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In der dritten Schulwoche kommt ein Brief von der Schulbehörde von Essex County an meine Eltern. Ich musste die Post aus unserem Postfach holen, weil Mom in letzter Sekunde nicht mehr reingehen wollte. Sie meidet diese Hexe von Apothekerin, die ihr mal gesagt hat, Miss T. Undertaker sei eine Quacksalberin. Auf einem Umschlag in dem ganzen Stapel bemerke ich das goldene Siegel unserer Bezirksregierung. Ich denke mir, dass meine Eltern wohl irgendeine besondere Unterrichtsbefreiung für mich beantragt haben. In diesem Brief könnte die Entscheidung der Behörde über meinen Schulbesuch stehen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie uns mitteilen, sie hätten Geld für einen Privatlehrer organisiert oder die alternative Behandlungsmethode in Timbuktu, wo ich hinsoll, da Mom sie als die Form der Rettung ihres kranken Sohnes auserwählt hat.
Der ungeöffnete Brief liegt auf der Küchentheke, bis Dad nach Hause kommt. Mom hat ihn bestimmt sechs oder sieben Mal in die Hand genommen und wieder hingelegt. Als Dad aus der Bücherei zurückkommt, wo er über deren Internetanschluss die frisch lektorierten Kapitel des neuesten Schulbuchmanuskripts weggeschickt hat, ist Mom ungewöhnlich aufgeregt. Sie hält ihm den Brief vors Gesicht, als müsste er wissen, was drinsteht und was sie darüber denkt. Als er ihn nicht nimmt, reißt sie ihn auf und hält das Schreiben beim Lesen von sich gestreckt wie ein mittelalterlicher Bote des Königs. Es ist eine Weile still – vielleicht liest sie ein zweites Mal –, dann sieht Dad ihr über die Schulter.
»Vorladung«, sagt sie so laut, dass er einen Schritt zurückweicht. »Die Schulbehörde lädt Mr und Mrs Stieg Landon zu einer amtlichen Besprechung vor. Was zum Teufel glauben die, wer sie sind, dass sie Eltern herumkommandieren können? Wir zahlen Steuern wie jeder andere auch. Ich gehe nirgendwo hin.«
Sie liest den Brief von Anfang an vor, und ihre Stimme wird immer lauter. Diese ganze offizielle Behördensprache. »Betreff: Daniel Solstice Landons Schulabsenz von der zehnten Klasse.« Mit einer Liste von Daten. »Unter Verstoß gegen« mit einer weiteren Liste von Zahlen, Gesetzen, Bestimmungen, was auch immer.
»Haben die mich auch vorgeladen?«, will ich wissen.
»Nein.« Moms entsetzter Blick ist klassisch. Sie mustert mich unendlich lange, als wäre sie nicht sicher, wer ich bin.
Dad nimmt ihr den Brief aus der Hand und setzt sich. Er streicht das Papier auf dem Tisch glatt und betrachtet es so konzentriert wie seine Arbeit.
Für mich ist die Lösung ganz einfach. »Ich komme mit euch.«
Mom unterbricht ihr Herumwandern gerade so lange, um Dad einen scharfen Blick zuzuwerfen. Ihre Stimme klingt erstickt vor Empörung. »Die allmächtige Schulbehörde empfiehlt, dass wir ohne den genannten Schüler erscheinen, um offen über den Sachverhalt sprechen zu können.«
Als hätte ich ADHS und wäre unfähig, länger als fünf Minuten stillzusitzen.
