73 DAVLIN LOTZE

Der versteckte Backup-Datenwafer erwies sich als eine Quelle erstaunlicher Informationen. Margaret Colicos hatte ihre Entdeckungen mit detaillierten Übersetzungen zahlreicher Klikiss-Hieroglyphen aufgezeichnet.

Als Rlinda Kett ihm über die Schulter sah, drehte Davlin die Beleuchtung in seiner Kabine an Bord der Neugier auf. »Sie hat nicht nur die Gleichungen entziffert, sondern auch einen großen Teil der historischen Aufzeichnungen an den Wänden.« Er scrollte durch eine weitere Datei. Das Display zeigte ihm Diagramme, Übersetzungen, Theorien und Fragen. »Die beiden Archäologen entdeckten noch funktionierende Klikiss-Technik – das Steinfenster in jenem Raum. Louis fand heraus, wie man es in Betrieb nimmt.« Er sah aufgeregt zu Rlinda auf. »Morgen statten wir den Ruinen einen weiteren Besuch ab und untersuchen das Trapezoid.«

»He, Sie sind hier der Spezialist für verborgene Details.« Rlinda hatte eine Flasche Wein aus dem Frachtraum ihres Schiffes geholt, schenkte sich ein Glas ein und seufzte genießerisch, um Lotze auf den köstlichen Geschmack hinzuweisen. Aber Davlin war weder an Wein noch an gutem Essen interessiert, nur an seiner Arbeit.

Basil Wenzeslas hatte den richtigen Mann nach Rheindic Co geschickt.

Er scrollte zum Ende der Datei. »Margaret hat all diese Informationen mit der Absicht zusammengestellt, sie mit dem nächsten routinemäßigen Bericht per Telkontakt zu übermitteln. Doch der grüne Priester kam ums Leben, bevor er die Daten übertragen konnte.«

»Glauben Sie, jemand hat ihn ermordet, um die Weitergabe der Informationen zu verhindern?«

»In Margarets Bericht gibt es keinen Hinweis darauf, dass sie um ihr Leben fürchtete oder irgendeinen Verdacht hegte. Wer auch immer Louis Colicos und den grünen Priester umgebracht hat – er muss unerwartet aktiv geworden sein. Die Klikiss-Roboter und der Kompi sind fort, ebenso Margaret. Wandten sich die Roboter gegen sie? Ließ irgendeine Entdeckung Margaret zum Berserker werden? Vielleicht war die Bedrohung externer Natur, zum Beispiel ein ildiranisches Killerkommando, jemand, der verhindern wollte, dass die Hanse von den hiesigen Entdeckungen erfährt. Derzeit ziehe ich alle Möglichkeiten in Betracht.«

Rlinda trank noch einen Schluck Wein, strich die Zugangsplane des Zelts beiseite und blickte in die klare Wüstennacht hinaus. »Inzwischen sind wir auf dem besten Wege, uns jene Informationen anzueignen. Glauben Sie, dass auch wir in Gefahr sein könnten?«

Davlin begegnete dem Blick ihrer großen braunen Augen. »Das ist durchaus möglich.«

Als der Morgen dämmerte, führte Davlin die noch vom Schlaf benommene Rlinda zu den Höhlenruinen. Sie betraten die Geisterstadt, die sie bereits erforscht hatten. Aufgrund der Informationen aus Margarets Datenwafer sah Davlin alles nun mit anderen Augen und vielleicht war er endlich imstande, Antworten zu finden.

Lotze ging geradewegs zu dem Raum mit dem leeren Trapezoid. Er betrachtete den von Louis stammenden blutigen Handabdruck am flachen Stein, richtete den Blick dann auf die komplexen Symboltafeln, die den nicht markierten Bereich umgaben. In einem nahen Alkoven fand er sonderbar geometrische Maschinenblöcke, teilweise auseinander genommen und geöffnet.

Auf einem mobilen Display ließ er sich einige von Margaret Colicos aufgezeichnete Notizen anzeigen, zu denen auch die unvollständigen Spekulationen ihres Mannes gehörten. Davlin stellte sich vor, wie sie Louis aufgefordert hatte, einen eigenen Bericht zu schreiben, aber vermutlich war er viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, an den Klikiss-Maschinen herumzubasteln und herauszufinden, wie sie funktionierten.

»Wissen Sie jetzt, was es damit auf sich hat?«, fragte Rlinda. »Oder sind diese Details selbst für Sie zu geheimnisvoll?«

»Louis hat dies für ein Transportsystem gehalten, für ein ›Transportal‹, mit dem sich große Entfernungen von einem Augenblick zum anderen überwinden lassen, ohne zeitliche Verzögerung. Die Gleichungen in Margarets Aufzeichnungen zeigen, dass die Klikiss-Maschinen eine Art Tor in die Struktur der Raum-Zeit stanzen und eine Abkürzung schaffen, indem sie die Entfernungsvariable auf null setzen.«

»Klingt unmöglich. Aber das gilt auch für den ildiranischen Sternenantrieb – und für die Existenz intelligenter Wesen in den Hochdrucktiefen von Gasriesen.«

Davlin sah auf den Rahmen aus Symbolen, der das trapezförmige Steinfenster umgab. Es waren viele hundert Kacheln, jede mit einer individuellen Markierung – vielleicht ein Zielcode? Während des Flugs nach Rheindic Co hatte Davlin Berichte über archäologische Fundstellen von Klikiss-Ruinen gelesen. Solche sonderbaren Steinfenster hatte man in fast allen verlassenen Städten der Klikiss entdeckt, aber viele Koordinatenkacheln waren beschädigt, von der Zeit oder der Hand eines Saboteurs. In diesem Fall schienen sie alle intakt zu sein.

