99 ANTON COLICOS
Mit einer Gruppe nervöser ildiranischer Abenteurer verließ Anton Colicos Maratha Prime. An Bord eines niedrig fliegenden Shuttles näherten sie sich der dunklen Seite des Planeten. Anton spürte die Aufregung eines Gelehrten, den neue Entdeckungen erwarteten, während den Ildiranern Zweifel an der Richtigkeit ihrer Entscheidung kamen, ihn und Vao’sh zu begleiten. Doch Anton war sicher, dass sie darüber hinwegkommen würden.
Mit hoher Geschwindigkeit ging es über eine sonnenverbrannte Landschaft hinweg in Richtung Nacht. Der Erinnerer Vao’sh saß neben Anton, auf eine zurückhaltende Weise fasziniert von ihrer Expedition. Er, Vao’sh und zehn Touristen, größtenteils Adlige und Beamte, drängten sich im Shuttle zusammen – wäre die Gruppe kleiner gewesen, hätten die Ildiraner die Trennung von der größeren Gemeinschaft in Maratha Prime nicht einmal für einige Stunden ertragen. Sie sprachen schnell und atemlos miteinander, empfanden so etwas wie wohlige Furcht; dies war eine völlig neue Erfahrung für sie.
Anton lächelte. »Vielleicht sollten Sie solche Ausflüge öfter veranstalten. Auch wenn Maratha Secda fertig gestellt und während der hellen Monate voller Touristen ist – Sie könnten regelmäßige Expeditionen zur dunklen Seite unternehmen. Es wäre wie die Geisterbahn eines Vergnügungsparks und würde den Ildiranern bestimmt gefallen.«
»Im Gegensatz zu Menschen spielen wir nicht mit Furcht erregenden Situationen«, sagte Vao’sh.
»Oh, ich bitte Sie, warum sollte man die Dunkelheit fürchten?«, erwiderte Anton. »Oder stellen Sie sich diese Frage nie?«
»Sowohl Menschen als auch Ildiraner fürchten das Unbekannte. Für ein Volk, das im Licht von sieben Sonnen geboren wurde, war das Konzept der Nacht völlig fremd, bis unser Reich wuchs und wir feststellten, dass auf anderen Welten Schatten dominieren.«
»Ah, aber in der menschlichen Kultur eignet sich die Nacht am besten dafür, Geistergeschichten zu erzählen. Einige der besten Erinnerungen an meine Kindheit stehen mit solchen Gelegenheiten in Verbindung. Meine Eltern erzählten solche Geschichten in unserem archäologischen Lager auf Pym.« Anton lächelte erneut, als er sich daran entsann, doch dann erschien Sorge in seinem Gesicht. »Ich schätze, angesichts der Hydroger brauchen wir keinen Vorwand mehr, uns gegenseitig Angst zu machen.«
Die gleißende Sonne blieb hinter ihnen zurück, als sie sich dem dunklen Horizont näherten. Schatten wuchsen auf dem unebenen Gelände unter dem Shuttle, wie lange schwarze Klauen. Es blieb Maratha Prime noch etwa ein Monat, bevor die Nacht begann, bis Dunkelheit das Licht des langen Tages verdrängte. Für den Shuttle und seine Insassen kam der Übergang schnell: Plötzlich war der Himmel dunkel und Sterne leuchteten an ihm. Anton blickte aus dem Fenster und beobachtete die Konstellationen, die am hellen Tageshimmel natürlich nicht zu sehen waren.
Es flirrte über dem Boden, der noch eine Zeit lang die gespeicherte Hitze abgab, dann regierten Kälte und Finsternis. Anton erinnerte sich an die gepanzerten Ch’kanh-Anemonen in den tiefen Schluchten. Während der langen Nacht schlief alles Leben und wartete geduldig darauf, dass Licht und Wärme zurückkehrten.
Als Anton diese ungewöhnliche Expedition vorgeschlagen hatte, war Vao’sh zunächst verunsichert gewesen von der Vorstellung, zur dunklen Seite des Planeten zu fliegen und eine noch nicht fertig gestellte Stadt zu besuchen. Aber der Historiker von der Erde hatte nicht aufgegeben und den Erinnerer schließlich davon überzeugt, dass eine solche Reise interessant sein würde. Um die Menschen besser zu verstehen, hatte sich Vao’sh schließlich einverstanden erklärt – falls sie genug Ildiraner fanden, die sie begleiteten.