»Sie können ihn nicht zwingen, zur Schule zu gehen, wenn ihn das noch kränker macht«, fährt sie, ihre Worte an Dad gerichtet, fort. Hört er ihr überhaupt zu? Offensichtlich hat sie schon entschieden, den Brief zu ignorieren und die Vorladung zu schwänzen. »Das ist bestimmt .... verfassungwidrig.«
»Sylvie. Was redest du denn?«, sagt Dad. »Was hat die Verfassung mit alternativen Heilmethoden zu tun? Du machst eine viel zu große Sache daraus. Das ist eine Routineangelegenheit. Sie haben festgestellt, dass irgendein Kind auf ihrer Liste fehlt, und folgen bloß dem Protokoll. Vierzig, fünfzig Familien bekommen genau diesen Brief. Die Schulbehörde weiß wahrscheinlich gar nichts von Daniels Leukämie.«
»Sie stecken ihre Nase in unsere Angelegenheiten«, sagt Mom. »Alle glauben, sie wüssten, was zu tun ist, aber keiner von denen muss sich tatsächlich mit der Realität auseinandersetzen. Heutzutage hält sich jeder für einen verdammten Experten.«
Ein paar Stunden vorher an diesem Tag hatte Dad ihr gestanden, dass seine Reisen nach Chicago, zwei in drei Wochen, tatsächlich Treffen mit Kinderärzten waren, Spezialisten für AML. Jetzt geht es wieder um dasselbe. Sie ist sauer, dass er hinter ihrem Rücken mit Ärzten gesprochen hat. Seit die Tests zurückgekommen sind und gezeigt haben, dass ihr Sprössling von Leukämie verseucht wird, vertraut sie niemandem aus dem Medizin-Establishment mehr. Und es ist schwer vorstellbar, wie ein Kinderarzt hier helfen soll. Wie präzise kann Medizin sein, wenn die Experten einen eins zweiundachtzig großen Teenager behandlungstechnisch kleinen Kindern gleichsetzen?
Trotzdem bin ich froh, dass Dad endlich aufgehört hat, die Diskussion vor mir geheim zu halten. Es ist zwar nicht dasselbe, als wenn sie mich einladen würden, an ihren Entscheidungen über meine Zukunft teilzuhaben, aber es ist leichter zu ertragen als die geflüsterten Gespräche und verschlossenen Türen. Ich bin nicht sicher, wie es zu seinem plötzlichen Meinungsumschwung kam oder ob es vielleicht nur vorübergehend ist, weil er sich wegen der heimlichen Arztbesuche verteidigen will.
Laut Mom ist nicht die KRANKHEIT unser Feind, die Ärzte sind es. Sie trifft sich gewissenhaft einmal pro Woche mit der Heilpraktikerin, um die Kräuterpräparate abzuholen, die Misty für meinen »Zustand«, wie Letztere es nennt, empfiehlt. Wenn Miss T. Undertaker das alles behandelt, als wäre es nur vorübergehend, ist das für mich okay. Vorübergehend bedeutet immerhin nicht tödlich. Es ist eine verdrehte, tröstende Logik.
Seit Wochen schon habe ich mich auf diese Debatte wegen des Schulbesuchs vorbereitet. Ich bin so weit. Seit Merediths Vorschlag hab ich meine Argumente wie Coladosen auf einen Zaun gereiht. Ich habe all die Tricks und Kniffe ausgelotet, sodass ich Löcher in ihre jeweiligen Theorien schießen kann. Nachdem Mom Dad gegenüber Platz genommen hat, setze ich mich ebenfalls. Als ich anfange zu sprechen, sehen die beiden erstaunt auf, als hätten sie ganz vergessen, dass ich da bin. So viel zu der Lass-uns-offen-über-alles-reden-Strategie, aber das stoppt mich jetzt auch nicht mehr.
»Schulbesuch ist Pflicht, oder? Die Schulbehörde kann Kinder zwingen, zur Schule zu gehen.« Obwohl mein Knöchel durch die Schiene geschützt ist, gebe ich acht, nicht gegen das Tischbein zu stoßen. Jetzt Schmerz zu zeigen, wäre das Ende meiner Glaubwürdigkeit. »Dann ist ... vielleicht auch das Gegenteil richtig: Ich habe ein Recht, zur Schule zu gehen. Das könnte gesetzlich verbrieft sein.«
»Daniel, dein Vater und ich müssen Erwachsenendinge entscheiden.«
»Die mich betreffen.«
Dad legt seine Hand auf ihre, ein Signal, das ich kenne. Er denkt, sie begibt sich auf gefährliches Terrain. Ich packe die Gelegenheit beim Schopf und hake nach.
»Müsstet ihr nicht einen medizinisch begründeten Antrag auf Hausunterricht stellen oder so etwas?« Es ist alles Teil meines Plans.
Da der Gedanke, dass die Regierung ihr vorschreibt, was gut für ihre Kinder sein soll, meiner Mom generell nicht passt, erscheint es mir wie Zustimmung, dass sie nicht sofort aufspringt und protestiert. Dad wirft mir einen dankbaren Blick zu. Ich bin vernünftig, erleichtere ihm seine Aufgabe. Wenn es ein außergerichtliches Verfahren gibt, das einen Streit über Prinzipien vermeidet, wäre es der einfachste Weg, das alles ohne Gerichtsprozess zu klären. Dads großer Albtraum ist, dass Mom Randale macht.
