50 ERSTDESIGNIERTER JORA’H

Nach dem Angriff auf Hyrillka fühlte sich der Erstdesignierte Jora’h selbst im Prismapalast nicht mehr sicher. Verstärktes Sonnenlicht glänzte durch die Fenster und gewölbten Scheiben, erleuchtete alle Ecken und ließ nirgends Platz für Schatten. Doch Jora’hs Gedanken galten den Hydrogern, die irgendwo dort draußen sein mochten und sich vielleicht in diesem Augenblick Ildira näherten…

Die Solare Marine hatte bittere Niederlagen hinnehmen müssen, erst bei Qronha 3 und dann bei Hyrillka. Wenn die Hydroger beschlossen, andere Welten des Ildiranischen Reiches anzugreifen – wer konnte sie daran hindern?

Jora’hs Vater rief ihn zu einer Konsultation zu sich, aber der Erstdesignierte kam dieser Aufforderung nicht sofort nach und versuchte zuerst, die Unruhe aus sich zu vertreiben. Er gab einem Hauch Sentimentalität nach und streifte ein Hemd mit weiten Ärmeln über, das aus theronischen Fasern bestand, ein Geschenk von Nira Khali. Er erhoffte sich Kraft und Frieden davon.

Kurze Zeit später stand er steif vor dem Chrysalissessel. Es schmerzte ihn, den Schock des Verlustes und das Entsetzen im grauen Gesicht des Weisen Imperators zu sehen. Jora’h glaubte, die Knochen durch die fahle Haut seines Vaters zu erkennen. Hatte sich Cyroc’hs Gesundheitszustand während der letzten Wochen erheblich verschlechtert? Der Glanz des langen Zopfs schien sich getrübt zu haben – offenbar verloren selbst die Haare ihren Lebenswillen.

Durch das Thism hatte der Weise Imperator Not und Leid der Hyrillkaner erfahren. »Bist du unverletzt, mein Sohn?« Die Sorge um Jora’hs Wohlergehen schien nicht so sehr persönlicher, sondern eher politischer oder dynastischer Natur zu sein.

»Ja, Vater. Ich habe den Angriff der Hydroger unversehrt überstanden, ebenso wie Thor’h. Mein Bruder Rusa’h hingegen wurde schwer verletzt. Ich fürchte um sein Leben.«

Der Weise Imperator runzelte die Stirn. »Die besten Ärzte kümmern sich um ihn. Es wird dem Hyrillka-Designierten gewiss nicht an angemessener Behandlung mangeln, aber seine Rekonvaleszenz hängt von der inneren Kraft ab. Dein Bruder hat ein bequemes Leben ohne Herausforderungen geführt. Vielleicht fehlt ihm das Durchhaltevermögen, das nötig ist, um die Gefahr zu überwinden.«

Die kalte Analyse und der Mangel an Anteilnahme überraschten Jora’h. »Er befindet sich noch immer im Subthism-Schlaf, Vater.«

Der Weise Imperator verzog das normalerweise immer sanft wirkende Gesicht. »Der Subthism-Zustand bedeutet, dass sich das betreffende Selbst versteckt, Jora’h. Für so etwas kann ich derzeit keine Zeit vergeuden. Wir müssen an die jüngsten Ereignisse denken und über die Konsequenzen sprechen. Rusa’h kann den Seelenfäden folgen und die Sphäre der Lichtquelle aufsuchen, wann immer er möchte.« Cyroc’h hob einen dicken und leicht zitternden Finger. »In gewisser Weise könnte der jüngste Angriff eine gute Sache gewesen sein.«

Jora’hs offenes Haar umwogte wie von statischer Elektrizität bewegt den Kopf. Er versuchte, seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. »Hunderttausende starben auf Hyrillka! Wie kann so etwas gut sein?«

»Ich meine, eine solche Katastrophe beobachtet zu haben, könnte eine gute Lektion für dich sein«, erwiderte der Weise Imperator sofort. »Auf Hyrillka hast du gesehen, wie schwer es ist, Oberhaupt eines Volkes zu sein. Bald werde ich Adar Kori’nh empfangen und mit ihm die Maßnahmen besprechen, die zum Schutz des Reiches ergriffen werden müssen.«

Jora’h stand stumm da und spürte, wie die Unruhe in ihn zurückkehrte. Schon bald würde er die Nachfolge seines Vaters antreten und er nahm sich vor, ein mitfühlenderes Oberhaupt der Ildiraner zu sein. Er wollte vor allem an die Personen denken und erst in zweiter Linie an Politik.

»Wie sollen wir gegen einen Feind kämpfen, den wir nicht verstehen? Die Hydroger kamen aus dem Nichts. Wir haben ihre Aggression nicht provoziert.«

Cyroc’h musterte seinen erstgeborenen Sohn kühl. »Wir wissen mehr über die Hydroger, als du glaubst.« Jäher Schmerz stach hinter der Stirn des Weisen Imperators und er sank zurück, sah erschreckend schwach aus. »Geh und denk über das nach, was ich dir gesagt habe.« Er schickte Jora’h fort und wies den Leibwächter Bron’n an, den Adar zu holen, um strategische Fragen mit ihm zu erörtern.

