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Als ich mit dem fünften Kapitel im Bio-Buch fertig bin, darüber, welche Nerven beim Schmerz beteiligt sind, schnarcht Nick. Dieses Zeug ist wirklich interessant. Im Ernst. Wenn du es schaffst, Kotzen und Zittern und spontane Kopfschmerzen in nüchterne wissenschaftliche Begriffe zu packen, verstehst du besser, wie alles zusammenhängt. Falls meine Eltern mich je nach meiner Meinung fragen, werde ich zur Abwechslung mal halbwegs intelligent klingen.
Draußen klagen die letzten Zikaden in langen Morsecode-Phrasen, ein wahres Irrenhaus an weißem Rauschen. Hinter dem Schilf quakt ein einsamer Ochsenfrosch den Autos auf der Route 17 mit tiefer Stimme eine Warnung zu. Achtung, Achtung, Polizeikontrolle lauert. Jeder im Ort weiß, dass die Polizei mit gezücktem Strafzettelblock auf dem leeren Parkplatz beim Fastfood-Imbiss Dairy Queen steht, ausgekocht und fies. Fast wie durch Zauberei höre ich jetzt tatsächlich die Sirene und sehe rotes Licht über die Kabinendecke blinken. Was ist nur mit den Polizisten los? Können den Leuten nicht mal ein bisschen frische Luft gönnen, ohne sie gleich der Raserei zu überführen. Sie präsentieren ihre Marken und genießen ihre Macht, Strafen zu verhängen. Sie hüten die Regeln allein um der Regeln willen – das hat auch Holden ganz richtig erkannt.
Vom Oberdeck und aus der hinteren Kabine kommt kein Laut. Meine Eltern haben sich zurückgezogen, liegen statt zur üblichen Mitternacht schon um neun im Bett. In letzter Zeit kommt es mir so vor, als würden sie meine eigene Flucht ins Bett imitieren – ihre Erschöpfung verbergen, bis ich meine eingestehe. Ich schließe die Augen. Ich bin zu müde, um runterzuklettern und das Licht auszuschalten, das an Nicks Kopfende festgeklemmt ist.
Er ist nicht viel älter als Holdens Schwester Phoebe. Aber Jungs sind anders, die checken das nicht so mit den Gefühlen anderer. Wo kam dieses Ich-beschütze-meinen-kranken-Bruder-Ding überhaupt her? Wer hätte ihn für so clever gehalten mitzukriegen, dass Mom und Dad in Schwierigkeiten stecken? Hausunterricht wäre für Nick die reinste Qual. Seine Freunde sind sein Leben. Er ist der Fußballstar, der Held des Teams. Dass er freiwillig auf diese Freunde verzichten würde, nur um die Landons vor einer Vorladung zu bewahren, sagt viel darüber aus, was für ein Mensch er ist. Es bedeutet aber auch, dass die KRANKHEIT ihn ebenfalls in ihren Krallen hat. Würde er noch auf eine Heilung hoffen, hätte er was ganz anderes vorgeschlagen als eine Rundfahrt auf der Nirvana durch die Chesapeake Bay.
Jetzt verstehe ich, warum Holden sich Sorgen um Phoebe macht. So cool sie auch ist, sie ist trotzdem noch ein kleines Kind, und jeder halbwegs anständige Bruder würde sich um sie kümmern. Ich hätte Lust, die Szene mit Phoebes Koffer noch mal zu lesen, aber das Buch steckt in meinem Rucksack, die blöde Sprossenleiter dazwischen. Also stelle ich mir die Szene nur vor. Phoebe erkennt Holdens inneren Kampf und denkt, wenn sie bei ihm ist, kann sie ihm helfen. So wie Nick, der quasi mit zu mir ins Boot kommt, um es mir leichter zu machen. Er springt einfach rein, ohne drüber nachzudenken, was er damit aufgeben würde. So wie Phoebe. Sie ist überzeugt, sie kann Holden helfen. Und dann muss Holden die Verantwortung übernehmen und sie davor bewahren, dass sie unter die Räder kommt. Also trickst er sie aus, damit sie wieder nach Hause geht.