Er nickt zustimmend, in seinem Gesicht spiegelt sich Erleichterung wider. Er lächelt mich sogar an, mich, der den Landons all diese Probleme eingebrockt hat. »Wir könnten einen Antrag auf Hausunterricht stellen, Sylvie.«
»Das ist nicht recht«, sagt sie. »Er lernt genau dieselben Sachen, die die anderen Schüler auch lernen. Er ist nur physisch nicht im Schulgebäude anwesend. Ich will, dass sie ihm dieselben Tests geben wie den anderen.«
»Lass uns einfach zu dem Termin gehen und sehen, was sie zu sagen haben.« Dad hebt die Hand, damit ich ruhig bleibe. »Wir hören zu und bleiben offen für alles. Und wir sollten damit anfangen, sie nicht als unsere Feinde zu betrachten.«
Nach dem Termin mit der Schulbehörde, aber noch bevor der Schulinspektor seinen offiziellen Beschluss verkündet, kommt ein weiterer Brief vom Essex County Sozial- und Jugendamt, wieder mit goldenem Siegel, in dem steht, dass sie einen Sozialarbeiter zur Überprüfung vorbeischicken werden, aber ohne Termin, was das Ganze meines Erachtens sinnlos macht. Diesmal wartet Mom nicht, bis Dad nach Hause kommt, um auszuflippen. Doch als Dad den Brief dann liest, tut er ihn als Standardverfahren ab.
Seht ihr? Schon wieder so ein Militärausdruck. Aber Mom gibt danach für eine Weile Ruhe.
Mack und ich sind grad mitten in einem Schachspiel, als eine zerbeulte schwarze Limousine neben der Thujahecke am Anlegesteg parkt.
»Wer ist das denn?« Mack zeigt auf den Wagen.
Er ist dabei, mich zu schlagen. Haushoch. Zumindest nimmt Mack keine Rücksicht auf meinen Zustand. Es nieselt. Vom Fiberglasdach des Hausboots ertönen feine Pings! und vom Fluss her fette Pongs!. Durch das Fernglas sehe ich das Bezirkssiegel auf der Fahrertür und das hellblaue Nummernschild für Fahrzeuge des öffentlichen Diensts.
»Eine von der Bezirksgestapo«, sage ich.
Die Fahrerin hupt und ruft dann etwas durch den fünf Zentimeter breiten Spalt, für den sie ihr Fenster heruntergekurbelt hat. Mack nimmt das Fernglas und schiebt seine Brille auf die Stirn, um es scharf zu stellen. Er spricht durch die Lasche des Haltebands.
»Vielleicht löst sie sich auf, wenn sie nass wird«, meint er.
»Wie die Böse Hexe des Westens«, füge ich hinzu.
Sie ruft erneut. »Ist eure Mutter da?«
Mack reicht mir das Fernglas. »Sie könnte ein Alien sein.«
»Nichts so Spektakuläres. Nur irgendeine neugierige Sozialarbeiterin. Ohne Namen, mit versteckter Kamera in der Nase. Sie beschatten uns.«
Sie muss uns für schwerhörig halten, denn sie schreit noch lauter. »Ich habe gefragt, ob eure Mutter da ist!«
Mack zuckt mit den Schultern und schmunzelt. Ich schreie zurück: »Nein, Ma’am!«
»Seid ihr Jungen allein?«
»Nein, Ma’am«, rufen wir gleichzeitig, und ich muss lachen, weil das hier alles so absurd ist.
Stepford-Hanes hat uns beigebracht, präzise zu sein. Wir haben die Frage exakt beantwortet, und trotzdem ist die Böse Hexe vom Jugendamt nicht glücklich. Ich spüre, dass sich alles in mir zusammenzieht wegen der beleidigenden Unterstellung, dass wir wohl zu jung wären, um allein zu sein.
Auf das Geschrei hin kommt mein Vater aus der hinteren Kabine, einen Finger in das Buchmanuskript geklemmt, das er gerade lektoriert. Er drückt es gegen die Brust, geht dicht an der Seite der Kabine vorbei, um unter dem Dach zu bleiben, und klettert die Leiter zum Oberdeck rauf. Er krümmt sich schützend über das Manuskript und läuft zu uns unter das Bimini-Verdeck, das dem feuchtwarmen Regen einigermaßen standhält. Er schirmt mit einer Hand die Augen ab und späht übers Wasser.
