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Die Idee ist brillant. So brillant, dass ich nicht schlafen kann. Meine Beine zucken, mein Rücken puckert, und meine Augen brennen, aber ich wandere in dunkler, sternenloser Nacht übers Deck. Das ist die Lösung. Keine Schläuche und Maschinen, keine diensteifrigen Ärzte, die »Zurückbleiben!« bellen, oder Schwestern, die »Nur für Familie!« zischen. Kein Theater von Mom, keine durchdringenden Blicke von Dad, als hätte er Angst zu vergessen, wie ich aussehe, kein zum Häuflein Elend zusammengesunkener Nick auf einem Krankenhausstuhl, wo er doch noch nie zuvor in seinem Leben still gesessen hat, kein Armtätscheln in letzter Minute von Joe und auch nicht Merediths stumme Tränen. Letzten Endes wären es nur Holden und ich in New York City, auf der Suche nach was auch immer, am Leben hängend, wie beim ersten Mal im Riesenrad, wenn du entdeckst, wie groß die Welt in Wahrheit ist.

Nachdem ich ein paar Sachen in Dads kleinem Rollkoffer verstaut habe, schließe ich die Kabinentür von innen ab und hole einen alten Notizblock aus der Schreibtischschublade. Jeder weiß, dass du, wenn du stirbst, ein Testament machen solltest. Nicht, dass ich das recherchiert hätte, aber es ist bestimmt egal, was für Papier ich benutze, solange es nur offiziell genug klingt. Sinn der Sache ist, alle losen Enden zu verknüpfen. Die Leute sollen wissen, dass du bereit warst. Das muss sie trösten.

In Filmen lesen sie das Testament immer der ganzen versammelten Familie vor. Die Vorstellung gefällt mir. Sehr sogar. Selbst wenn das Testament am Ende nicht gültig sein sollte – was kümmert’s mich? Ich bin dann sowieso nicht mehr da, aber Nick und Joe und meine Eltern und Meredith und Mack werden wissen, dass ich an sie gedacht hab.

Um ehrlich zu sein, krieg ich schon bei der bloßen Vorstellung das Kotzen, dass Meredith in irgendeinem muffigen Anwaltsbüro sitzt und einen arschgesichtigen Anwalt wie Henry Walker meine letzten Worte lesen hört. Fast schreibe ich das Ganze gar nicht. Aber dann hör ich immerzu Holden im Kopf: Du kannst nicht gehen, ohne was zu sagen, ohne Erklärung. Sie werden sich schuldig fühlen, und das willst du nicht.

Zuerst schreibe ich diesen Gesetzesquatsch wie in den Filmen, danach das Datum und meinen Namen, das Ganze in Druckbuchstaben, sodass es keine Missverständnisse gibt. Dies ist mein letzter Wille und Testament. Ich beginne mit Joe. Bei ihm ist es am leichtesten. Er war den Großteil der Zeit nicht da, als ich immer kränker wurde. Er wird mich nicht so sehr vermissen. Ich bin wie ein Fingerabdruck am Rand seiner Brillengläser. Die meiste Zeit wird er durch die Erinnerung an mich hindurchsehen und mich nur hin und wieder vage und zerstreut bemerken, wie wenn man seine Brille putzt. Die Erinnerung an mich wird weder seine Karriere noch sein Privatleben beeinträchtigen.

Um Joe mache ich mir keine Sorgen. Später, wenn er verheiratet ist und einen Haufen Kinder hat, wird er ihnen vielleicht Geschichten über seinen Bruder Daniel erzählen. Abends vorm Schlafengehen oder auf langen Autofahrten. Es ist nicht so, dass er mich nicht liebt. Er hat einfach nur viele andere Dinge im Kopf. Absolut verständlich. Ich hinterlasse ihm mein Zweimannzelt. Damit kann er ein Mädchen an einen abgelegenen Ort mitnehmen und schöne Erinnerungen schaffen.

Mit Nick ist es schon schwerer. Alles in unserer Kabine. Mein Fahrrad. Mein Ruderboot, schreibe ich neben seinen Namen. Vielleicht reicht die Liste allein nicht aus. Vielleicht besteht das Gesetz auf irgendeine Anweisung, wegen der Klarheit und so. Also male ich zwischen die Liste und seinen Namen eine Art Sprechblase und einen Pfeil. In die Sprechblase schreibe ich Soll Nebenstehendes ohne jegliche Bedingungen oder Zahlungen erhalten. Soweit ich weiß, müssen die Leute dem Anwalt oder dem Gericht was bezahlen, um ihre Sachen zu kriegen. Obwohl es jetzt zu spät ist, das herauszufinden, bin ich mir verdammt sicher, dass Henry Walker meiner Familie meinetwegen nicht noch mehr Geld abknüpfen wird.

