42 ERSTDESIGNIERTER JORA’H
Der Rettungsshuttle der Solaren Marine sank vom brennenden Himmel herab und näherte sich dem Zitadellenpalast von Hyrillka. Er erreichte ihn, als das zweite Kugelschiff angriff.
Es setzte eine Waffe ein, die die Ildiraner bisher noch nicht kennen gelernt hatten: verheerende Kältewellen, sichtbar in Form von weißem Dunst, der alles gefrieren ließ, was er berührte. Die Kälte strich über Pflanzen und ließ dicke Reben bersten. Hyrillkas prächtiges, üppiges Grün erstarrte in Eis, zerbrach und starb.
Und die beiden Kugelschiffe setzten ihre Angriffe fort.
Jora’h griff nach dem dünnen Arm seines Sohnes, eilte mit ihm über den Hof und wich den Explosionen im Zitadellenpalast aus. Immer wieder gleißten Energiestrahlen vom Himmel, während die vier Kriegsschiffe der Solaren Marine ihr ganzes offensives Potenzial gegen die Hydroger einsetzten.
»Was sollen wir tun?«, heulte Thor’h. »Warum hören die Fremden nicht auf zu schießen?«
Jora’h hatte keine Antworten für ihn.
Entsetzte Höflinge und Künstler eilten in den Banketträumen hin und her. Die drei Priester des Linsen-Geschlechts führten die Ildiraner nach draußen, damit sie nicht unter den Trümmern einstürzender Gebäude begraben wurden. Doch andere Männer und Frauen suchten genau dort Schutz. Kein Ort schien sicher zu sein. Die Hydroger hatten es nicht auf ein bestimmtes Ziel abgesehen. Ihre Zerstörungswut galt nicht nur der ildiranischen Stadt, sondern auch der Vegetation der unbewohnten Gebiete.
»Hilfe!«, rief Thor’h, als ob ihn die Zitadelle selbst hören konnte. Er lief zu einem bunten Fenster und sein Vater riss ihn gerade noch rechtzeitig zurück – einen Moment später splitterten die Scheiben. Die Druckwelle einer Explosion schleuderte Glassplitter wie Geschosse durch den Raum. Jora’h zog seinen Sohn nach unten, während um sie herum scharfkantige Fragmente niedergingen. Thor’h tastete nach den vielen kleinen Schnittwunden im Gesicht und an den Armen, stellte fest, dass seine Prachtkleidung zerrissen war. »Wir müssen… meinen Onkel… finden«, stammelte er fassungslos. »Er w-weiß bestimmt, was wir tun müssen. Er wird uns alle retten.«
»Nein, das wird er nicht«, erwiderte Jora’h. »Er kann es nicht. Adar Kori’nh wird uns evakuieren.« Und er muss all diese Leute zurücklassen…so viele…
Am von Rauchwolken verhangenen Himmel wandten sich die ildiranischen Kriegsschiffe – jedes von ihnen beschädigt – erneut den Hydrogern zu, ohne eine Chance gegen sie zu haben. Die beiden Kugelraumer setzten ihren Flug ungerührt fort, schickten dem Planeten Tod und Verderben. Energiestrahlen fauchten, Explosionen krachten.
»Ich muss dich schützen, Thor’h. Du bist der nächste Erstdesignierte. Und ich werde bald zum… Weisen Imperator.« Jora’h wusste, dass sein Vater den Angriff auf Hyrillka durch das Thism mitverfolgte. Schock und Schmerz mochten Cyroc’hs Zustand sogar noch verschlimmern, ihm schneller den Tod bringen. »Wir müssen das Kampfgebiet irgendwie verlassen.«
Die vielen Rauchwolken verdunkelten den Himmel und in der Zitadelle leuchteten tausende von Lampen auf, schufen einen künstlichen Tag.