»Wessen Auto ist das?«, fragt er mich.
Ich gebe Mack ein Zeichen, damit er Dad das Fernglas gibt. »Irgendeine Frau von der Behörde, vielleicht vom Jugendamt.«
»Warum schreit die so?«
Mack schiebt seinen Stuhl zurück, um Dad im Trockenen Platz zu machen, während ich unsere Analyse der Situation wiedergebe. »Sie will mit Mom sprechen.«
Dad geht zum Rand des Bimini und schreit durch die Wand aus Regen über den Creek: »Was wollen Sie von Mrs Landon?«
Den Mund an den Fensterspalt gedrückt, schreit die Frau zurück: »Entschuldigen Sie, Sir, aber wir dürfen nur mit Familienangehörigen reden. Sind Sie mit Daniel Solstice Landon verwandt.«
»Ich bin nur sein Vater.«
Als ihr Null-Check-Hirn diese Information nach einer Minute verarbeitet hat, verkündet sie in amtlichem Ton: »Ich bin hier, um eine Hausprüfung vorzunehmen. Ich folge Ihnen zu Ihrem Haus.«
Doch sie bleibt in ihrem Wagen sitzen. Sie ist ganz offensichtlich verwirrt, aber mit diesen Verrückten will sie wohl kein Risiko eingehen. Mein erster Gedanke ist, dass das Jugendamt Ferngläser an seine Mitarbeiter verteilen sollte, damit sie sich nicht wie Hirnis anhören. Und Schirme, damit sie den Elementen trotzen können, um zivilisierte Gespräche zu führen. Tatsächlich ist es wohl besser, dass sie keine Details erkennen kann. Dad trägt eines seiner ältesten Lieblings-T-Shirts von den Beatles: WHY DON’T WE DO IT IN THE ROAD. Die Böse Hexe würde wohl ohnmächtig werden wie diese Frauen in den Büchern von Jane Austen. Und dann definitiv keinen schmeichelhaften Bericht über die Landons verfassen.
Dad gibt mir das Manuskript und lehnt sich weit über den Rand des Daches. Vielleicht, damit sie sehen kann, dass er tatsächlich alt genug ist, um Vater zu sein. Der Regen sprüht an den Schultern kleine Punkte auf sein T-Shirt. Er will etwas sagen, dann legt er den Kopf schief wie zu einer Frage, weil plötzlich Wind aufkommt. Er räuspert sich und schreit danach noch lauter.
»Das hier ist unser Haus!«
Die Situation ist so lächerlich, dass – genau wie bei Holden – mein Gesicht anfängt zu glühen, sechzig Grad heiß und puterrot. Normale Leute wohnen nicht auf Hausbooten. Normale Leute reden am Telefon oder auf der Türschwelle.
Ich richte meine Worte in den Himmel und lasse sie vom Wind in ihre Richtung tragen. »Mrs Landon ist nicht da, und ich will nicht reden. Mit niemandem. Gehen Sie weg.«
Dad wartet nicht mal ab, ob sie bleibt oder wegfährt. Mit tief gerunzelter Stirn geht er mit seinem Manuskript in die Kabine zurück.
Am nächsten Tag kommt sie wieder, diesmal mit einem Bezirkspolizisten. Nicht mit Brewer, der der einzige Polizist ist, dessen Namen ich kenne, außer Sheriff Jessop. Aber es kann sowieso nicht Brewer sein, weil der bei der Stadtpolizei arbeitet. Es ist kurz vorm Abendessen. Der Sturm hat sich gelegt, und Dad ist bei einem Fußballspiel von Nick. Ich wache gerade aus meinem täglichen Nickerchen auf, als Mom der Hexe den Zutritt zu unserem Boot verweigert.
»Brauchen die wirklich einen Durchsuchungsbefehl?«, frage ich, nachdem sie weggefahren sind.
