74 KÖNIG PETER

Die Bediensteten brauchten eine Stunde, um den König anzukleiden. Sie wählten angemessene Sachen aus und achteten darauf, dass sich alle Falten, Taschen und Schmuckgegenstände an der richtigen Stelle befanden. Make-up-Künstler überprüften sein Gesicht, frisierten ihm das Haar und proklamierten ihn schließlich als für die Medienkameras präsentabel.

Inzwischen hatte sich Peter an die ermüdenden Staatsessen gewöhnt. Er kannte die Rolle, die er dabei spielen musste, und verbarg seine Gedanken. Er brauchte nicht einmal mehr aufzupassen. An diesem Abend erwarteten ihn so elaborierte und ausgefallene kulinarische Spezialitäten, dass sie vermutlich unverdaulich waren, aber er würde die ganze Zeit über lächeln und darauf achten, das kostbare Porzellan nicht zu beschädigen, das die Großen Könige seit zweihundert Jahren benutzten.

Peter erinnerte sich an andere Abende vor langer Zeit, als er versucht hatte, etwas für sich und seine arme Familie hinzuzuverdienen. Dies hier war etwas völlig anderes als die einfachen Nudelgerichte, von denen sie sich damals ernährt hatten. Er wusste nicht genau, wann er aufgehört hatte, von sich selbst als Raymond Aguerra zu denken. Inzwischen war er König Peter und sein früheres Leben erschien ihm wie ein Traum.

Die einzige Person, die er beeindrucken wollte, war Estarra, seine zukünftige Gemahlin. Er fragte sich, wie sie wirklich sein mochte und ob er ihr sein Herz öffnen konnte. Gingen ihr ähnliche Gedanken durch den Kopf? Würde er es jemals erfahren?

Peter ahnte, was die junge Frau durchmachte, und sie tat ihm Leid. Estarra schien anders zu sein als ihre Schwester Sarein, lieblich und intelligent, bestrebt, Details aufzunehmen. Sie war nicht seicht oder eingeschüchtert, wie er zunächst befürchtet hatte. Aber sie war nicht an so viel Zeremonie gewöhnt, auch nicht daran, dass man alle ihre Bewegungen überwachte – obwohl man sie noch nicht einmal der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Protokollminister planten jede einzelne Sekunde jenes Ereignisses, das in einer Woche stattfinden sollte.

Bisher hatten Peter und Estarra nur lächeln und höfliche Floskeln austauschen können, während neugierige Bedienstete sie belauschten. Peter wünschte sich, mit ihr in einem Zimmer allein zu sein, damit sie sich gegenseitig bemitleiden konnten. An diesem Abend bekamen sie gewiss keine Gelegenheit dazu, aber trotzdem freute er sich, sie zu sehen…

Von sieben Gefolgsleuten begleitet schritt er durch die Flure. Herolde eilten voraus und kündigten ihn immer wieder mit lauten Fanfaren an. Als Peter den Bankettsaal betrat, standen die vielen Würdenträger hastig auf. Kleidung raschelte, Stuhlbeine kratzten über den Boden; Schuhe, Schmuck und Medaillen klackten.

Der König breitete die Arme zu einer Geste des Willkommens aus. Auch OX zählte zu den Anwesenden und stand unauffällig im Saal, auf Hochglanz poliert. Es freute Peter, den fleißigen und hilfreichen Lehrer-Kompi zu sehen – hier im Flüsterpalast war OX fast so etwas wie ein Freund für ihn.

Blumensträuße schmückten den langen Tisch. Feine Servietten waren ausgelegt und silbernes Besteck funkelte im Licht der Kronleuchter. Estarra und er würden sich ansehen, vielleicht lächeln, den Blick wieder abwenden… Wenn sie doch nur für zehn Minuten allein sein konnten!

Die Bediensteten und Höflinge sorgten immer dafür, dass der König ein wenig zu spät kam, sodass alle auf ihn warten mussten. Doch diesmal bemerkte er am Kopfende des Tisches einen leeren Platz neben seinem eigenen Stuhl – Estarra fehlte. Fragend sah er einen der Herolde an, dann OX.

Mit einem falschen Lächeln trat Basil Wenzeslas vor und flüsterte: »Wir können Estarra nicht finden.« Zwar zeigte seine Miene weiterhin Zuversicht, aber in der Stimme erklang leise Kritik, als machte er aus irgendeinem Grund den König für Estarras Verspätung verantwortlich.

