8

Wie sich herausstellt, ist die Hexe vom Jugendamt mit schwarzer Limousine sauer, weil sie denkt, dass meine Eltern nicht kooperieren. Die Schulbehörde schickt einen gönnerhaften einseitigen Beschluss zu der Sache mit dem Schulbesuch. Sie sagen, ich sei bis auf Weiteres vom Unterricht befreit. Aber das Härteste kommt noch, deshalb ist meine Mutter auch so aufgebracht: Sie haben noch keine endgültige Entscheidung darüber getroffen, ob meine Eltern gegen das Gesetz verstoßen oder nicht.

Ein, zwei Wochen oder so bleibt alles ruhig. Dad kocht Abendessen, weil Mom praktisch in der Bücherei wohnt und da das kostenlose Internet nutzt, um über alles nachzuforschen, was Miss T. Undertaker an alternativen Heilmethoden vorschlägt. Sie kommt spät abends nach Hause, und wenn unser kleines Motorboot dann mit Aussetzern vom Anleger zum Hausboot tuckert, klingt es wie eine zerkratzte CD. Ich höre, wie meine Eltern in ihrer Kabine durch die Ausdrucke blättern. Alles dreht sich um die Begriffe Erfolgsrate und Kosten. Die Namen der Behandlungszentren erinnern an Titel christlicher Erbauungsliteratur: Zuflucht, Friedenshoffnung, Kreuzweg.

Aus heiterem Himmel, so scheint es, reicht der Bezirksstaatsanwalt dann plötzlich Klage gegen meine Eltern wegen Vernachlässigung ein, eine gezielte Anklage bei Gericht wegen rechtswidrigen Verstoßes gegen das Gesetz Nummer soundso, wie es in der Benachrichtigung steht, die an unserer Kajütentür steckt. Sie wartet auf uns, als wir von der wöchentlichen Untersuchung der weißen Blutkörperchen im Riverside zurückkommen. Das Riverside Hospital ist das führende Krankenhaus in Essex County. Wobei man das führende auch durch das einzige ersetzen kann.

In der Zeitung erscheint ein Artikel über uns. Der Bezirksstaatsanwalt wird zitiert. Er hätte gesagt, wenn meine Eltern mich im Juni so hätten behandeln lassen, wie die Ärzte es ihnen empfohlen hätten, sei ich jetzt schon wieder in der Schule. Der Mann würde meine Eltern beschuldigen, mich bei meinem Vergehen, also dem Schuleschwänzen, unterstützt zu haben. Wegen dieses Delikts erstatten sie keine Anzeige, aber die Androhung steckt unterschwellig drin. Dass sie meinen Eltern indirekt vorwerfen, sie würden mich umbringen, lässt Mom furchtbar wütend werden. Denn es ist lächerlich, ausgerechnet das meiner Mutter vorzuwerfen.

Der Anwalt, den meine Eltern engagieren, Henry Walker, scheint kurz vorm Abkratzen zu sein. Er nuschelt, und du verstehst kein einziges Wort, das er sagt. Jedes Mal, wenn sie aus seinem Büro kommen, sehen sie selbst wie Zombies aus. Walker geht zweimal mit ihnen zum Gericht, aber nichts passiert. Da sie mich anscheinend aus dem Streit raushalten wollen, schweigen meine Eltern sich aus, und ich muss mich damit begnügen, die Zeitungen zu durchforsten. The Rappahannock Report hat eine kleine Kolumne zu Gerichtsverfahren in Tappahannock, aber bei Fällen mit Jugendlichen werden laut Mrs Petriano persönliche Daten zurückgehalten. Als ich einmal nachmittags bei ihnen darauf warte, dass Mack aus der Schule kommt, erwischt sie mich dabei, wie ich in ihrer Zeitung stöbere.

Die Zeitung berichtet, der Fall sei ausgesetzt. Als Macks Mutter nach oben geht, rufe ich von ihrem Telefon aus beim Gericht an. Die Beamtin druckst herum.

»Das kann ich wirklich nicht sagen, weil ich nur offiziell genehmigte Informationen rausgeben darf«, sagt sie.