Jora’h fand seinen Bruder Rusa’h auf dem offenen Platz, unter den rankenbewachsenen Bögen. Der pausbäckige Hyrillka-Designierte hob die Arme und winkte. »Wir dürfen nicht in Panik geraten! Bitte bringen Sie sich in Sicherheit.«
»Wo?«, rief eine Tänzerin. »Wo sind wir sicher?«
Rusa’h schob seine Darsteller fort vom Feuer und den Explosionen. Seine Vergnügungsgefährtinnen suchten bei ihm Schutz, ihre lieblichen Gesichter voller Tränen, Ruß und Blut. »Eilt zu den Blubberbecken«, sagte er, obwohl er selbst Mitleid erweckend hilflos wirkte. »Dort gibt es Schutz. Hoffe ich.« Die Frauen liefen los und vertrauten seinem Rat, aber Rusa’h schien nicht so sicher zu sein.
Beide Kugelschiffe glitten über die Landschaft. Eins feuerte mit blauen Energieblitzen auf die fruchtbaren Nialia-Felder, das andere setzte Kältewellen ein. Kurz darauf änderte die zweite Kugel den Kurs und beschrieb einen Bogen, ohne auf das Feuer der ildiranischen Kriegsschiffe zu achten. Jora’h sah, dass der nächste Angriff die Regierungszitadelle treffen würde. »Alle runter vom Hügel! Den Hügel verlassen!«
Der Hyrillka-Designierte sah seinen Bruder verwirrt an, dann zeigte sich Erleichterung in seinem Gesicht. »Ja! Befolgt die Anweisung des Erstdesignierten!« Die Ildiraner liefen los. Einige Nachzügler kamen aus den Innenräumen des Zitadellenpalastes.
Schließlich landete Adar Kori’nhs Rettungsshuttle auf dem Hof – Energiestrahlen der Hydroger hatten Brandspuren an seinem Rumpf hinterlassen. Viele Hyrillkaner liefen dem kleinen Raumschiff entgegen, aber muskulöse Krieger traten aus den Luken, ihre Rüstungen mit Stacheln besetzt, die Augen wachsam. »Wir sind nur wegen der Designierten gekommen. Bleiben Sie zurück! Unsere Befehle stammen von Adar Kori’nh.«
Thor’h griff nach dem Arm seines Onkels. »Ja, bringt uns fort von hier.«
Jora’h wandte sich an einen der Krieger aus dem Shuttle. »Wie viele Personen könnten an Bord Platz finden?«
»Sie, Erstdesignierter, Ihr Sohn und Ihr Bruder.«
»Wie viele andere?«, beharrte er.
»Unsere Priorität besteht darin, Sie zu einem sicheren Ort zu bringen. Vielleicht auch noch einige Kinder Ihres Bruders. Das ist alles.«
»Ich gebe hier die Befehle. Ich bin der Erstdesignierte.« Jora’h wartete auf eine Antwort.
»Die maximale Beförderungskapazität des Shuttles lässt achtundvierzig weitere Passagiere zu«, sagte der Krieger schließlich.
»Gut. Beginnen Sie damit, Personen an Bord zu nehmen.«
Mit einem Ruck löste der Hyrillka-Designierte seinen Arm aus Thor’hs Griff. »Nein! Meine Gefährtinnen sind noch im Zitadellenpalast. Ich habe sie zu den Blubberbecken geschickt. Wir müssen sie retten. Sie… sie sind sehr wichtig für mich.«
»Keine Zeit«, erwiderte Jora’h. Ein Kugelschiff näherte sich und blaue Blitze rissen den Hang des Hügels dort auf, wo Flüchtlinge liefen und versuchten, die offenen Straßen zu erreichen.
