29 DOBRO-DESIGNIERTER

Das Halbblut-Mädchen war bemerkenswert, noch talentierter und intelligenter, als es sich der Designierte erträumt hatte. Dieses Kind mochte durchaus imstande sein, zwischen Ildiranern und Hydrogern eine mentale Brücke zu bauen, die die beiden Völker ebenso miteinander verband wie die Seelenfäden des Thism alle Ildiraner.

Wenn Osira’h dieses einzigartige Ziel erreichte, so hatten sich all die Anstrengungen über Generationen hinweg gelohnt. Diesem Mädchen mochte es gelingen, das Reich zu retten, die ildiranische Zivilisation, alles.

In der gut erleuchteten Residenz sah das Mädchen seinen Mentor an und lächelte strahlend, dazu bereit, alles zu tun, was er von ihm verlangte. Osira’h war schön, unschuldig und perfekt, ein glänzender Sonnenstrahl direkt aus der Sphäre der Lichtquelle. Ihre Klugheit ging weit über das für ihr Alter normale Maß hinaus und Udru’h vermutete, dass er nur einen Teil ihrer Fähigkeiten kannte. Vermutlich galt das auch für sie selbst. Es gab noch viel zu entdeckten und er hoffte, genau die Dinge zu finden, die das Ildiranische Reich brauchte.

Als zweiter Sohn des Weisen Imperators hatte Udru’h immer hart gearbeitet und die notwendigen Dinge erledigt, von denen sein Bruder Jora’h nichts wusste. Der Erstdesignierte glitt unbekümmert durchs Leben und achtete kaum auf die Vorteile seines Rangs. Der Dobro-Designierte war nicht eifersüchtig auf Jora’h und er strebte keineswegs danach, an seiner Stelle Erbe des Prismapalastes zu werden. Er dachte vor allem an das, was nötig war, mit einer an Emotionslosigkeit heranreichenden Kühle. Udru’h ging jenen Dingen nach, die er für erforderlich hielt, auch wenn sie manchmal sehr unangenehm sein konnten.

Erneut sah er zu dem Mädchen, das am großen Fenster stand und in die Nacht hinausblickte, so aufmerksam, als spürte es etwas dort draußen in der Dunkelheit.

Als er den Namen des Kinds dachte, drehte es sich zu ihm um. Osira’h hatte große Augen und fedriges goldenes Haar. Die Jochbeine waren hoch, das Kinn stark. Die adlige Abstammung gab ihm etwas Zartes und Würdevolles. Der Designierte glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit mit Jora’h zu erkennen – und ein exotisches Flair, das auf die Gene der grünen Priesterin zurückging. In den Augen des Mädchens gab es ein sonderbares inneres Licht – zu der Farbe von rauchigem Topas, die Osira’h von ihrem Vater geerbt hatte, kam das dunkle Braun ihrer Mutter.

»Du denkst erneut an mich«, sagte sie leise und doch deutlich. Osira’h war erst fünf Jahre alt, aber ihre überlegenen Gene und die intensive Ausbildung und Indoktrination hatten sie weitaus reifer werden lassen als andere Kinder in ihrem Alter. Dieses Mädchen träumte nie davon, am Nachmittag zu spielen.

»Fühlst du meinen Stolz?«

Osira’h lachte. »Er geht so von dir aus wie Hitze von einem Feuer.«

Udru’h trat neben das Mädchen und legte ihm seine starke Hand auf die Schulter. Noch vor einem Jahr hatte Osira’h viel Kraft aufwenden, ihre Gedanken und Wahrnehmungen kanalisieren müssen, um zu erkennen, was der Designierte dachte. Inzwischen geschah das fast ebenso automatisch und mühelos wie das Atmen. Erstaunlich.

Osira’hs Halbbrüder und Halbschwestern – unter ihnen auch Udru’hs Sohn Rod’h – zeigten nicht annähernd so großes Talent, obgleich der Designierte noch immer auf einen Durchbruch hoffte, indem er Nira Khali Zeugungspartner aus verschiedenen ildiranischen Geschlechtern zuwies. Die anderen Halbblut-Kinder wuchsen in großen Gruppen auf, in Kindergärten, Schulen und Ausbildungszentren. Die jungen Halbmenschen wussten um ihre Einzigkeit; die Instruktoren und Inspektoren gaben sich alle Mühe bei der Förderung ihrer individuellen Fähigkeiten.

Doch Osira’h behielt der Designierte für sich.

»Du hast ein großes Potenzial. Es gibt andere telepathische Kandidaten auf Dobro, aber niemand von ihnen ist so gut wie du. Deshalb habe ich mein Leben der Aufgabe gewidmet, dich zu unterweisen und dir die Möglichkeit zu geben, deine Fähigkeiten voll zu entfalten.«

»Zum Ruhm des Weisen Imperators«, sagte Osira’h und wiederholte damit die Worte, die er ihr eingeschärft hatte, seit sie sprechen konnte.

»Zum Ruhm der ganzen ildiranischen Zivilisation«, betonte Udru’h.