Ich versuche rauszukriegen, welche Hintergedanken Nick haben könnte, ob es da noch einen unterschwelligen Aspekt gibt, aber sein Angebot scheint aufrichtig gewesen zu sein. Er hat einfach so vorgeschlagen, dass wir die Kojen tauschen sollten. Es steckt nichts weiter dahinter, denn hier oben ist viel weniger Platz. Niemand würde da freiwillig raufgehen, wenn er die Wahl hätte.
Aber Phoebe gibt ihren Plan auf, mit Holden wegzugehen. Sie lässt zu, dass er ihren Koffer wieder wegbringt. Das ist nicht leicht. Ich könnte mir vorstellen, dass sie vielleicht nur so tut, als würde sie ihm glauben, eine gerissene Methode, um ihn in New York zu halten, ihn zu zwingen, sein Versprechen zu halten, nach Hause zu kommen. Mädchen sind in dieser Art von Täuschung viel besser.
Nehmt Meredith. Wenn sie mich abends anruft – ihre Mutter erlaubt ihr inzwischen drei Anrufe pro Woche bei einem Jungen –, redet sie die ganze Zeit über Sachen, die wir nächsten Sommer machen könnten oder dann, wenn ich wieder in die Schule zurückkäme. Für ein so helles Mädchen stellt sie sich ziemlich dumm. Die Chancen, dass ich einen weiteren Sommer erlebe, stehen nicht gut. Ich hab allerdings nicht den Nerv, sie darauf hinzuweisen, weil ich mir auch gerne solche Dinge vorstelle. Und das Letzte, was ich will, ist streiten. Ihre Anrufe – wo sie in lustigen, endlangen Sätzen monologisiert – sind wie eine Rettungsleine aus meinem abgewrackten Leben. Sie redet und redet über Sachen in Geschichte und über die Cliquen in der Schule und Fußballspiele, und ich höre einfach nur zu. Es ist die einzige Zeit am Tag, wo ich nicht an meinen nutzlosen Körper denke und daran, dass er meine Familie zerstört.
Für Holden ist das Phoebe. Seine Rettungsleine. Alles andere ist Scheiße, aber Phoebe ist da, das fröhliche, vorhersehbare Kind, das sich freut, ihren großen Bruder zu sehen. Natürlich gefällt ihm, wie sie seinen ganzen Murks, den er baut, während er gleichzeitig vorwärtskommen will, hinnimmt, ohne ihn zu verurteilen. Ihr Vertrauen in ihn. Und ihre Überzeugung, dass alles wieder gut wird. Er bewundert ihr Vertrauen, weil er es selbst nicht hat. Das verstehe ich. Nick ist zum Teil genauso, auch wenn ich ihm das nie ins Gesicht sagen würde. Er braucht nicht noch mehr Lob und Anerkennung zu den unzähligen Fußballpokalen, um sein Ego aufzuplustern.
Auf jeden Fall wird aus ihm was werden, wenn ich nicht mehr da bin. Wenn er über was reden muss, hat er Joe. Seinen anderen großen Bruder. Joe ist wie ein Sicherheitsnetz. Er wird Nick helfen, alles Wichtige zu lernen. Wie man es vermeidet, so wie Dad seine Gefühle unter Kontrolle zu halten und so wie Mom bei der kleinsten Kleinigkeit zusammenzubrechen. Meine Gedanken kreisen immer wieder um Phoebe, die ihren Koffer schleppt, und Nick, der eine Weltreise vorschlägt, bis sich alles in einen Traum über das Bermudadreieck und einen endlos weiten grünen Ozean verwirbelt. Ich schlafe.