Sie zuckt mit den Schultern und schneidet weiter Tofu für den Salat. »Dein Vater hat recht, und ich bin kein Anwalt. Aber das ist was Persönliches. Der Staat sollte sich nicht in Familienangelegenheiten einmischen.«
Darauf erwidere ich: »Meredith sagt, an der Albemarle haben sie die Eltern eines Jungen verklagt, der beim Fußballspiel verletzt wurde.«
Mom will nun mehr darüber wissen. »Aber bestimmt nicht deshalb, weil sie ihn mit einem verstauchten Knöchel zu Hause behalten haben.«
Darauf ich: »Nein, weil sie den Sanitätern nicht erlaubt haben, seine Gehirnerschütterung zu behandeln.«
»Wie lautete die Anklage?«
Doch an der Art, wie sie nur kurz mal nichts macht und dann weiter den Kühlschrank durchsucht, merke ich, dass ihr die Antwort nicht mehr wichtig ist. Sie hat genug eigene Probleme. Und wenn meine Mutter mal was entschieden hat, dann bleibt sie dabei. Das Gute an meinen Eltern ist, dass sie ihre Entscheidungen unabhängig von anderen treffen. Falls ihr das bisher nicht bemerkt habt.
»Vielleicht solltet ihr mal mit einem Anwalt sprechen.«
»Das ist das Letzte, was wir jetzt brauchen. Anwälte sind teuer.«
Wegen der Heilmittelrechnungen, das muss sie nicht extra dazusagen. Das weiß ich auch so. Der Stapel auf dem Regal beim Radio war den Sommer über immer höher geworden. Schließlich hat Dad die ganzen Rechnungen in eine alte Schuhschachtel geworfen und in das Ablagefach unter ihrer Koje gepackt. Ich hab sie entdeckt, als ich mal das Handy suchte. Ich schätze, Dad hatte es genauso satt wie ich, sie andauernd im Blickfeld zu haben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie viel höher der Stapel wäre, wenn ich die Chemotherapie und Bestrahlung kriegen würde, die die Ärzte vorgeschlagen haben.
Als Mom mich zum ersten Mal zur Highschool bringt, damit ich den ersten Teil der Zehnte-Klasse-Tests schreiben kann – Bio und Algebra II zur Mitte der ersten Halbjahreshälfte –, ist die Fußschiene ab, und ich trage stattdessen eine hautfarbene Knöchelstütze. Das sieht nicht gerade cool aus, aber wenigstens kann ich wieder in Sandalen laufen. Noch drei Wochen, und die ganze Verstaucherei ist Geschichte. Nicht, dass ich besonders wild darauf wäre zu vergessen, wie es passiert ist.
Als wir durch die Seitentür an der Turnhalle gehen – Mom hat vorher angerufen und extra um Erlaubnis gebeten, dass wir nicht durch den Haupteingang mit all den herumschwirrenden Keimen in der Eingangshalle gehen müssen –, sehe ich als Erstes Leonard Großmaul Yowell. Er lehnt am Snack-Automaten und labert die Zwillinge voll. Nach den Mötley-Crüe-T-Shirts und Sandalen vom letzten Jahr hat er seine Garderobe aufpoliert. Um die Lehrer zu beeindrucken, schätze ich, weil er wahrscheinlich schon auf College-Empfehlungen spekuliert. Ihr könnt euch ja denken, dass sein Vater, der als Senator im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht, viel mehr auf diesen »Kleider machen Leute«-Aspekt achten muss als mein Vater.
Ich bin trotzdem beeindruckt von Leonards Outfit. Nicht, dass ich dieses schicke Schnöselzeug selbst anziehen würde. Das blassblaue Button-Down-Hemd macht ihn älter. Gute Entscheidung, Master Yowell. Und es lenkt von seiner Gesichtshaut ab, die an manchen Stellen aussieht, als hätte er mit einem schlechten Radiergummi dran rumgerubbelt. Das war für den armen Kerl schon immer ein Problem.
Die Zwillinge scheinen drauf reinzufallen. Und zwar gewaltig, wie ich leider sagen muss. Sie hängen wie gebannt an seinen Lippen. Ich spüre, dass ich die Fäuste balle, meine Fingerkuppen pressen in meine Handflächen, die Nägel spitz im weichen Fleisch. Wie hat Mack das zulassen können?
Sobald Leonard Mom entdeckt, kommt er angerast und hält ihr die Tür auf. »Mrs Landon. Dan! Schön, dich zu sehen.« Ein Politiker in der Ausbildung, eine Miniaturausgabe von Senator Yowell. Warum hab ich das vorher nie gesehen?