Und wenn der Colicos-Bericht stimmte, befand sich auch die zehntausend Jahre alte Klikiss-Maschinerie in einem funktionsfähigen Zustand. Es war den beiden Archäologen gelungen, sie zu reaktivieren. Allein das – eine Energiequelle, die nach so langer Zeit noch funktionierte – würde für die Industrie der Hanse ein Segen sein. Aber Davlin glaubte, dass es erst der Anfang der Wunder war, die hier auf Entdeckung warteten.

Er sah, dass Louis eine neue Generatorzelle mit dem Mechanismus verbunden hatte. Sie hatte sich schon vor einer ganzen Weile auf Standby geschaltet und Davlin ließ sie in den aktiven Modus zurückkehren. »Jemand hat die ganze Arbeit für uns erledigt. Wir können die Anlage in Betrieb nehmen…« Die Energiezelle summte und die Klikiss-Maschinen brummten leise.

»Geben Sie gut Acht, Davlin. Sie könnten irgendetwas beschädigen.«

»Oder aktivieren.« Lotze sah zur Steinwand, um festzustellen, ob sich irgendetwas verändert hatte. Jähe Aufregung erfasste ihn, als er einen deutlichen Unterschied bemerkte. »Sehen Sie! Der Handabdruck ist weg.«

Das Steinfenster schimmerte matt und zeigte nach wie vor graubraune Leere, aber der rostrote Blutfleck war verschwunden.

Rlinda riss überrascht die Augen auf. »Wenn dies ein Transportsystem ist, ein Netzwerk, das es gestattet, ohne einen Sternenantrieb von Planet zu Planet zu reisen… Denken Sie an die Konsequenzen! Dann wäre ich mit meiner Unersättlichen Neugier aus dem Geschäft.«

Davlin fügte diesem Hinweis eine weitere Überlegung hinzu. »Eine solche Entdeckung wäre Motiv genug für einen Mord, wenn jemand verhindern möchte, dass die Hanse ein derartiges Transportsystem verwendet. Zum Beispiel Roamer, die auch weiterhin Ekti verkaufen möchten.« Er kniff die Augen zusammen. »Aber wer wusste davon? Margarets Bericht wurde nie übermittelt. Wie konnte jemand herausfinden, was die beiden Archäologen hier entdeckt haben?«

»Die Klikiss-Roboter waren hier«, sagte Rlinda und sah sich nervös um. »Vielleicht beschlossen sie, das Geheimnis ihrer Schöpfer zu hüten.«

»Das ergibt ebenso viel oder so wenig Sinn wie alles andere«, erwiderte Davlin. »Ich bin froh, dass wir im Gegensatz zum Colicos-Team keine robotischen ›Helfer‹ haben.«

Er trat vor und berührte eine der Koordinatenkacheln. Das Brummen wurde lauter. Das steinerne Fenster schimmerte deutlicher, und das Licht der Lampen, die Rlinda in dem Raum aufgehängt hatte, trübte sich. Dann erschien ein Bild auf dem bis dahin leeren Trapezoid, das daraufhin tatsächlich wie ein Fenster wirkte.

»Unglaublich«, sagte Davlin. »Vielleicht ist Margaret… hindurchgegangen.«

Rlinda stemmte die Hände in die Hüften. »Sollte ich darauf hinweisen, dass Sie nicht wissen, was Sie da machen? Oder würde Sie das nur in Ihrer Entschlossenheit bestärken, dieser Sache auf den Grund zu gehen?«

Davlin achtete nicht auf sie und näherte sich der Wand. Er war immer bereit gewesen, Risiken einzugehen; nur dadurch konnte er seiner Rolle als Spion gerecht werden und Informationen über exotische Dinge gewinnen.

»Ich frage mich, wie…«, murmelte er, streckte einen Finger aus und spürte ein sonderbares Prickeln. Als er das Bild berührte, fühlte er ein jähes Zerren in der Brust und sein Selbst wirbelte umher, als hätte es sich vom Kopf gelöst und rotierte mit hoher Geschwindigkeit an einer Spindel.

Davlin taumelte und sank vor einer halb umgestürzten Mauer in weichen Sand. Die Temperatur war um mindestens dreißig Grad gesunken und der Himmel – der offene Himmel – glühte magentarot und lavendelblau. Wolkenfetzen trieben dahin. Klikiss-Ruinen erhoben sich um ihn herum, wie klumpige Termitenhügel auf einer grasigen Ebene. Hier und dort ragten Felsen abgenutzten Zähnen gleich aus dem Boden.

Lotze schnappte nach Luft und kam wieder auf die Beine. Hinter ihm erstreckte sich eine trapezförmige Transportwand, die genauso aussah wie jene in den Höhlenruinen auf Rheindic Co. Er sah noch Rlinda Ketts verblüffte Miene in einem Schimmern, das Davlin ans Flirren einer Luftspiegelung erinnerte – sie schien unendlich weit von ihm entfernt zu sein. Hatte er einen Transfer hinter sich?

Dann verschwamm das Bild und verschwand und Davlin sah wieder auf eine massive Steinwand, eine geschlossene Tür.

»Unglaublich«, sagte er noch einmal und hielt seine Furcht im Zaum. Durch eine solche Reaktion durfte er sich nicht davon ablenken lassen, die jüngsten Ereignisse sorgfältig zu analysieren.

Er sah sich auf einer fremden Welt um, die völlig still und leer war. Nirgends deutete irgendetwas auf die Präsenz von Menschen hin. Davlin Lotze hatte nicht die geringste Ahnung, wo er sich befand.

Das Transportal hinter ihm war geschlossen, was bedeutete: Er konnte nicht zurückkehren.