Der Hyrillka-Designierte lag in einem komfortablen Bett, in einem warmen, hellen Zimmer. Bedienstete und Ärzte umgaben ihn wie Parasiten, überprüften die Anzeigen medizinischer Geräte, verabreichten Injektionen und trugen Salben auf. Zwei Ildiraner des Linsen-Geschlechts standen mit ernster Miene in der Nähe, als ob sie dem bewusstlosen Rusa’h dabei helfen könnten, die Fäden zu seinem Körper zurückzuverfolgen.

Das runde Gesicht des Hyrillka-Designierten wirkte nun eingefallen und blass. Die Augen waren geschlossen. Das erschlaffte Haar blieb völlig reglos, was entweder an den verabreichten Arzneien lag oder am tiefen Koma des Designierten. Jora’h sah auf ihn hinab.

Rusa’hs Kopf war verbunden. Trotz der Blässe zeigten sich violette Flecken auf Stirn und Wangen, deutliche Hinweise auf Verletzungen tiefer im Körper. Die inneren Blutungen dauerten an, obwohl einer der besten ildiranischen Ärzte chirurgische Wunder vollbracht hatte, um den Designierten vor dem Tod zu bewahren.

Die Kopfverletzungen und möglichen Hirnschäden waren weitaus ernster als Quetschungen oder Knochenbrüche. Wenn Rusa’hs Geist tödlich verletzt worden war – welchen Sinn hatte es dann, den Körper am Leben zu erhalten?

Thor’h blieb an der Seite seines Onkels. Jora’h musterte seinen Sohn, der ihm sehr jung und ängstlich erschien. Thor’hs Augen waren gerötet.

»Warum wacht er nicht auf?« Er sah Jora’h an, als glaubte er, sein Vater könnte alle Wunden allein mit einer Handbewegung heilen. »Ich habe den Ärzten befohlen, ihm Stimulanzien zu geben, damit er das Bewusstsein wiedererlangt, aber sie schenken mir keine Beachtung.« Thor’h richtete einen finsteren Blick auf die Bediensteten, Ärzte und Arzneispezialisten. »Sag ihnen, wer ich bin und dass sie meinen Anweisungen gehorchen müssen.«

»Sie können Rusa’h ebenso wenig helfen wie ich den Hydrogern befehlen kann, Hyrillka in Ruhe zu lassen.«

Der junge Mann sah seinen Vater verächtlich an. »Wozu taugst du dann?«

Jora’h hätte Thor’h am liebsten geschlagen, insbesondere nach dem, was er gerade vom Weisen Imperator gehört hatte. Aber er beherrschte sich und dachte an die besonderen Belastungen, denen sein Sohn ausgesetzt war, an den Kummer. Der junge Mann hatte ein angenehmes, behütetes Leben geführt, bei dem jeder Wunsch zu leicht in Erfüllung gegangen war.

»Vielleicht solltest du mit den Priestern des Linsen-Geschlechts sprechen«, sagte er mit einem kurzen Blick auf die beiden ernsten Männer. »Lass dich von ihnen beraten.« Jora’h musste sicherstellen, dass sein Sohn eines Tages ein gutes Oberhaupt des ildiranischen Volkes sein würde und den Unterschied verstand zwischen dem, was möglich war und was Wunschdenken bleiben musste. Im Ildiranischen Reich würde viel von dieser einen Person, Jora’hs Nachfolger, abhängen.

»Sie können nicht mehr helfen als alle anderen. Ich bleibe lieber hier.« Thor’h verharrte neben dem Bett und ignorierte seinen Vater.

Jora’h holte tief Luft. »Während des Angriffs auf Hyrillka hast du große Tapferkeit und Ehre gezeigt. Du hättest dich mit dem ersten Rettungsshuttle in Sicherheit bringen können, aber stattdessen bist du umgekehrt, um deinem Onkel zu helfen. Damit hast du dir meinen Respekt verdient.«

»Ich habe dadurch nichts erreicht«, erwiderte der junge Mann bitter.

»Vielleicht hast du mehr gewonnen als du ahnst.« Jora’h legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Bleib bei ihm, Thor’h. Rusa’h mag im Subthism-Schlaf liegen, aber ich bin sicher, er spürt deine Präsenz. Gib ihm deine Kraft; vielleicht genügt sie.« Er wandte sich an die Ildiraner des Mediziner-Geschlechts und fügte hinzu: »Setzen Sie Ihre Bemühungen fort. Versuchen Sie alles, meinem Bruder zu helfen.«

»Wir haben bereits die Grenze unserer Fähigkeiten erreicht, Erstdesignierter«, sagte einer der Ärzte. »Ich fürchte, sein Selbst hat sich zu weit zurückgezogen. Keine Medizin kann ihn von dort zurückholen. Wir können uns nur um den Körper kümmern.«

Voller Abscheu blickte Thor’h kurz zu den Ärzten, beugte sich dann kummervoll zum reglosen Designierten vor. Jora’h ging und sein Sohn sah nicht einmal auf.