»Es ist meine Akte«, sage ich. »Es geht um mich. Habe ich nicht das Recht, über mich selbst zu lesen?«

»Fakt ist, dass du kein Recht auf Akteneinsicht hast, da du minderjährig bist.«

Ich glaube aber, ich tue ihr leid, denn sie redet weiter.

»Es werden weitere Gerichtstermine festgesetzt. Das Gericht wird deine Eltern darüber informieren. Und dann können sie das Verfahren mit den Zeugenaussagen verfolgen. Wenn sie einen Anwalt haben, darf er für seine Vorbereitung Kopien aus der Akte vornehmen. Er wird wissen, wie er das anstellen muss. Und als Minderjähriger darfst du trotzdem den Anhörungen beiwohnen, wenn du willst. Du solltest das mit deinen Eltern besprechen. Und mit dem Anwalt.«

Auch wenn sie es nicht ausdrücklich erklärt, begreife ich, dass ausgesetzt nicht beendet bedeutet. Sie sagt aber, dass im Gerichtsprotokoll »Verhandlungstermin ausstehend« vermerkt ist. Das klingt nicht gut.

Als meine Eltern den Zeitungsartikel lesen, schlage ich vor, einfach wieder zur Schule zu gehen. Aber wahr ist leider, dass ich nicht länger als vier, viereinhalb Stunden am Stück wach bleiben kann, also wäre das keine Lösung. Wenn du im Unterricht einschläfst, musst du nachsitzen. Ich könnte also direkt in dem Raum für Nachsitzer einziehen. Und die anderen Jugendlichen da drin sind nicht unbedingt die Typen, denen meine Mutter ein Sauberkeitsattest ausstellen würde.

Die offizielle Vorladung des Gerichts bringt Officer Brewer eines Abends Mitte Oktober. Dad ist so freundlich und rudert hin, um die Dokumente entgegenzunehmen. Ich höre, wie Officer Brewer hinter dem Steuer mit dröhnender Stimme erklärt, dass er das hier – Gerichtspapiere ausliefern – in seiner Freizeit mache. Sie gäben ihm dafür extra den Bezirksstreifenwagen. Unter mehrfachen Entschuldigungen erklärt er weiter, er sei kein Bediensteter des Bezirks und es tue ihm leid, dass es so weit gekommen sei. Nachdem er weggefahren ist, stecken Mom und Dad draußen vor ihrer Kabine die Köpfe zusammen. Es endet damit, dass Dad ihr sagt, sie solle sich beruhigen, was sie natürlich noch wütender macht. Sie knallt die Kabinentür zu. Als Dad in die Kombüse kommt, um Kaffee zu kochen, ergreife ich meine Chance.

»Warum darf ich vor Gericht nicht aussagen? Es ist mein Leben.«

Mom erscheint im Bademantel. Dad gibt mir ein Zeichen, dass ich mich neben ihn an den Tisch setzen soll, und ich nehme an, dass wir jetzt ernsthaft reden werden.

Dad schenkt zwei Becher Kaffee ein. »So was sieht das Gesetz aber nicht vor. Du bist minderjährig.«

»Habe ich denn keine Rechte?« Ich hole einen dritten Becher dazu.

Er ignoriert es. Kaffee ist ein Aufputschmittel und nicht gut fürs Knochenwachstum. »Das trifft es nicht genau. Wir sind deine gesetzlichen Vertreter. So, wie Mr Walker das erklärt, erwartet der Staat von uns, dass wir die Verantwortung übernehmen. Und wenn wir nicht die richtigen Entscheidungen treffen, kann der Staat das für uns tun.«

»Es geht nicht um richtige Entscheidungen«, wirft Mom ein. »Sondern um Entscheidungen, die sie für richtig halten. Denen ist egal, was wir denken, auch wenn wir diejenigen sind, die mit all den Experten gesprochen haben.« Seit das Jugendamt seine Nase in unsere Angelegenheit gesteckt hat, sagt sie das andauernd. Was sie als so beleidigend empfindet, ist deren Annahme, sie habe keine Ahnung, nur weil sie sich nicht für die übliche Chemotherapie entscheidet. Sie sinkt neben Dad auf den Stuhl und lehnt sich vor wie eine Katze, die Trost beim größten Katzenhasser im Raum sucht. Ohne sie zu berühren, faltet Dad die Zeitung zusammen und dreht sie immer wieder in den Händen, eine seiner beliebten Ich-denk-nach-Posen. Fast noch mehr, als krank zu sein, hasse ich es zu beobachten, was mit meinen Eltern passiert. Das ist alles meine Schuld.