»Danke, Leonard.« Mom hat ihn schon immer gemocht, trotz der politischen Richtung seiner Familie. Vielleicht gefällt ihr deren Aktivismus, auch wenn sie auf der falschen Seite stehen. So langsam merkt ihr, woher Joe seinen Enthusiasmus hat, oder? Sie beugt sich vor, um Leonard zu umarmen, hält jedoch inne, als ihr einfällt, warum wir ganz bewusst durch den Seiteneingang kommen wollten. Wahrscheinlich denkt sie an ihre eigenen Predigten. Dass alle Teenager unhygienisch sind und ich an irgendwelchen Keimen sterben werde, die ich mir einfange. Das ist eigentlich absurd, wo die KRANKHEIT doch schon in mir drin ist und sich als Sensenmann allmählich vorarbeitet. Während Mom vor den dreien zurückweicht, blickt sie in beide Richtungen den Gang entlang. Gute Bärenmama überprüft die Umgebung auf Gefahren.
»Hey«, sage ich zu Leonard. Indem ich meine Hand gegen seine schlage, rebelliere ich ein wenig dagegen, dass sich mein Leben so megaheftig verändert hat. »Was geht, Mann?«
Die Zwillinge sind ihm zur Tür gefolgt. Meredith schlängelt sich an Leonard und ihrer Schwester vorbei. Als sie mir einen Kuss auf die Wange gibt, werde ich knallrot, und Mom starrt uns an, als könnte sie es einfach nicht fassen. Sie hat zwar schon mit Meredith telefoniert, sie aber noch kein einziges Mal gesehen. Leonard macht ebenfalls große Augen, aber aus einem ganz anderen Grund.
Meredith geht einen Schritt zurück, und auf einmal höre ich weißes Rauschen. Ich bin wie erstarrt und sehe nur sie. Ihre Augen sind grün. Ich kann nicht fassen, dass ich so lange gebraucht habe, um zu bemerken, wie grün ... und dunkel ... und anders ... Erst als ich meinen Blick von ihren Augen losreiße und sie lächeln sehe, merke ich, dass mein Grinsen so breit sein muss, dass eine Boeing drin landen könnte.
Juliann gibt mir ebenfalls einen Kuss auf die Wange, noch eine Überraschung. Leonard entspannt sich. Jetzt ist er wohl überzeugt, dass wir verwandt sind oder so etwas. Mit neuer Frische nimmt er den Faden wieder auf.
»Ich hab den Mädchen grad erzählt, wie sehr du bei den Diskussionen im Unterricht fehlst.«
»Möcht ich wetten«, murmele ich.
Mom horcht auf. Nach diesem Kompliment für ihren Sohn fühlt sie sich bestimmt großartig. Und ich bin nicht mehr sauer auf Leonard, weil der Blender meiner Mutter hilft, wieder ruhig zu werden. Du siehst genau, wie sie mit den Augen alles an ihm aufsaugt, seine eins achtundachtzig, seine Khakihose, das Button-Down-Hemd, das so neu ist, dass man noch sehen kann, wie es in der Packung zusammengefaltet war, und sein ach-so-gefälliges Lächeln. Er ist ein Zahnpasta-Model. Bevor ich an ihm vorbeigehen kann oder mir ein brillanter Spruch für die Zwillinge einfällt, muss sie natürlich fragen.
»Wie gefällt es deinem Bruder in Harvard, Leonard?« Sie denkt sich nichts weiter dabei, aber sie versteht dieses Mädchending einfach nicht.
Juliann sieht Leonard plötzlich an, als wäre er sonst wie interessant. Meredith zieht ihre Schwester am Rucksack.
»Wir müssen los. Mom wartet bestimmt schon auf uns.« Allerdings rührt sie sich nicht. Sie dreht sich um und sieht mir direkt in die Augen. »Viel Glück bei deinen Tests, Daniel.«
Ich sehe Leonard an, dass er angestrengt überlegt, woher sie das weiß, ohne dass ich es erwähnt habe. Man erkennt, wie sein Hirn an einer naheliegenden Schlussfolgerung herumbastelt. Er muss jetzt annehmen, dass wir woanders miteinander gesprochen haben. Vor Kurzem erst. Wie süß.
Während ich zwischen den Tests darauf warte, dass Mr Lassiter eine Aufsichtsperson findet, damit er zu irgendeiner Konferenz gehen kann, mache ich mir auf einmal wieder Sorgen um Meredith und Juliann und diese ganze Sache um Anmache und Beziehung an der Schule. Wahrscheinlich hat jeder Junge der Schule ein Auge auf die beiden geworfen. Frischfleisch. Und jeder einzelne dieser Typen hat mehr Gelegenheiten als ich. Sie können mit den Zwillingen in die Cafeteria gehen. An ihren Schließfächern warten. Sie zu Trainingsspielen oder ins Computerlabor einladen. Im Klassenzimmer hinter ihnen sitzen. Nicht hier sein zu können, bedeutet Höllenqualen.