Peter nickte dem Vorsitzenden knapp zu und ging zu seinem Platz am oberen Ende des Tisches. »Mein Gast ist aufgehalten worden, aber inzwischen sind wir ja alle an unvorhergesehene Verzögerungen gewöhnt.« Niemand sollte auf den Gedanken kommen, dass irgendetwas Ungewöhnliches geschah. Basil legte großen Wert darauf, an dem Eindruck festzuhalten, dass alles unter Kontrolle war. »Bitte nehmen Sie Platz. Bestimmt haben wir genug Vorspeisen, um die Bewohner eines kleinen Kolonialplaneten zu ernähren.«

Pflichtbewusstes Lachen ertönte am Tisch. Peter wusste nicht, ob er sich insgeheim über Estarras Fehlen freuen oder aber besorgt sein sollte. Er hoffte, dass sie sich mit irgendwelchen erfreulichen Dingen beschäftigte. Wo auch immer sie war: Er hätte ihr lieber Gesellschaft geleistet, anstatt an diesem Ort zu sein.

»Ich schlage vor, wir beginnen mit dem ersten Gang. Die Küchenchefs wollen uns bestimmt bis nach Mitternacht hier sitzen lassen, damit wir alle von ihren kulinarischen Kunstwerken kosten.«

Es war gerade Salat aufgetragen worden, als zwei Wächter eine verlegene Estarra in den Saal geleiteten. Peter stand sofort auf, und alle anderen am Tisch folgten seinem Beispiel. Estarra trug ein elegantes, exotisches Gewand mit theronischem Flair, aber sie erweckte den Eindruck, sich in aller Hast angezogen zu haben.

»Ich habe den Palast erforscht und gar nicht gemerkt, wie spät es dabei geworden ist.« Estarras sonnengebräuntes Gesicht wirkte kindlich und erschrocken. »Ich wollte mich nicht verspäten, aber der Flüsterpalast ist so groß…«

Basil nahm den Arm der jungen Frau. »Ich führe Sie zu Ihrem Platz, meine Liebe.« Er zog die Augenbrauen zusammen und richtete einige leise, tadelnde Worte an Estarra.

Sie setzte sich betroffen und OX trat näher. Peter beugte sich vor und sprach so leise, dass ihn nur die junge Theronin hörte. »Keine Sorge. Basil ist von Zeitplänen so besessen, dass er selbst nach der Uhr schwitzt.«

Zuerst sah Estarra nicht zu ihm auf, aber dann warf sie ihm einen Blick zu, der Erleichterung zeigte. »Danke.«

Während die Bediensteten einen Gang nach dem anderen brachten, spürte Peter Estarras angespanntes Schweigen. Was hielt sie von ihm? Er hatte sich damit abgefunden, dass er sie heiraten würde, aber er wollte wissen, wer sie war. Immer wieder sah er sie an und versuchte, sich ein Bild von ihr zu machen. War sie lustig oder verdrießlich, gesellig oder ein Einzelgänger? Fürchtete sie ihn? Stand sie ihm ablehnend gegenüber? Wollte sie ihn manipulieren?

Die Gespräche und das höfliche Lachen am Tisch interessierten ihn nicht. Estarra schien noch immer bedrückt wegen Basils Reaktion auf ihre Verspätung. Auf Theroc war sie daran gewöhnt, ohne irgendwelche Einschränkungen umherzustreifen, und ihre begrenzte Bewegungsfreiheit im Flüsterpalast stellte eine große Überraschung für sie da. Sie aß und antwortete nur knapp auf die Fragen, die man ihr stellte.

Peter hob pflichtbewusst seinen Kelch, als wieder ein Gast einen Trinkspruch auf den König ausbrachte – es war schon der vierte seit Beginn des Essens und sie hatten noch nicht einmal den Hauptgang erreicht. Er versuchte, Estarras Blick einzufangen. Gern hätte er ihr mitgeteilt, dass ihm die Situation ebenso wenig gefiel wie ihr.