»Wir dürfen sie nicht einfach sich selbst überlassen. Einige von ihnen tragen meine Kinder.« Im Gesicht des Hyrillka-Designierten zeigte sich etwas, das gar nicht zu ihm zu passen schien: entschlossene Tapferkeit. Er drehte sich um und kehrte in den Palast zurück, kletterte über Trümmer hinweg. »Sie vertrauen darauf, dass ich sie beschütze. Ich werde sie retten.«
Jora’h staunte über seinen hedonistischen und weichherzigen Bruder, den er immer für verwöhnt und feige gehalten hatte – jetzt zeigte sich der Hyrillka-Designierte von einer ganz neuen Seite. Dann dachte Jora’h an seine eigenen Partnerinnen, insbesondere an Nira Khali. Ja, für Nira wäre er das gleiche Risiko eingegangen wie Rusa’h.
Mit seltsam scharfer, befehlender Stimme rief der junge Thor’h den Kriegern zu: »Haltet meinen Onkel auf, bevor er verletzt wird! Ihr seid verpflichtet, den Hyrillka-Designierten zu retten. Er ist der Sohn des Weisen Imperators.«
Zwei Ildiraner aus dem Krieger-Geschlecht reagierten sofort, liefen los und folgten Rusa’h in den Palast. Eine große Menge aus Hyrillkanern drängte dem Shuttle entgegen.
Unterdessen setzten die Hydroger ihre Angriffe fort. Das zweite Kugelschiff schickte blaue Blitze in den Gebäudekomplex des Palastes. Explosionen rissen Torbögen und Wände auf. Hängende Gärten fingen Feuer. Rauch stieg empor.
Vier Strahlen bohrten sich ins Herz des Zitadellenpalastes, das Ziel des Designierten Rusa’h. Ein ganzer Flügel der großen Anlage wurde zerstört. Wände stürzten ein und dichter schwarzer Qualm kroch über die Dächer.
»Nein, Onkel!« Thor’h kehrte der Sicherheit des Rettungsshuttles den Rücken und lief zum zerstörten Bereich des Palastes. »Der Designierte ist dort drin gefangen! Wir müssen ihn da herausholen!« Jora’h und drei Krieger folgten ihm.
Die beiden Kugelschiffe flogen über das Palastgelände hinweg, noch immer bedrängt von Kori’nhs Schiffen. Weiße Kältewellen berührten acht kleine Angriffsjäger und rissen sie vom Himmel, wie vom Wind fortgewehte Getreidekörner.
Die muskulösen Krieger schoben Trümmer beiseite und bahnten einen Weg durch die Flure, bis sie schließlich den Raum mit den Blubberbecken erreichten. Wände und kuppelförmige Decken hatten sich in ein Durcheinander aus Fliesenscherben und durchsichtigen Blöcken verwandelt.
»Der Designierte erreichte diesen Raum kurz vor der Explosion«, sagte ein Krieger. »Er muss unter den Trümmern liegen.«
»Er ist tot«, stöhnte Thor’h.
Mit Klauenhänden und kräftigen Armen räumten die Krieger Trümmer, stützende Stangen und Träger beiseite. Säulen waren umgestürzt. Der Hyrillka-Designierte saß unter ihnen fest, aber sie hatten ihn auch vor den herabfallenden Deckenelementen geschützt.
Sie fanden eine blasse Hand und einen bunten, blutverschmierten Stofffetzen. Vier Vergnügungsgefährtinnen hatten auf der anderen Seite des Schuttbergs überlebt, waren verletzt und völlig durchnässt. Einige hatten sich im Becken befunden, als es zu der Explosion gekommen war. Herabstürzende Trümmer hatten zwei von ihnen bewusstlos geschlagen und dadurch waren sie ertrunken.
Feuer breiteten sich im zerstörten Palast aus, und nicht überall konnte der Rauch durch Öffnungen in Decken abziehen. Jora’h trat vor, um den Kriegern zu helfen, obgleich er nicht annähernd so stark war wie sie.
Schreie kamen von draußen, das Donnern weiterer Explosionen und das Fauchen von Energiestrahlen. Doch Jora’h konzentrierte sich darauf, seinen Bruder unter den Trümmern hervorzuholen. Er versuchte, ihn durchs Thism zu fühlen, aber das Schimmern des Lichts und der verbindenden Seelenfäden war schwach und dunkel geworden.