Mack sagt, ich solle mir keine Sorgen machen, seine Eltern stritten die ganze Zeit. Aber vor dieser Sache war es so, dass, wenn meine Eltern stritten, es schon vorbei war, ehe es richtig angefangen hatte. Danach, manchmal noch am selben Tag, manchmal am nächsten Morgen, fingen sie schon wieder an, sich zu necken, wobei sie auf eine Weißt-du-noch-Weise über alles lachten, als wäre es ein Erfolg und kein Versagen, sich zu streiten und ohne größeren Nachteil wieder zu versöhnen. Der Prozess und die verdammte Leukämie haben sie in einen Abgrund gestürzt. Selbst ich kann sehen, dass sie darin versinken.

Moms Stimme klingt schneidend. »Der gesamte IQ aller Mitarbeiter des Jugendamts ist niedriger als mein Alter.«

»Vielleicht sollten wir Misty bitten, als Zeugin auszusagen.« Dad spricht direkt mit ihr. Mich haben sie schon wieder vergessen.

»Sie hat schon so viel getan.« Moms Stimme wird weicher. »Ich würd sie da ungern mit reinziehen.«

»Aber sie will doch helfen.«

»Ich weiß, aber ...«

»Frag sie wenigstens, Sylvie«, sagt Dad. »Nein kann sie immer noch sagen.«

»Sie hat nicht mal einen College-Abschluss«, erwidert Mom. »Die werden sie kreuzigen.«

Während dieses relativ friedlichen Intermezzos sammelt Nick seine Schulsachen ein und zieht sich zurück. Kein heimlicher Händedruck für mich – ich werde allein den Löwen im Kolosseum überlassen.

»Ich will mit dem Anwalt sprechen«, verkünde ich.

Meine Eltern atmen noch nicht mal ein. Einstimmig antworten sie: »Nein.«

»Ich kann trotzdem mit ihm sprechen«, entgegne ich. »Auch wenn ihr das nicht wollt.«

»Sie werden dich nicht lassen. Du bist zu jung.«

»Zu jung wofür?«, frage ich. »Zu jung, um zu sagen, was ich mit dem minimalen Rest meines Lebens anfangen will?«

»Du hast keine Erfahrung mit solchen Dingen.«

»Und ihr?«, frage ich. »Wie viele krebskranke Kinder habt ihr schon gepflegt? Wie viele habt ihr begraben?«

Mr Walker willigt ein, mit mir zu sprechen, aber nur unter der Bedingung, dass meine Eltern wegen der Interessenskollision eine Einverständniserklärung unterschreiben. »Wie kann es da eine Kollision geben?«, entrüstet sich Mom. »Er ist unser Sohn, wir wollen doch dasselbe!« Dad wiederholt flüsternd Mr Walkers Begründung, die der ihm gerade am Telefon gegeben hat. Laut Aussage des großen Juristen Walker hätten verschiedene Menschen verschiedene Interessen, und es könnte eine Zeit kommen, in der ich etwas anderes für mich wollte als meine Eltern. Mr Walker besteht auf der unterzeichneten Erklärung. Als Mom Dad ein Zeichen gibt, einzuwilligen, ahne ich, dass es ihr allein um die hohen Kosten für die Handyminuten am Tage geht. Nachzugeben ist eigentlich nicht ihr Ding. Zwei Tage später unterschreiben sie die dreiseitige Erklärung, die Walker per Post geschickt hat. Mom schiebt mir die Unterlagen über den Tisch zu.

»Darf ich das etwa lesen?«

»Nein, einfach unterschreiben.« Dad ignoriert meinen Sarkasmus und wirft Mom einen Ich-regle-das-schon-Blick zu.

Also stelle ich keine einzige der Fragen, die mich nachts wach halten. Er faltet die Papiere und streicht über den Knick.