Mit eisernem Griff kontrollierte Basil alle Aktivitäten Peters und jetzt behandelte er Estarra auf die gleiche Weise. Wenn sie lernte, den Anschein von Kooperation zu erwecken, konnte sie trotz zahlreicher Kompromisse so etwas wie eine eigene Identität wahren. Doch Basil wollte Peter offenbar keine Gelegenheit geben, offen mit der Frau zu sprechen, die zu seiner Gemahlin werden sollte. Dem Vorsitzenden gefielen keine unkontrollierten Begegnungen, nicht einmal private.

»Wie soll ich sie dann kennen lernen?«, hatte Peter einmal in Basils privatem Büro gefragt. »Wenn Sie von uns erwarten, dass wir uns der Öffentlichkeit als wundervolles Paar präsentieren – sollte ich sie dann nicht wenigstens kennen?«

Basil hatte das Gesicht verzogen. »Nicht unbedingt, Peter. Sie komplizieren eine Situation, die ich vollkommen unter Kontrolle habe. Für die persönlichen Dinge haben Sie später genug Zeit.«

Jetzt saß Estarra nur einen Meter entfernt und mit einem echten, aufrichtigen Lächeln wandte sich Peter an seine Braut. »Bestimmt vermisst du die Wälder von Theroc.«

Sie sah ihn an, überrascht, aber auch auf der Hut. »Ich bin noch nicht sehr lange fort und kann damit fertig werden.«

»Im Flüsterpalast gibt es ein wundervolles Arboretum, sorgfältig gepflegte und exotische Gärten, in denen auch einige Weltbäume wachsen. Es würde dir bestimmt gefallen, unseren kleinen Teil einer gezähmten Wildnis zu sehen.«

»Das wäre vermutlich besser, als durch Zimmer voller Relikte zu wandern, die in ein Museum gehören.« Estarra richtete einen empörten Blick auf die Wächter, die mit steinernen Mienen an der Tür standen. »Weil sich gewisse Leute aufregen, wenn ich ohne Begleitung unterwegs bin.« Sie schnaufte leise. »Als wenn ich nicht imstande wäre, allein zurechtzukommen! Auf Theroc bin ich stundenlang gewandert und in die Wipfel der Weltbäume geklettert, um die ganze Welt von oben zu sehen.«

»Hattest du keine Angst, dich zu verirren?«

Estarra zuckte mit den Schultern. »Es ist schwer, sich im eigenen Zuhause zu verirren.«

Peter hob den Blick zur hohen Decke und den prächtigen Kronleuchtern. »Der Flüsterpalast ist schon seit einer ganzen Weile mein Zuhause und manchmal verirre ich mich trotzdem in ihm.«

Das entlockte Estarra ein Lachen. »Dann ist es vielleicht ganz gut, dass so viele Wächter da sind.«

»Wenn wir beide die Gärten besuchen, kann ich die Wächter vielleicht dazu bringen, mindestens zwanzig Schritte hinter uns zu bleiben. Falls du mir versprichst, nicht auf irgendwelche Bäume zu klettern.«

Basil stand auf und sofort wurde es still am langen Tisch – ein deutlicher Hinweis auf den Respekt, den man ihm entgegenbrachte. Die Bediensteten huschten fort.

»Estarra, Tochter von Theroc, wir sind hier, um Sie willkommen zu heißen und Ihnen unsere Achtung zu zeigen. Bald wird die Hanse offiziell Ihre Verlobung mit unserem geliebten König verkünden.« Er wandte sich an den Lehrer-Kompi. »OX wird Ihnen dabei helfen, sich an die hiesigen Gegebenheiten zu gewöhnen. Er macht Sie mit der Etikette vertraut und zeigt Ihnen das richtige Benehmen für alle Gelegenheiten. Auf die gleiche Weise hat er auch dem König geholfen, als er noch ein junger Prinz war.«

Peter sah die Theronin an und lächelte. Estarra schien vor all der Aufmerksamkeit zurückzuscheuen, die ihr plötzlich galt. »Danke«, sagte sie.

Höflicher Applaus erklang und Basil setzte sich wieder. Die Bediensteten brachten den Hauptgang: dampfendes, saftiges Fleisch mit pikanten Soßen. Peter dachte daran, dass Estarra auf Theroc nur an das Fleisch großer Insekten gewöhnt war – dies musste ganz neu für sie sein.

Er lächelte erneut und fühlte eine sonderbare Wärme im Herzen. Vielleicht konnten sie lernen, sich zu mögen – wenn sie eine Chance dazu bekamen.