»Ich verspreche, mein Bestes zu geben. Und wenn mein Bestes nicht genügt, werde ich mich noch mehr bemühen.« Sorge zeigte sich in Osira’hs Gesicht, wie immer, wenn sich Konsequenzen vor ihr auftürmten. Sie schürzte die Lippen, wodurch ihr Mund fast wie eine Blumenknospe aussah. »Aber manchmal fürchte ich mich vor den Hydrogern. Es sind Ungeheuer, richtige Ungeheuer.«

Der Dobro-Designierte blickte in die finstere Nacht. Das helle Licht im Zimmer verwandelte den Himmel in eine schwarze Wand. »Du musst ihnen gegenübertreten, Osira’h. Der Weise Imperator wird durch dich zu ihnen sprechen. Du bist die Brücke – unser bestes Instrument, um ein Bündnis mit ihnen zu schließen oder eine andere Vereinbarung mit ihnen zu treffen, die verhindert, dass wir alle dem Krieg zum Opfer fallen.«

Udru’h spürte tiefen Kummer, der Osira’h galt, vermischt mit väterlichem Stolz. Er unterdrückte diese Gefühle, bevor das Mädchen sie bemerken konnte. Er durfte dem Kind nicht zeigen, dass er schwach oder weich war. Er musste immer fest bleiben und nie zweifeln – weil Osira’h nie zweifeln durfte.

Sie war immer leicht zu beeinflussen, immer erpicht darauf, das zu tun, was er von ihr erwartete. Zwar hatte der Begriff »Eltern« für die Halbblut-Kinder gar keine Bedeutung, aber Udru’h war so etwas wie eine Vaterfigur für Osira’h. Sie verschwendete keine Gedanken an periphere Details, spielte einfach ihre Rolle.

Reichte die Zeit noch aus, das Reich zu retten?

Über Jahrtausende hinweg hatten einige wenige Ildiraner gewusst, dass die Hydroger vielleicht eines Tages zurückkehrten und Chaos brachten. Zahllose Generationen lang waren Weise Imperatoren bestrebt gewesen, Vorbereitungen für die eventuelle Rückkehr des großen, unverständlichen Feinds zu treffen. Sie hatten selektive Kreuzungen bestimmter Geschlechter gefördert und bei den Ergebnissen dieser subtilen Experimente nach nützlichen Mutationen Ausschau gehalten, den Keimen des Retters. Ihre Aufmerksamkeit galt insbesondere besseren telepathischen Fähigkeiten.

Nach der Entdeckung der Menschheit hatte der regierende Weise Imperator Yura’h eine aufregende, innovative Alternative gesehen, neue Ingredienzien für den genetischen Pool.

Als erste Untersuchungen der Burton-Überlebenden das bemerkenswerte Potenzial menschlicher Genetik zeigten, wurde das Zuchtprojekt von Dobro erweitert, mit dem Ziel, eine Gruppe von Halbblut-Telepathen zu schaffen. Zuerst war es ein Gemeinschaftsunternehmen von Captain Chrysta Logan und dem damaligen Dobro-Designierten gewesen, aber Gewalt und Tragödien während der frühen Jahre hatten dazu geführt, dass sich der Dobro-Designierte gegen die Menschen wandte und die Natur des ganzen Programms änderte. Seitdem waren Menschen Gefangene. Objekte. Zuchtmaterial.

Die Synergie von menschlicher und ildiranischer Genetik hatte einige entsetzliche Geschöpfe hervorgebracht, aber auch spektakuläre Erfolge erzielt, vor allem in der zweiten und dritten Generation: stärkere Soldaten, schnellere Schwimmer, kreativere Sänger und Geschichtenerzähler. Jene Mischlinge wurden so erzogen, dass sie dem Ildiranischen Reich treu ergeben waren und den Weisen Imperator für einen unfehlbaren Gott hielten.

Es war ein langfristiger Plan und diente zur Vorbereitung auf eine weitere Begegnung mit den Hydrogern. Vor zehntausend Jahren hatten die Hydroger beim Kampf gegen ihre Widersacher fast das gesamte Leben im Spiralarm ausgelöscht, die Klikiss-Zivilisation vernichtet und das Ildiranische Reich an den Rand des Abgrunds gebracht.

Nur wenige Ildiraner wussten um jene Ereignisse; die Saga der Sieben Sonnen erwähnte sie nicht. Menschliche Überheblichkeit hatte den titanischen Konflikt neu entfacht und die Fremden aus den Tiefen der Gasriesen wieder aktiv werden lassen – andernfalls wären die Hydroger vielleicht noch jahrhundertelang im Verborgenen geblieben. Jetzt zeigten sie sich wieder und bestimmt dauerte es nicht lange, bis andere Feinde erschienen.

Osira’h war keinen Moment zu früh geboren.

Der Designierte schloss die Hand um die schmale Schulter des Mädchens und es zuckte zusammen – er hatte zu fest zugedrückt. »Du bist noch so klein, Osira’h. Ich würde dich lieber nicht drängen.«

»Mach dir keine Sorgen um mich.« Osira’h sah zu Udru’h auf und in ihrem Gesicht zeigte sich absolutes Vertrauen. Sie glaubte an ihre Mission, an sein Wohlwollen und ihre eigene Loyalität dem Weisen Imperator gegenüber. »Ich werde meine Pflicht erfüllen. Wie es meine Gene von mir verlangen. Zum Ruhme der ildiranischen Zivilisation.«

»Oh, wie könnten die Hydroger dir widerstehen?« Das Mädchen lächelte strahlend, und der Designierte wusste: Es würde der fähigste Telepath sein, der je auf den Welten des Ildiranischen Reiches gewandelt war. »Du wirst uns alle retten, Kind.«

Er umarmte Osira’h und sie nickte ernst. »Ja, das werde ich.«