Ich kann fast hören, wie Mack lacht – oder es zu unterdrücken versucht, um meine Eltern nicht zu kränken –, wenn er hört, dass ich ihm meinen Angelkoffer hinterlasse. Er wird den Witz auf jeden Fall verstehen. Ich ziehe den Koffer unter dem ewigen Stapel von Nicks Fußballsachen unten im Schrank hervor und stelle ihn neben den Rollkoffer. Unser Angelabend mit den Zwillingen kommt mir ewig lang her vor. Ich werde den Angelkoffer vor die Kabine stellen müssen, falls sie das mit dem Kabineninhalt für Nick wörtlich nehmen. Wenn er mit in der Kabine steht, wäre das ein Streitpunkt, und dann geben sie Mack das Ding vielleicht nicht. Was ich vor allem will, mehr noch, als dass Mack meine Angelsachen benutzt, damit sie nicht verrosten, ist, dass es keinen Streit mehr gibt.

Meine Eltern werden nichts von meinen Sachen haben wollen. Schlimm genug, dass sie meine Kleidung und meine Fotos sortieren und die leere Koje sehen müssen und immer daran erinnert werden! Wenn ich das besser geplant hätte, hätte ich mich von Meredith noch zum Secondhandladen fahren lassen, um das meiste wegzugeben. Aber vor heute Morgen hatte ich noch keine Ahnung, dass ich diese Reise heute in Angriff nehme.

Ich schreibe Meredith eine extra Nachricht und stecke sie in einen Umschlag mit ihrem Namen. Dann male ich noch ein Smiley-Gesicht auf einen Strichmännchenkörper, der von einer Brücke springt. Das ist zwar ein bisschen albern, aber ich will, dass sie was zu lachen hat. Ich sage euch nicht, was ich ihr geschrieben hab. Das ist privat. Aber Holden wäre stolz auf mich. Ich bin nicht kitschig geworden, sondern habe nur die Highlights erwähnt und ihr ein schönes Leben gewünscht. In Liebe, Daniel, steht darunter. Sie weiß das bereits, aber es bedeutet mir etwas, dass sie das in Händen hält, mit den Fingern am selben Papier wie meine. Ich hoffe, dass es ihr auch etwas bedeutet.

Du kannst kein Testament schreiben und deine Mutter und deinen Vater übergehen. Vor allem nicht, wenn du außer der Reihe stirbst und sie dich begraben müssen, ihr eigenes Kind. Also schreibe ich den Namen meines Vaters. Es fühlt sich komisch an, Stieg Corneill Landon zu schreiben anstatt Dad. Ich gebe ihm das Taschenmesser zurück, das er mir zum zwölften Geburtstag geschenkt hat, und das Buch mit den Gedichten von Robert Frost, weil er ständig daraus zitiert. Er wird die Anspielung verstehen. Ich schiebe mein Zeugnis in das Buch und lege alles auf mein Kopfkissen, damit er es findet. All die Streitereien für nichts und wieder nichts. Hätte ich den blöden Ärzten doch nur von Anfang an geglaubt, dann hätte ich vielleicht nicht so viel Zeit und Energie verschwendet. Trotzdem weiß ich jetzt Dinge über meinen Vater, die ich ohne unsere Diskussionen nie erfahren hätte.

Jetzt bleibt nur noch Mom. Sie war als Erste da, und sie ist auch das Ende, auch wenn sie körperlich nicht anwesend sein wird. Ich lasse meinen Blick über die Regale schweifen und zieh die Schubladen weit auf, um das Richtige für sie zu finden. Sie soll wissen, wie wichtig sie mir ist. Wegen all der Zeit davor. Und auch wegen dieser Monate. Ich will, dass sie mir all die idiotischen Dinge verzeiht, die ich getan habe: schlechte Tischmanieren, dass ich in der dritten Klasse den Buchstabierwettbewerb nicht gewonnen hab, nachdem sie das ganze Wochenende mit mir geübt hatte, dass ich mich geweigert habe, zu Grandmas Beerdigung eine Krawatte zu tragen, dass ich Walker schlecht gemacht hab, dass ich sie zum Weinen gebracht habe. Vor allem muss sie mir verzeihen, dass ich nach Mexiko nicht gesund geworden bin.

Als ich mich so stark an alles erinnere, breche ich total zusammen und muss aufstehen und ein paar gottverdammte Taschentücher suchen. Man sollte meinen, dass die Tränendrüsen irgendwann austrocknen, wenn man sie so viel benutzt. Gott verhüte, dass Mack rauskriegt, was für ein Weichei ich geworden bin. Da wird selbst er denken, dass es Zeit ist, einen neuen besten Freund zu finden. Als ich wieder klar sehen kann, entdecke ich einen Becher von einem Ausflug in der siebten Klasse zum Aquarium von Virginia Beach, mit meiner lebenslangen Sammlung an Kugelschreibern darin. Ich sehe sie durch, höre aber abrupt auf, als mir der eine in die Finger kommt, den ich aus der Arztpraxis in Richmond geklaut hab, als sie das erste Mal von Chemo sprachen. Mom will bestimmt keinen Kugelschreiber von ihrem toten Sohn.

Mein Spanischbuch als Erinnerung an Mexiko? Oder die Ausgabe vom Fänger im Roggen, die Joe mir zu Weihnachten aus dem Secondhand-Buchladen geschenkt hat? Vielleicht versteht sie dann, warum ich wegwollte. Wenn sie die Stelle liest, wo Holden vom Erwachsenwerden spricht.

