68 ESTARRA

Ein Manta-Kreuzer traf pünktlich ein, um Sarein, Estarra und die grünen Priester abzuholen, die der Erde ihre Dienste anbieten wollten. Das mittelgroße Kampfschiff blieb in einer Umlaufbahn über Theroc, denn die Landeplatz-Lichtung bot ihm nicht genug Platz. Die Passagiere verabschiedeten sich, gingen an Bord des Shuttles und ließen die vom Weltwald bedeckten Kontinente hinter sich zurück.

Kaum an Bord des TVF-Schiffs wandte sich Estarra an Sarein und meinte, sie wäre müde und wollte in ihrer Kabine allein sein. Sie legte sich auf die schmale Koje, blickte zur beunruhigend unorganischen Decke hoch, atmete tief durch und nahm dabei den metallischen Geruch der wiederaufbereiteten Luft wahr. Ihre Umgebung erschien ihr unnatürlich ohne den Duft von vertrautem Leben, ohne Bäume und Sonnenschein. Sie spürte Vibrationen, als der Manta-Kreuzer aus dem Orbit schwenkte und sie zum ersten Mal in ihrem Leben von Theroc fort brachte. Trotz der ungewohnten Umgebung schlief Estarra schon nach kurzer Zeit ein…

Bei den gemeinsamen Mahlzeiten während des Flugs zur Erde bot Sarein stolz irdische Speisen an: Hühnchen, Fisch und verschiedene Fleischsorten, die seltsam anders schmeckten als die Insekten, an deren Verzehr Estarra gewöhnt war. Mit glänzenden Augen und einem aufrichtig wirkenden Lächeln saß ihre ältere Schwester auf der anderen Seite des Tisches. »So etwas wie den Flüsterpalast kannst du dir gar nicht vorstellen, Estarra. Du wirst goldene Kuppeln im Sonnenschein sehen. Ewiges Feuer brennt an den Türmen und Brückenpfeilern – jede Fackel symbolisiert eine Kolonie der Hanse. Zusammen mit König Peter wirst du an spektakulären Prozessionen und Paraden teilnehmen.« Sarein strahlte. »Ah, die Erde ist all das, was Theroc nicht ist.«

So sehr Sarein auch von der Erde begeistert sein mochte: Es war Estarras Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass ihre Schwester einen Frachtraum des Schiffes mit theronischen Dingen gefüllt hatte, die sie im Flüsterpalast nicht bekommen konnte: kulinarische Spezialitäten, Tücher aus Kokonfaser, aus Waldblumen gewonnene Farbstoffe.

Estarra hörte höflich zu, während sie aß. »Einige Dinge… klingen interessant. Aber ich fliege nicht als Tourist oder Besucher zur Erde.«

Nein, sie würde einen jungen Mann heiraten, den sie überhaupt nicht kannte, und in ihrem zukünftigen Leben würde sie es mit politischen und sozialen Pflichten zu tun bekommen, mit denen sie ebenso wenig vertraut war. Beneto und Rossia hatten ihr geraten, unvoreingenommen zu bleiben, neuen Möglichkeiten gegenüber offen. Und sie sollte stark sein – das war das Wichtigste. Estarra wollte diesen Rat beherzigen.

Die neunzehn grünen Priester blieben auf dem Crewdeck zusammen und Estarra besuchte Rossia während der Reise. Doch als der Manta das irdische Sonnensystem erreichte, verließ ein großer Personentransporter den Kreuzer und brachte die grünen Priester zur TVF-Basis auf dem Mars.

»Erwartet mich eine Menschenmenge?«, fragte Estarra, als der Manta am Rand des Palastdistrikts landete. »Muss ich sofort mit vielen Personen sprechen? Und kommt König Peter, um mich zu begrüßen?«

Sarein klopfte ihr auf den Arm. »Keine Sorge, kleine Schwester. Basil sorgt dafür, dass alles sorgfältig überlegt, geplant und geprobt ist. Offiziell weiß niemand, dass du dich an Bord dieses Schiffes befindest. Wenn man dich schließlich der Öffentlichkeit vorstellt, ist alles bis ins kleinste Detail und mit größter Präzision vorbereitet. Es gibt keinen Grund für dich, nervös zu sein. Derzeit bist du nur ein anonymer Passagier. Ich werde dir dabei helfen, dich einzugewöhnen.«

Die TVF-Soldaten verließen den gelandeten Kreuzer und uniformierte Arbeiter kamen mit Entlademaschinen, um die Fracht zu holen. Techniker begannen damit, die Bordsysteme zu überprüfen, Reparaturen vorzunehmen und Vorräte zu ergänzen, damit der Manta möglichst bald ins All zurückkehren konnte.

Estarra fühlte sich in dem Strudel aus Menschen fehl am Platz. Nie zuvor hatte sie so viele Gebäude gesehen. Wolkenkratzer, Türme, Lagerhäuser, Hangars – es wirkte wie ein künstlicher Wald aus Metall, Stein und transparenten Platten. Der Himmel zeigte ein helles Blau. Die junge Theronin blickt sich staunend um.