Zwei Krieger hoben eine schwere Steinsäule an und stießen sie beiseite – mit lautem Krachen fiel sie neben dem Schutt auf den Boden. Schließlich kaum Rusa’hs rundliches Gesicht zum Vorschein. Die Wangen waren blutig, die Augen zugeschwollen, das Gesicht eine Fratze des Schmerzes. Seine Haut war gerötet, und es ließ sich ein wenn auch schwacher Puls feststellen.
»Der Designierte lebt!«, sagte ein Krieger.
»Bringt ihn nach draußen.« Mit Händen, die überhaupt nicht an Arbeit gewöhnt waren, kratzte Thor’h im Schutt, bis sie den dritten Sohn des Weisen Imperators völlig freigelegt hatten. Er blieb an der Seite seines Onkels, als die Krieger den Designierten vorsichtig hochhoben. »Schnell. Wir müssen zum Shuttle. Adar Kori’nh wartet auf uns.«
Sie trugen den Designierten Rusa’h, aus dessen Wunden Blut tropfte. Zusammen mit Jora’h eilten die Krieger erneut durch die Flure, gefolgt von den vier überlebenden Vergnügungsgefährtinnen. Der Hyrillka-Designierte hatte schwere Verletzungen erlitten, aber er lebte.
Als sie an Bord des Shuttles waren, zusammen mit Dutzenden von anderen Flüchtlingen, verlor der Pilot keine Zeit. Mit heulendem Triebwerk hob das überladene kleine Raumschiff ab und ließ den brennenden Zitadellenpalast hinter sich zurück. Eines der ildiranischen Kriegsschiffe wandte sich von den Hydrogern ab und nahm den Shuttle an Bord.
Der Adar begrüßte die Evakuierten im Hangar, obwohl er wusste, dass er den Kommando-Nukleus während eines Kampfes eigentlich nicht verlassen sollte. Es erleichterte ihn, Jora’h und seinen Sohn Thor’h zu sehen, doch er reagierte mit Kummer auf den Anblick des schwer verletzten Hyrillka-Designierten.
Ildiraner des Mediziner-Geschlechts eilten herbei, untersuchten Rusa’h und behandelten die Verletzungen der übrigen Flüchtlinge. Thor’h blieb die ganze Zeit über an der Seite seines blutenden, bewusstlosen Onkels. Rusa’h klammerte sich am Leben fest, obgleich er reglos blieb und nicht ein einziges Mal stöhnte.
Adar Kori’nh übermittelte seiner Crew Anweisungen. »Rückzug! Alle Angriffsjäger sollen dieses Schiff flankieren und abschirmen. Wir müssen den Erstdesignierten und seinen Sohn schützen.
Ich… sehe keine Möglichkeit, die übrigen Bewohner des Planeten zu retten.«
Das Flaggschiff entfernte sich von den Kugelschiffen, die ihr Zerstörungswerk auf Hyrillka fortsetzten. Doch plötzlich, ohne erkennbaren Grund, brachen die Hydroger ihre Angriffe ab. Sie schenkten der Solaren Marine keine Beachtung, als sie aufstiegen und dabei nicht den Eindruck erweckten, es eilig zu haben.
Jora’h beobachtete sie vom Kommando-Nukleus des Flaggschiffs aus. »Warum?«, fragte er. »Warum richten sie ein solches Chaos an und fliegen dann einfach fort?«
Kori’nh stand wie ein versteinerter Baum da und bemühte sich, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Vielleicht haben sie nicht gefunden, wonach sie suchten.«
Ohne ein Wort der Erklärung oder des Triumphes verließen die Kugelschiffe der Hydroger Hyrillka und verschwanden im All. Zurück blieb eine einst friedliche Welt, die jetzt in Schutt und Asche lag.