»Dein Termin ist morgen um eins.«

Mom fährt mich hin und entlässt mich mit zig Warnungen und Ermahnungen aus dem Auto. Mein Kopf ist so voll davon, dass ich mich kaum auf die Liste von Fragen konzentrieren kann, die ich im Geiste zusammengetragen habe. Dann wird Walker bei einem Gerichtstermin aufgehalten, und ich muss eine Stunde lang in einem Vorzimmer warten, das nach Zigaretten und Lederpolitur und diesen komischen schnörkeligen, getrockneten Pflanzenstängeln stinkt, die nach der Medizin riechen, die Mom mir früher immer auf die Brust geschmiert hat, wenn ich Husten hatte. Als Walker reinschneit, bin ich schon reichlich genervt und kurz vorm Kotzen.

Er bleibt abrupt im Türrahmen stehen und dreht den Kopf zu seiner Empfangssekretärin, während er mich weiter anstarrt, diesen Fremden in seinem Revier. Auf seiner Krawatte prangt ein großer Fleck Ketchup oder Barbecuesoße.

»Mr und Mrs Landons Sohn«, sagt sie. »Daniel.« Als wäre mein Name ein Nachtrag, kaum von Bedeutung, sobald das Verwandtschaftsverhältnis geklärt ist.

»Ah, Daniel Landon.« Als hätte er sein ganzes Leben darauf gewartet, mich zu treffen. Was für ein Spacko! Angeblich kommt er gerade vom Gericht – er erwähnt das, damit ich wohl beeindruckt bin, weil er so wichtig wäre – und nickt der Sekretärin zu, als hätte er die ganze Zeit gewusst, wer ich bin. Das fängt nicht gut an.

In seinem Büro – das ein einziger Saustall ist mit Kaffeebechern zwischen Akten und losen Blättern auf den Stühlen – hebt er einen Papierstapel hoch, packt ihn auf einen anderen Stuhl und bedeutet mir, mich hinzusetzen. Als er seinen Aktenkoffer mit Wucht auf die Schreibtischunterlage schwingt, seufzt er tief und erleichtert auf. Ich soll wohl denken, der ist so schwer, weil er ein so endfähiger Anwalt ist. Er klappt den Deckel hoch wie eine dieser Kunststoffscheiben im Gefängnis, die den Gefangenen davon abhalten sollen, dem Besucher die Kehle aufzuschlitzen – eine klare Abgrenzung seines Reviers. Als er anfängt, Akten auszupacken, sehe ich die kahle Stelle auf seinem Kopf und feine graue Haarbüschelchen. Implantate?

»Was kann ich für dich tun?« Er spricht mit gefakter, schleimiger Stimme. Holden würde einfach abhauen.

Ich rede bewusst langsam, weil ich ihm zeigen will, wie vernünftig und ruhig ich bin. »Kann ich offen zu Ihnen sein?«

»Natürlich. Alles, was du in einem Anwaltsbüro erzählst, ist streng vertraulich.«

Ich habe mich ein bisschen informiert – in meiner ganzen freien Zeit – und weiß, dass das nicht stimmt. Die Schweigepflicht gilt nur für Klienten, und das bin nicht ich, das sind meine Eltern. Aber es wäre albern, jetzt darüber zu diskutieren, wo es doch eigentlich um Wichtigeres geht. Aber das ist sowieso nicht das, was ich meinte.

»Schieß los«, fordert er mich hinter seinem aufgeklappten Aktenkoffer mit gelangweilter, tonloser Stimme auf, die mir verrät, dass er dabei etwas liest.

»Bezahlen meine Eltern Sie nicht stundenweise?«

Er blickt mich über die Papierstapel hinweg an. »Äh ... ja, aber ...«

»Dann warte ich, bis Sie mit Lesen fertig sind.«

Er schließt den Koffer und sieht mich böse an, aber wenigstens hab ich jetzt seine volle Aufmerksamkeit. »Was du kannst, kann ich schon lange«, hat meine Großmutter immer gesagt. Er wollte mich einschüchtern, und ich hab ihn dabei erwischt. Wir sind quitt. Und das weiß er.