»Da kommt Basil.« Sarein winkte einem militärischen Transporter zu, der über den Platz summte, und aus dem Mundwinkel sagte sie leise: »Denk daran, was du sagen sollst.«

»Ich dachte, meine Ankunft ist inoffiziell.« Estarra wölbte eine Braue. »Wenn niemand zusieht oder zuhört – warum ist es dann so wichtig, dass ich die richtigen Worte spreche?«

»Sieh eine Übung darin, Estarra. Davon kannst du gar nicht genug haben.«

Als Basil Wenzeslas ihnen an der offenen VIP-Luke des Mantas gegenübertrat, zeigte sein Gesicht Erfahrung und Weisheit, aber nicht die vielen Falten hohen Alters. Estarra kannte das Alter des Vorsitzenden nicht, aber sie wusste, dass er sich regelmäßigen Verjüngungsbehandlungen unterzog. Er streckte die Hand aus. »Willkommen, Estarra. Wir sind uns bei der Amtseinführung Ihres Bruders auf Theroc begegnet, hatten jedoch keine Gelegenheit, uns besser kennen zu lernen.«

»Es ist meiner Schwester eine große Ehre, hier zu sein, Basil«, sagte Sarein.

Estarra lächelte möglichst freundlich. Dies war ihre erste Erfahrung mit diplomatischen Lügen und bestimmt würde es nicht die letzte sein.

Sie wollte diese Routine möglichst schnell hinter sich bringen und hob einen kleinen Topf, in dem ein fedriger Schössling wuchs – ihr offizielles Geschenk. »Dieser kleine Baum ist für Sie als Vorsitzenden der Terranischen Hanse bestimmt. Möge er groß werden und so gut gedeihen wie die Hanse.«

Dass man sie aufgefordert hatte, dieses Geschenk dem Vorsitzenden zu geben und nicht dem König, bot einen Hinweis auf die wahre Machtverteilung.

»Danke, Estarra«, sagte Basil, nahm den Schössling aber nicht selbst entgegen. Er winkte einem blonden Bediensteten zu, der sofort nach dem Topf griff, sah dann wieder Estarra an und lächelte so, als wäre sie ein kleines Mädchen. »Lassen Sie uns jetzt zu König Peter gehen. Bestimmt haben Sie lang auf diesen Augenblick gewartet.«

Zwar sollte Estarra den Rest ihres Lebens mit Peter verbringen, aber man gab ihr kaum die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen. Ihre erste Begegnung fand bei einem inoffiziellen Mittagessen in einem Wintergarten statt, der zu einem der labyrinthenen Flügel des Flüsterpalastes gehörte und dessen Decke aus Glas bestand. Eine Parade aus Bediensteten bot Estarra Gebäck und Süßigkeiten an, aber sie war nicht hungrig.

Der König saß am anderen Ende des glänzenden Tisches und trug eine gut sitzende, zweckdienliche graublaue Uniform, die die mageren Zeiten in der Hanse zu symbolisieren schien. Ein alter Lehrer-Kompi stand wie ein persönlicher Berater neben ihm und Basil Wenzeslas saß an der Ecke.

Andere Repräsentanten und Funktionäre sprachen laut miteinander und das Brummen der Konversation umgab Estarra wie ein akustisches Dickicht. Dieser angeblich so zwanglose Empfang schien sorgfältig arrangiert zu sein, damit Peter und sie keine Gelegenheit bekamen, mehr als nur einige Höflichkeitsfloskeln zu wechseln.

Der König war attraktiv, das musste sie zugeben. Sie hatte sein Bild in den Nachrichtenvideos gesehen und ihn immer für wohlerzogen gehalten. Das blonde Haar, die blauen Augen und die feinen Gesichtszüge brachten einen gewissen Magnetismus zum Ausdruck. Doch jedes Wort, das er in der Öffentlichkeit sprach, schien sorgfältig ausgewählt und einstudiert zu sein.

Während sie sich gegenübersaßen, wechselten sie verstohlene Blicke, als versuchten sie, geistig miteinander zu kommunizieren. Peter musterte Estarra so wie sie ihn und versuchte, einen Eindruck von ihr zu gewinnen. Sie fragte sich, ob er eine ähnliche Unsicherheit spürte wie sie.

Ein Teil der Steifheit verflüchtigte sich, als Estarra Mitleid mit dem jungen König empfand und begriff, dass sie beide im gleichen Dilemma steckten. Derzeit waren sie kaum mehr als von höheren Mächten bewegte Marionetten. Ihnen stand eine sehr schlechte Ehe bevor, wenn sie sich wie Feinde behandelten. Als sich erneut ihre Blicke trafen, schenkte sie ihm ein sanftes Lächeln. Peter schien erst überrascht und dann erfreut zu sein und erwiderte das Lächeln.

Der Vorsitzende und Sarein hoben kleine Tassen, die Zimttee enthielten, angeblich das Lieblingsgetränk des Königs, obwohl er es mit nicht mehr Begeisterung als Estarra getrunken hatte. »Auf das königliche Paar«, sagte Basil Wenzeslas. »Möge ihre Liebe und dieses Bündnis die Hanse stärker werden lassen.«

»Auf das königliche Paar!«, wiederholte Sarein.

Estarra und Peter hoben ihre Tassen ebenfalls und sahen sich an, ohne miteinander reden zu können.