menschen zur Terranischen Hanse zurückbringen. Vielleicht wussten sie nach so vielen Generationen gar nichts mehr von ihrer Herkunft.

Die Ildiraner des Mediziner-Geschlechts beendeten ihre Vorbereitungen und zogen gleichzeitig ihre Messer. Ein leises Surren erklang dabei, kündete von scharfen Schneiden. Die Zuschauer wurden sofort still und standen so reglos wie Statuen.

Jora’h atmete tief durch, öffnete sein Selbst und streckte mentale Hände nach den losen Fäden des Thism aus, bereit dazu, sie zu einem neuen Gespinst zu verknüpfen, das das ildiranische Volk wieder vereinte. Er wusste, dass es wehtun würde – der Schmerz gehörte zum Ritual. Er holte erneut Luft…

Der Schnitt war schnell und sicher und die gleißende Explosion hinter seinen Augen half ihm, die Gedanken auszurichten, das eigene Bewusstsein auf eine neue Ebene zu heben und die perfekte Sphäre der Lichtquelle zu sehen. Jora’hs Gedanken wurden zu einem Projektil.

Er stieß einen schmerzerfüllten, vom Verlust geprägten Schrei aus, doch gleich darauf schnappte er verblüfft nach Luft. Ganz deutlich sah er die Pfade des Thism, die goldenen Seelenfäden, die ihn umgaben, ohne miteinander verbunden zu sein.

Er griff nach ihnen und zog sie näher, verknüpfte sie zu einer wundervollen Tapisserie. Jora’h straffte die Stränge und begann damit, die Leben von Abermilliarden Ildiranem aller Geschlechter miteinander zu verbinden. Gleichzeitig wandte er sich nach hinten, in Richtung Vergangenheit, glättete den Stoff der Geschichte und des Wissens. Sein eigenes Wissen. Die Wahrheit.

Die Ärzte arbeiteten schnell, während Jora’h wie gelähmt im Sessel lag, überwältigt vom Wissen, das in sein Selbst strömte. Sie stillten die Blutung, schlossen den Schnitt und brachten fort, was abgeschnitten worden war.

Mit seinem unglaublichen Zugang zum kollektiven ildiranischen Geist und zu den Erinnerungen aller seiner Vorgänger sah Jora’h die Komplexität der Pläne und Strategien, die sein Vater und die Weisen Imperatoren vor ihm entwickelt und verfolgt hatten. Jetzt verstand er.

Die rituelle Kastration war ein geringer Preis für diese Offenbarungen. Die Myriaden ineinander verschachtelter Pläne… Jora’h empfand sie als atemberaubend.

Die Ildiraner im Empfangssaal seufzten erleichtert; einige von ihnen jubelten sogar. Jora’h hörte es kaum. Sein Volk – alle Ildiraner des Reiches – fühlte sich wieder eins. Tief in ihrem Inneren spürten alle Geschlechter, dass wieder ein Weiser Imperator auf dem Thron saß, dass das Thism intakt war und allen Sicherheit gewährte. Die Lichtquelle schien wieder hell auf die Ildiraner.

Alles war so, wie es sein sollte.

Es fiel Jora’h schwer, sich ein Gefühl für das eigene Selbst und seine Sterblichkeit zu bewahren. Eine Offenbarung nach der anderen senkte sich auf ihn herab, schneller als er sie verarbeiten konnte. So viel war vor ihm verborgen gewesen! So viele Gründe, so viele schreckliche Notwendigkeiten! Ihn schwindelte, als er im Chrysalissessel lag, wie gelähmt und unfähig dazu, auch nur einen Ton hervorzubringen.

Schließlich blickte Jora’h hilflos in die Menge und begriff, dass auch ihm keine Wahl blieb.