»Meine Eltern haben bald kein Geld mehr, und es ist nichts entschieden.«

»Das stimmt so nicht ganz«, sagt Walker. »Ihnen gefällt die Entscheidung des Gerichts nur nicht.«

Ich kann ihm nicht sagen, dass alles, worüber meine Eltern zu Hause sprechen, der Umzug nach Mexiko ist, wo ich eine neuartige Behandlung kriegen soll, eine Kombination aus Kräutern und spezieller Diät, die Miss T. Undertaker empfiehlt.

»Wie lautet denn die Entscheidung des Gerichts«, will ich wissen. »Können Sie mir das allgemein verständlich erklären?«

Nach kurzem Zögern, während dessen ich mich frage, ob er seinen Kaugummi runterschluckt, legt Walker los. »Die Kurzfassung? Du musst die empfohlene Chemotherapie machen, danach Bestrahlung und dann zur Schule zurückkehren. Zu deinem normalen Leben. Das normale Leben eines ...« – er öffnet einen ziemlich dicken Ordner und überfliegt das Deckblatt – »... Sechzehnjährigen.«

»So lautet die brillante Entscheidung des Gerichts?« Es fällt mir schwer, sitzen zu bleiben. »Das klingt nicht gerade legal.« Ich merke, dass mein Bein vor unterdrückter Wut wie wild herumzuckt. »Mein normales Leben gibt es nicht mehr. Und das normale Leben eines Sechzehnjährigen ist nicht mein Leben. Wenn Sie richtig recherchiert hätten, wüssten Sie, dass ich erst im November sechzehn werde. Und normale Sechzehnjährige haben keine Chemotherapie oder Bestrahlung oder tödliche ...«

Als die Sprechanlage summt, antwortet er der Stimme aus dem Kasten nicht, dass er beschäftigt ist, wie es die Höflichkeit erfordert, sondern drückt einen Knopf und unterhält sich. Er flüstert nur, aber nachdem ich mich ein bisschen beruhigt habe, finde ich es ganz interessant. Die DNA irgendeines Typen muss untersucht werden, und um eine Zeugenbeeinflussung zu vermeiden, verstecken sie ein Mädchen, das vergewaltigt wurde, und zwei weitere Zeugen unter falschem Namen in einer anderen Stadt.

Meine Fantasie geht mit mir durch. Beeinflussung von Zeugen kann mit Mordfällen zu tun haben. Ich stelle mir diesen Volltrottel von Anwalt vor, wie er sich immer ganz genau umschaut, wenn er die Straße überquert, und wie sein Auto genau in dem Moment in die Luft fliegt, als er die imposanten Marmorstufen des Gerichtsgebäudes erreicht. Also gut, das Gericht von Essex County hat nur zwei kleine, einfache Stufen aus Beton.

Aber je länger Walker mit seinem unsichtbaren Kollegen über den gesichtslosen Verbrecher redet, umso irritierter werde ich. Er ist ja so wichtig, und das dumme Arschloch Daniel Landon kann warten? Kein Wunder, dass Mom über die ganze Gerichtssache so deprimiert ist. Walker sollte uns eigentlich helfen. Bei Holden ist das auch so – Walker ist wie die Jünger, die das eine sagen und das andere tun. Wie Petrus, der Jesus verleugnet, als die Römer ihn fragen, scheint Walker vergessen zu haben, dass er sich für uns einsetzen soll.

Die »Interessenskollision« wird überdeutlich, aber nicht zwischen meinen Eltern und mir, so wie Walker das erklärt hat. Während er wie die PR-Abteilung des Familiengerichts von Essex County klingt, sollte er eigentlich Gegenanträge stellen und neue Argumente sammeln, um dem Gericht zu zeigen, dass meine Eltern unter den gegebenen problematischen Umständen das Beste für mich tun. Er kümmert sich kein bisschen um die Landons.

Und wenn er gezwungen wird, sich mit uns auseinanderzusetzen, kneift er und versucht, Mom und Dad zu überzeugen, dass sie den Anweisungen des Gerichts folgen sollen. Ebenso gut könnte die Bezirksverwaltung Walkers Gebühren bezahlen.

Ich weiß, dass meine Eltern diesen bescheuerten Typen selbst ausgesucht haben, aber wer stand in unserer lausigen kleinen Stadt schon groß zur Auswahl? Er spricht noch immer in den Hörer, eine klare Verletzung der Privatsphäre des anderen Klienten. Ich stehe auf und gehe.