Eltern sollten niemals vergessen, dass körperliche Anwesenheit in der Schule darüber entscheidet, welche sozialen Fäden du in der Hand hältst. Egal, wie sehr du den Unterricht hasst, ist die Schule der beste Ort, um deine Freunde zu treffen. Die meisten würden nicht mal eine Grippe vortäuschen, wenn in der Klasse jemand ist, den sie besonders mögen. Mit sechzehn oder siebzehn kannst du durch einen einzigen geschwänzten Tag viel an Boden verlieren.
Draußen vor dem Fenster läuft sich das Footballteam warm. Die Geräusche, selbst über den Lehrerparkplatz hinweg, sind abstoßend. Grunzen und Stöhnen. Ein paar der Jungs sind so schwer, dass sie kaum die Füße heben können. Der Kies spritzt von ihren Stollen über den Gehweg. Drei oder vier fallen immer weiter hinter ihre Kollegen zurück. Als der Coach sie anbrüllt, dass sie aufholen sollen: Aufholen!, muss das ganz schön entmutigend sein. Auch mehr essen zu müssen, als du willst, um dieses Gewicht zu halten, ist sicher schmerzhaft. Ich würde es nie in dieses Team schaffen. Ich kann neuerdings kaum mehr als ein halbes Sandwich essen. Aber dass ich Mitleid mit Footballspielern habe, ist neu für mich.
Joe sagt, die Typen am College, die er kennt, die in der Abwehr spielen, halten jeden Tag Mittagsschlaf. Sie dürfen am Wochenende nicht ausgehen, weil sie freitagabends vor einem Spiel um neun Uhr eine spezielle eiweißreiche Mahlzeit essen müssen. Und ein kohlehydrathaltiges Frühstück am Morgen. Mädchen sind bestimmt nicht allzu wild darauf, sich an solche Blubberbäuche zu schmiegen.
Ihr wisst ja, wie das ist. Jeder beschwert sich, wenn er im Bus oder im Klassenzimmer neben einem Fettwanst sitzen muss. Selbst ich, der ich furchtbar dünn bin und immer noch dünner werde, begreife nach weniger als zwei Sekunden, dass diese Typen wahrscheinlich sogar gerne mit mir tauschen würden.
»Daniel Landon?« Die Frau in dem weißen Labormantel ist mir völlig fremd, aber sie kann nicht viel älter sein als ich. Sie sieht aus wie eins der wirklich schlauen Mädchen, mit denen Joe auf dem College abhängen würde. Nagellack, kurze Haare, frisch und straight. »Ich führe Aufsicht bei deinem Algebra-Test. Stell mir bloß keine Fragen, denn Mathe kann ich nicht. Ich unterrichte Chemie.«
Ich zucke mit den Achseln. »Chemie in der Elften, oder?«
»Vielleicht kommst du nächstes Jahr in meine Klasse.«
»Wahrscheinlich nicht.«
Sie macht auf entrüstet. »Für den Abschluss braucht man aber Chemie. Willst du keinen Abschluss machen?«
»Die Frage ist komplizierter, als Sie denken. Vielleicht sollte ich jetzt einfach den Algebra-Test machen.«
Obwohl sie mich bestimmt für aufsässig hält – was ich an dem leisen verärgerten Stöhnen erkenne, das sie über die rot geschminkten Lippen pustet –, sieht sie nur auf die Uhr und gibt mir den Test. »Fünfzig Minuten. Keine Verlängerung.«
Sie wird nicht laut und bleibt cool. Sie ist bestimmt eine gute Lehrerin, aber das werd ich nie erfahren.
Als ich fertig bin, wartet draußen nicht Mom auf mich, sondern Mack.
»Deine Mom hat gesagt, sie holt dich bei mir ab. Wenn wir zusammen gehen.« Nach kurzem Schweigen fügt er hinzu: »Meinst du, das geht mit deinem Knöchel?« Ich marschiere los. Von mir aus kann der Knöchel ruhig abfallen. Mack holt mich ein und fängt an, über die neue Form der morgendlichen Durchsagen und die geänderte Speisekarte in der Cafeteria zu jammern. Nach einer Weile bricht er ab.