Ganz hinten in der untersten Schublade, hinter den alten Laborberichten, dem zerknitterten Dinosaurier-Diorama und der Bibel, die Nick aus irgendeinem Hotelzimmer mitgenommen und es dann nicht zugegeben hat, fühle ich etwas Kleines in knisterndem Papier. Ich ziehe es raus. Es ist ein Glückskeks, und ich weiß nicht, von wann oder wo, weil Mom und Dad schon seit Jahren Glutamat verschmähen. Ich werfe ihn eine Weile von einer Hand in die andere und überlege, ob ich ihn öffnen oder ihr ungeöffnet hinterlassen soll in der Hoffnung, dass etwas für sie Inspirierendes drinsteht. Ich hatte schon mal WAS DICH NICHT UMBRINGT, MACHT DICH STÄRKER und LIEBE HEILT ALLE WUNDEN und BEHARRLICHKEIT FÜHRT ZUM ZIEL. Davon würde jetzt nichts passen.

Wahr ist leider, dass es kein einziges Ding in meinem Zimmer gibt, in Essex County, in meinen sechzehneinhalb Lebensjahren, das bedeutsam genug für Mom ist. Ich werde ihr von New York aus schreiben. Vielleicht ist das, was ich sagen muss, aus der Entfernung einfacher. Ich drücke die Schubladen wieder zu und unterschreibe das Testament besonders schwungvoll, damit sie nicht mitkriegen, wie schwach und dumm ich mich plötzlich fühle. Das ist der Grund, weshalb Holden wegwill, bevor seine Eltern nach Hause kommen. Wie kannst du von Angesicht zu Angesicht mit Leuten reden, die dich lieben, obwohl du sie enttäuschst?

Der blöde kleine Glückskeks starrt mich aus seiner unberührten Packung an. Irgendeine Maschine am anderen Ende des Ozeans oder vielleicht in Secaucus, New Jersey, hat einen einzelnen chinesischen Buchstaben auf die Klarsichthülle gedruckt. Er sagt mir nichts, weil ich kein Chinesisch kann und es nie lernen werde, und das ist mir jetzt auch scheißegal. Ich reiße die Packung mit den Zähnen auf und werfe den Keks auf den Schreibtisch. Das kleine Papierstück springt hervor, zusammengeknüllt nach all den Jahren der Gefangenschaft.

Heb ihn auf und lies ihn, befehle ich mir selbst. Lies das verdammte Ding und bring es hinter dich.

KEIN GESCHENK HAT BESTAND AUSSER LIEBE.

Ich klebe den kleinen Papierstreifen über meine Unterschrift in die freie Fläche neben Mom. Nachdem ich mein Testament zusammengefaltet habe, lehne ich es zusammen mit dem Brief an Meredith gegen den Stiftebecher. Die Schreibtischlampe zittert von den Wellen, die gegen das Boot schlagen. Beide Kojen sind ordentlich gemacht. Keine Spur mehr davon, dass dort stundenlang gelernt, zusammen mit Holden überlegt und mit Nick über das Weltende diskutiert wurde. Keine Spur von der unglaublichen Nacht mit Meredith. Es war ein Ort, an dem es sich gut gelebt hat. Ein Ort, den ich nur schwer verlasse.

Draußen ist der Himmel lila und bräunlich rosa, als wäre er angeschlagen und wollte in sich zusammenschrumpfen, um nicht zu sehen, was dieser Tag bereithält. Wenn ich wirklich weggehen will, muss ich es jetzt tun. Hinter meinen Augen brennt es heiß. Morgen werde ich woanders sein und diesen Sonnenaufgang und diesen Horizont mit der Brücke darüber, diese vertraute feste graue Linie, die sechzehneinhalb Jahre lang mein Leben begrenzt hat, nicht mehr sehen. Ich hoffe, Merediths Eltern lassen sie bei meiner Familie bleiben, wenn sie die endgültige Nachricht bekommen. Zumindest für eine Weile. Ich sollte Nick noch mal schreiben – aber in einem eigenen Umschlag, nicht in Moms – und ihm sagen, er solle Meredith in der Kabine schlafen lassen, wenn sie darum bittet. Ohne nachzufragen oder Theater zu machen. Esergibt keinen Sinn, Mom wegen Sachen zu beunruhigen, die sie nicht weiß.

Keinen Sinn, keinen Sinn. Die Worte hallen durch meinen Kopf, während ich zum Ruderboot schleiche, den Rollkoffer im Arm wie ein Baby. Nachdem ich ihn ganz vorn verstaut hab, damit er nicht nassgespritzt wird, löse ich die Leinen und lasse das kleine Boot vom großen wegtreiben. Die Riemen tauchen ins Wasser. Silberne Tröpfchen glitzern auf der Oberfläche, die nur einen kurzen Moment lang blau ist, wenn die Sonne anfängt aufzugehen. Als ich am Ufer ankomme, ist das Wasser schon wieder braun.