Die Empfangssekretärin sieht mich überrascht an. »Schon fertig?«

»Die ganze Zeit, der er jetzt mit seinem anderen Klienten redet, sollte besser nicht auf unserer Rechnung stehen.«

Die ausladenden Bäume vor der Episkopalkirche spenden dem ganzen Friedhof Schatten. Mein Lieblingsgrab ist das von Benjamin Frisbie. Ja, wirklich. Aber er ist zu alt, um tatsächlich der Erfinder der Frisbee-Scheibe zu sein. Das Grab des guten Benjamin liegt in der hintersten Ecke. Es steht ein Racheengel drauf, und die eingemeißelte Inschrift auf dem Grabstein ist so verwittert, dass man sie im Regen kaum erkennen kann: EIN GUTER FREUND UND PATRIOT.

Ich hab schon immer gerne auf dem Grab vom guten Ben gesessen und einfach losgeredet. Weder widerspricht er noch sagt er mir, ich wüsste nicht, wovon ich rede. Es geht kaum mal jemand auf den Friedhof, zumindest nicht an den Nachmittagen, wenn ich da bin. Meistens unter der Woche. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich hier das letzte Mal jemanden gesehen hätte. Die Episkopalen mögen ihre Toten wohl nicht besonders.

Ich denk mir ein Gedicht über Walker aus und brauche eine Weile, bis mir der Reim Trickser auf Wichser einfällt. Allerdings ist es ziemlich anstrengend, so wütend zu sein. Die Grabsteinplatte ist kühl, und sobald ich liege, ist es einfacher, die Augen zuzumachen, als auf das flirrende Dach aus Blättern zu starren, vor allem, weil ich immer stärker das Gefühl habe, dass mir mein Mittagessen wieder hochkommt.

Der Klang der Stimmen schwebt fast wie im Traum zu mir rüber. Ich schlafe sowieso schon halb.

»Also, was denkst du?« Die Stimme – männlich, vage vertraut – ist ein Stück entfernt. Es ist die Frage eines Tricksers und so schleimig freundlich gestellt, dass ich, egal von wem sie kommt, weiß, der Typ versucht jemanden einzuwickeln. »Komm schon. Du kannst es mir sagen.« Und er macht ein bisschen zu sehr Druck.

»Der Unterricht ist ... okay. Die meisten Leute sind nett. Ich meine, wir sind ja erst seit August hier.«

Diese Stimme kenne ich. Und in einem so kleinen Bezirk wie Essex können nur soundso viele Schüler neu sein. Es ist Meredith. Meine Meredith. Sie redet langsam, als hätte sie sich tatsächlich noch nicht ganz entschieden und würde die Frage ernsthaft überdenken. Kein Kichern, sie ist nicht der alberne Cheerleader-Typ. Und klingt – selbst aus meiner beschränkten Erfahrung – nicht so, als würde sie flirten.

Da ihre Stimme durch die Sonne und den kühlen Schatten quasi gefiltert wird, klingt sie fast ein bisschen mystisch, so wie Musik von Ravi Shankar aus den Siebzigern. Ich halte die Luft an, gierig auf das nächste Wort, den nächsten Gedanken. Sie haben mich bestimmt noch nicht bemerkt.

Der Junge spricht leise, vielleicht dicht an ihrem Ohr. »Es haben dich doch sicher schon hundert Typen gefragt, ob du mit ihnen ausgehen willst.«

Es gibt nur einen Kerl, den ich kenne, der so schmierig ist und sich so mächtig ins Zeug legt.

»Buh!« Ich springe vom Grabstein hoch und sehe gleich, dass ich mit der Vermutung über meinen Gegner richtig lag. Linkisch improvisiere ich einen kleinen Tanz. »Ta-da

Drei Gräber weiter, neben einem der Familiengräber, fährt Meredith erschreckt herum und lächelt dann, als sie mich erkennt. Sie klettert auf eine andere Grabplatte und tanzt ebenfalls.

»Tappa-di-tappa-da.« Lachend streicht sie die Haare über die Schultern nach hinten. Sie schwingt die Beine vor und zurück wie eine Puppe, wie ein Spiegelbild von mir auf Bens Grab.