»Hey.« Er schlägt neben meinem Arm in die Luft. »Bist du wegen irgendwas sauer auf mich?«
»Du solltest in der Schule für mich Augen und Ohren offen halten, weißt du noch? Wenn Yowell sich an Meredith ranmacht und sie anbaggert, möchte ich das gerne wissen.«
»Er ist nur ein guter Freund.«
»Nein, nicht mehr. Er ist zum Wolf geworden.«
Mack sieht überrascht aus. »Hey, ich wusste ja nicht, dass es mit dir und Meredith so ernst ist.«
»Das geht dich auch verdammt nichts an«, sage ich. »Halt einfach Yowell von ihr fern.«
Weder Mack noch Mrs Petriano können mich überreden, ins Haus zu gehen. Ich warte zwar vor ihrem Haus auf meine Mutter, aber es fühlt sich eher wie spionieren an. Bei den Rilkes ist nichts zu sehen. Obwohl Mrs Rilkes Wagen in der Auffahrt steht, geht niemand rein oder raus. Aus dem Keller dringt keine Musik. Mack klopft von innen ans Wohnzimmerfenster.
»Deine Mutter hat angerufen, dass sie noch ’ne Viertelstunde braucht. Bist du sicher, dass du nicht reinkommen willst? Mom hat Brownies gebacken.«
»Nein.« Ich fasse es nicht, dass ich so nah dran bin und keine zehn Minuten mit Meredith haben kann. »Danke«, fällt mir dann noch ein. Das kam etwas verspätet, aber Mack ist sowieso schon weg.
Macks Mutter bringt eine Platte mit Kuchenstücken und ein Glas Milch in einem dieser doppelwandigen Gläser, die nicht beschlagen. Jeder, der am Fluss wohnt, hat diese schwitzfreien Gläser. Als Mack und ich ungefähr zehn waren, zerschlugen wir eins mit einem Stein, um zu sehen, was dazwischen ist. Aber es war nur Luft, wie enttäuschend. Wir suchten damals nach einer Methode, wie wir mit Badehosen zur Schule gehen könnten, um uns in der Pause zu verdrücken und im Fluss zu schwimmen, ohne dass man uns hinterher mit nassen Jeans erwischt. Der Gedanke, dass diese Gläser mit irgendeiner Flüssigkeit gefüllt sein könnten, die Feuchtigkeit absorbiert, kam uns beiden fast gleichzeitig.
Das ist bei Mack und mir manchmal so. Es ist ein bisschen unheimlich, wie bei Stephen King, aber es gefällt mir, dass meine Gedanken anscheinend nicht ganz und gar schräg sind. Es ist auf bizarre Weise tröstend zu wissen, dass da noch jemand ist, der ungefähr genauso denkt wie ich, auch wenn es nur manchmal passiert.
Das Experiment funktionierte also nicht, und ich musste Fenster putzen, um Mom das Glas zu bezahlen, das wir zerbrochen hatten. Nach ein bisschen heimlicher Internetrecherche bei Mack fanden wir raus, dass der Typ mit dem Glaspatent das Geld nur so scheffelt. Dann hatte Nick die brillante Idee, dass wir doch die Badehosen ausziehen und nur in unseren Jeans zurück zur Schule gehen könnten. Au, Mann. Manchmal haut es mich fast um, wenn er so praktische Lösungen findet.
Mrs Petriano wartet, um sicherzugehen, dass ich wenigstens ein Stückchen Kuchen esse. »Deine Mom klang gar nicht gut am Telefon, Daniel. Gibt es irgendwas, das ich tun kann, um zu helfen?«
»Erfinden Sie ein Heilmittel gegen Krebs.«
Sie geht wieder rein. Ich bin ein Arschloch. Obwohl ich keinen Hunger habe, esse ich vier Brownies – eine Art Wiedergutmachung für meinen Spruch. Als Mom angefahren kommt, hat sie Nick im Auto. Sie sagt nicht mal Hallo oder fragt nach den Tests.
Von hinten sehe ich über den Rückspiegel zu Nick, der vorne sitzt, und hebe fragend die Augenbrauen. Nick antwortet schweigend: Auch er hebt die Augenbrauen. Eine Warnung, dass Mom in Rage ist. Mein Magen zieht sich so stark zusammen, dass ich Angst habe, ich könnte mich auf dem Heimweg übergeben.
»Mom, können wir irgendwo anhalten und eine Cola kaufen?« Manchmal hilft das.
Da bricht sie in Tränen aus.