Nach dem Erzählen einer besonders langen und spannenden Geschichte hatte Anton gefragt, wer zu einem Ausflug nach Maratha Secda bereit war. Ganz deutlich erinnerte er sich an die Faszination des Publikums und die eigenen Worte: »Möchten Sie selbst ein Abenteuer erleben? Wir könnten zu einer kurzen Reise aufbrechen und etwas Denkwürdiges unternehmen. Es wird eine Erfahrung sein, die Sie nie vergessen.«
Als er seine Idee erklärte, sah er Schrecken in den Gesichtern der Ildiraner, aber davon ließ er sich nicht entmutigen. »Ihnen gefallen Geschichten über Helden und tapfere Taten, aber wie können Sie Helden richtig verstehen, wenn Sie sich davor fürchten, selbst ein kleines Risiko einzugehen? Ich versichere Ihnen: Wenn wir die Baustelle besuchen, sehen Sie die neue Stadt auf eine Weise, wie sie sonst kein anderer Ildiraner sieht. So eine Chance bietet sich Ihnen vielleicht nie wieder. Haben Sie zu viel Angst, etwas Neues zu versuchen?« Antons Augen glänzten, als er den Blick über die Zuhörer schweifen ließ. »Ich brauche zehn Personen, die Erinnerer Vao’sh und mich begleiten.«
Vao’sh war noch immer beunruhigt von der Vorstellung, die dunkle Seite des Planeten aufzusuchen, aber es faszinierte ihn, die Reaktion der anderen Ildiraner zu beobachten. Er selbst hatte seine Zuhörer nie mit einer derartigen Herausforderung konfrontiert; es war eine neue, lehrreiche Erfahrung für ihn.
Im Lauf der nächsten vier Tage gelang es Anton tatsächlich, zehn reisewillige Ildiraner zu finden.
Jetzt döste der menschliche Historiker, als der Shuttle dicht über der Oberfläche durch die Nacht flog. Es würde einige Stunden dauern, den halben Kontinent zu überqueren und die Baustelle der zweiten Stadt zu erreichen. Die ildiranischen »Draufgänger« waren viel zu nervös, um sich zu entspannen. Vermutlich hielten sie es für seltsam, dass Anton angesichts des Unbekannten so ruhig blieb.
Er erwachte, als der Shuttle langsamer wurde. Voraus zeigten sich die Lichter der Baustelle. Die Ildiraner drängten sich aufgeregt und interessiert an den Fenstern zusammen.
Klikiss-Roboter brauchten kein künstliches Licht für die Arbeit, aber die ungewöhnlichen Besucher waren ihnen angekündigt worden. Dutzende von Lampen und Scheinwerfern strahlten, hielten die Dunkelheit vom Bauplatz fern. Die Ildiraner wirkten erleichtert.
Als der Shuttle zur Landung ansetzte, streiften die Touristen Schutzkleidung über. Anton zog ebenfalls einen Anzug an und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Als alle zwölf Passagiere zum Ausstieg bereit waren, stand der Shuttle vor der Hauptkuppel von Maratha Secda.
»Sind alle so weit? Wir haben das Ziel unserer Reise erreicht.« Anton sah, wie die Ildiraner zögerten, als es tatsächlich darum ging, in die Nacht hinauszutreten. Die leere, unfertige Stadt war so groß wie Maratha Prime, aber unbewohnt und voller Schatten. Er lächelte. »Na los, lassen Sie uns nicht länger warten.«
Er stieg als Erster aus, als die Luke aufschwang, und Vao’sh folgte ihm. Die zwölf Reisenden standen auf eisenhartem Boden und sahen zur prächtigen zukünftigen Ferienstadt.
Die Klikiss-Roboter hatten Plattformen für einen Raumhafen und die Hauptkuppel errichtet. Glänzer leuchteten an kastenförmigen Gebäuden und erfüllten die Stadt mit Licht. Stumme Sendetürme wuchsen dem schwarzen, sternenbesetzten Himmel entgegen.
Anton sah sich mit ehrfürchtigem Staunen um. »In Maratha Prime ist alles so hell und voller Leute, dass mir die wahren Ausmaße der Stadt nicht richtig klar wurden. Secda wird phantastisch sein, wenn hier alles fertig ist.«
Einige Touristen gingen ein paar Schritte fort von den anderen, wie um Mut zu beweisen. Die übrigen bildeten eine eingeschüchterte Gruppe.
»Der schwarze Himmel ist bedrückend«, sagte ein Ildiraner des Mediziner-Geschlechts. »Die Sterne sehen aus wie heranrasende Projektile.«
»Hier draußen im Dunkeln zu sein, ist Teil der neuen Erfahrung«, meinte Vao’sh, aber es klang nicht sehr überzeugt.
»Dies wäre die passende Zeit für eine Geistergeschichte.« Anton sah Vao’sh an. »Oder gibt es in der Saga der Sieben Sonnen so etwas nicht?«
»Oh, doch«, erwiderte der Erinnerer. Er war nicht nur für die Ablenkung dankbar, sondern freute sich auch darüber, seine ererbte Aufgabe wahrnehmen zu können. »Kommen Sie, ich erzähle eine Geschichte, während wir zum Licht gehen.« Die anderen folgten ihm sofort. Es ging ihnen nicht unbedingt darum, eine Geschichte zu hören, die Furcht erregen sollte, sondern darum, die Dunkelheit zu verlassen.