Der Junge neben ihr reagiert nicht so schnell. Er lächelt noch nicht mal, der alte Schleimer Leonard Yowell. Meine Mutter wäre schockiert. Beim Abendessen schimpfen meine Eltern die ganze Zeit über die Leute vom Jugendamt. Ich schätze, sie denken, dass mir seit meinem Gespräch mit dem Anwalt alle Fakten bekannt sind. Aber Nick spielt den Action-Man und kommt mir dazwischen, bevor ich bestätigen kann, was sie andeuten: dass Walker tatsächlich ein Volldepp ist.

»He, Leute«, sagt Nick und schluckt eine ganze Tomatenscheibe wie ein Feuerschlucker im Zirkus. Er liebt seine Vitamine. »Ich habe die Lösung. Sie können keine Gerichtspapiere mehr zustellen, wenn ihr nicht da seid, um sie anzunehmen. Und dann können sie Daniel auch nicht zur Chemo schicken. Warum legen wir nicht ab? Das ist schließlich ein Hausboot.« Die letzte Silbe schreit er fast.

Es ist das erste Mal, dass er sich direkt zu meiner Situation äußert. Das erste Mal, dass ich denke, er weiß, dass die Sache ernst wird. Aber ich weiß auch, dass er ein Clown ist, also spiele ich mit.

»Das gefällt mir«, sage ich. »Beantragt doch Hausunterricht für uns beide, für Nick und mich. Ihr habt sowieso schon Ärger wegen einem, also könnt ihr auch gleich alles riskieren. Und dann fahren wir mit diesem Kübel um die Welt. Was Lehrreicheres gibt’s doch gar nicht!«

Dad legt Mom die Hand auf den Arm, damit sie sitzen bleibt, in sicherer Distanz vor diesen verrückten Jungen. Dabei ist er der mit den roten Haaren. »Habt ihr Jungs keine Hausaufgaben zu machen?«

In der Kabine wirft Nick sich in seine Koje. Ich will meinen Fuß auf die Leiter stellen, verfehle sie aber. Meine ganze linke Körperhälfte schwingt herum und knallt gegen den Bettpfosten.

»Scheiße.« Ich versuche es wieder und schaffe es nicht. »Verdammte Scheiße.«

Inzwischen peilt Nick, dass ich das nicht spiele. Er rappelt sich hoch und streckt die Hände aus, um mir zu helfen. Ich schlage sie weg.

Vor lauter Panik mach ich auf Jammerlappen-Krüppel. »Mehr, Sir, bitte, Sir, kann ich noch mehr haben?«

»Vielleicht wird es Zeit, die Kojen zu tauschen«, sagt er und kann kaum den Schreck in seiner Stimme verbergen, die in den Vokalen schon kiekst.

»Du bist so was von ätzend!« Ich boxe ihm mit der Faust in den Magen, hoch genug, dass er bewegungsunfähig ist, aber nicht zusammenbricht. Immerhin hat Joe mich jahrelang in so was trainiert. »Zeit, die Kojen zu tauschen? Das hast du wohl schon seit Wochen geplant, wie? Wolltest nur den richtigen Moment der Schwäche abpassen, hm? So kommt die Wahrheit ans Licht!«

»Mann, ich wollte doch nur helfen.« Er wirft sich wieder in seine Koje. »Wenn du nur zu viel getrunken hast – schön! Behalt deine verdammte Koje. Aber lass morgen Abend den Scotch weg.«

Keiner lacht über seinen armseligen Versuch, witzig zu sein. Ich streife meine Schuhe und Socken ab. Dann alles bis auf die Unterhose. Ziehe meinen Trainingsanzug an. Zur besseren Balance halte ich mich an der Leiter fest und schiebe das Bio-Buch auf mein Bett, dazu Schreibblock und Stift für die Wissensabfrage an jedem Kapitelende. Ich häng sogar meine Jeans an den Haken an der Wand. Dann greife ich nach der Sprossenleiter rechts und links und warte, bis der Fluss ruhig ist. Vom Südwind wird das Boot immer wieder in Schräglage geschoben. Dann fange ich bei der untersten Sprosse an und klettere ganz langsam und konzentriert nach oben, eine Sprosse nach der anderen. So, wie ein Kleinkind eine Treppe hochsteigt.