»Auf unserer Splitter-Kolonie Heald strandete eine Gruppe von Siedlern, als ein Sturm die Batterien und Generatoren beschädigte«, begann Vao’sh. »Die Nacht auf Heald ist fast eine Woche lang, doch diesmal schien die Zeit der Dunkelheit viel länger zu dauern. Jede Sekunde kam einer Qual gleich. Auch nach dem Unwetter hingen dichte Wolken am Himmel und hielten sogar das Licht des Mondes und der Sterne fern. Die Siedler versuchten, Feuer zu entfachen, aber sie hatten kaum Brennstoff. Das dort wachsende Holz war vom Regen durchnässt und ließ sich nicht entzünden. Auf eine solche Katastrophe waren die Kolonisten nicht vorbereitet und ihre Verzweiflung wuchs. Und die Nacht wurde dunkler und dunkler…«
Vao’sh sah zu den anderen Ildiranern, die über den harten Boden stapften, den Glänzern von Secda entgegen. Diesmal konnte der Erinnerer seinen Worten nicht mit den farbigen Hautlappen in seinem Gesicht Nachdruck verleihen, aber das brauchte er auch gar nicht – die Zuhörer waren bereits nervös.
»Es gab eine andere Siedlung weiter unten an der Küste von Healds größtem Kontinent, aber ohne Energie konnten die Kolonisten keinen Notruf senden.
Als die Schreie der Siedler von immer mehr Entsetzen kündeten, fühlte man ihre Angst überall auf dem Planeten; sie berührten sogar Ildira und den Weisen Imperator. Lauter und lauter wurden sie. Und dann herrschte plötzlich Stille! Völlige Stille, wie bei einer offenen, leeren Wunde im Thism.« Vao’sh blieb stehen und in den Augen des Erinnerers glühte es, als er sein Publikum ansah.
»Eine tapfere Gruppe von der zweiten Siedlung brach auf, ausgerüstet mit Fackeln und Glänzern.« Der Erinnerer hob ruckartig die Hand und seine Zuhörer zuckten zusammen. »Aber als sie den Ort erreichten, fanden sie alle Kolonisten tot vor. Nicht einer von ihnen hatte überlebt – die Dunkelheit schien ihnen allen das Leben aus dem Leib gesaugt zu haben. Es gab nicht mehr die geringste Verbindung zur Lichtquelle. Nirgends brannte ein Feuer; nirgendwo in der Siedlung gab es Licht. Vielleicht starben die Kolonisten aus Angst. Oder sie fielen den Shana Rei zum Opfer.«
Anton lachte leise. »Na bitte, auch bei Ihnen gibt es Geistergeschichten. Wer sind die Shana Rei?«
»Ungeheuer, die außerhalb des Sonnenlichts leben, in den Schatten. Geschöpfe, die die Lichtquelle hassen. Alle fürchten sie.«
»Oh, Sie meinen so etwas wie den Schwarzen Mann.«
»Können wir uns nicht die Stadt ansehen und dann nach Prime zurückkehren?«, fragte einer der nervösen Ildiraner. »Es… wartet viel Arbeit auf mich.«
Anton hob skeptisch die Brauen. »Auf einem Urlaubsplaneten?«
Sie erreichten den Haupteingang der großen Kuppel. Käferartige schwarze Roboter bewegten sich auf hohen Gerüsten, montierten dicke Träger und Installationsplatten aus transparenten Polymeren. Im hellen Licht sah Anton aufgestapelte Materialien, Wohnkomplexe, Lagerräume, unvollständige Vergnügungszentren, Restaurants und viele andere Gebäude, die noch fertig gestellt werden mussten. Eine neue Stadt, die viele Bewohner aufnehmen würde, wenn das Sonnenlicht diesen Teil des Planeten erreichte.
Die Klikiss-Roboter schienen bei dem Projekt gut voranzukommen. Anton hörte überall Baulärm. »Wie bringen Sie die Roboter dazu, so fleißig zu arbeiten? Die Stadt wird nicht ihnen gehören, wenn sie fertig ist.«
»Kein Ildiraner gibt den Klikiss-Robotern Befehle, Erinnerer Anton. Wir versklaven oder programmieren sie nicht. Sie erledigen diese Arbeit freiwillig, aus eigenem Antrieb.«
»Ich bin froh, dass sie die Glänzer für uns installiert haben«, sagte einer der anderen Ildiraner.
Die rege Betriebsamkeit und das Licht in der Hauptkuppel entspannten die Touristen, obgleich die Schatten von Trägern und Stützen spinnenwebartige Muster auf dem Boden schufen.
Anton trat tiefer in die Kuppelstadt, lauschte den Geräuschen und beobachtete die zahlreichen Roboter. Er hatte noch nie so viele der schwarzen Maschinen an einem Ort gesehen.
»Klikiss-Roboter sind besonders gut dafür geeignet, im Dunkeln zu arbeiten«, sagte Vao’sh.
Anton nickte staunend. »Und sie sind sehr fleißig gewesen.«