Meine Eltern streiten das ganze Wochenende über den Mistkerl Walker und die Hexe vom Jugendamt. Und über Mexiko und die brandneue Heilmethode, von der Miss T. Undertaker Mom erzählt hat. Nicks Vorschlag zu fliehen, ist wie die Spitze des Eisbergs. Dad fängt damit an, dass er mit dem Boot flussabwärts fahren will. »Nur ein kleines Abenteuer mit Übernachtung«, sagt er. Nicht, dass wir den Fluss nicht gut kennen würden, wo Mom doch in Urbanna aufgewachsen ist und so. Aber ihm gefällt die Idee eines Familienausflugs – ein Roadtrip, nur eben nicht auf Rädern, sondern auf Wellen. Wahrscheinlich ist er deswegen so unternehmungslustig, weil Nick am Samstag ausnahmsweise mal kein Fußballspiel hat und weil gerade ein Scheck für eine große Lektoratsarbeit gekommen ist.
»Wir könnten nach dem Mittagessen losfahren, dann hast du mehr Zeit, alles vorzubereiten«, sagt Dad.
Mom ist es gewohnt zu widersprechen, sie kann nicht anders. »Ich hasse es, Geld für das Benzin zu verschwenden.«
Darauf ist er vorbereitet. »Eine Auszeit würde allen gut tun. Mal eine andere Landschaft sehen, ein paar Fische fangen, ein bisschen lachen. Ein warmes Wochenende wie dieses wird es so bald nicht mehr geben. Komm schon, tun wir’s für die Jungs.« Durch das offene Fenster höre ich das Klimpern von Dads Löffel im Kaffeebecher und Moms Schweigen, während sie krampfhaft nach einem Gegenargument sucht.
Nick in seiner Koje stöhnt, weil Dad uns als Köder einsetzt. Ich bin schon länger wach, ringe aber noch mit mir, die warme Decke zurückzuschlagen und aufzustehen. Oktobermorgen auf dem Wasser sind ganz schön frisch, bevor die Sonne in die Gänge kommt.
»Red!«
Dad lacht mit ihr, weil sie seine Masche durchschaut hat, aber damit ist die Diskussion für sie noch nicht beendet.
»Hast du sie denn überhaupt gefragt?«, will sie wissen. »Wahrscheinlich wollen sie gar nicht fahren. Wenn sie die Wahl haben, verbringen sie das Wochenende doch lieber mit ihren Freunden. Nicht mit ihren alten, langweiligen Eltern.«
»Ach, das wäre auch okay. Dann setzen wir sie ab und fahren trotzdem los, nur wir zwei.« Was für ein Schauspieler!
Nick tritt unten gegen die Koje und erstickt sein Lachen im Kissen. Ich gähne und mach mich lang. Ich genieße die Normalität ihres Gesprächs und frage mich, ob Mom wohl nachgibt. Diese Sehnsucht in Dads Stimme ... Wie kann sie da nicht nachgeben? Mich andauernd um sich zu haben, muss als ständige Erinnerung daran, dass ihr Leben grad die Hölle ist, ganz schön nerven. Ich an ihrer Stelle würde die Chance auf eine Auszeit sofort nutzen.
Während sie sich noch weitere Fürs und Widers entgegenhalten, fange ich an, das Wochenende bei Mack zu planen. Er schwärmt andauernd von seinem neu renovierten Keller. Die Zwillinge könnten auf einen Film rüberkommen. Mr Petriano hat einen alten Fernseher mit eingebautem Videorekorder von einer Schulauktion mitgebracht, und sie haben Mack die Betonwände mit übrig gebliebener Farbe streichen lassen. Er gibt damit an, dass es total psychodelisch rüberkommen würde, aber ich hab’s noch nicht gesehen.
Seine wachsende Begeisterung für die Sechziger macht mir ein bisschen Angst. Wenn ich was sage, macht er dicht, so wie bei einem Computer-Freak, der dir den HTML-Code erklären will. Wenn man Dads Version von früher hört (und nach dem, was man so liest oder in Filmen sieht), ging es damals in der Szene oft um Drogen, aber im Vergleich zu dem, was die Kids heute so machen, erscheinen einem die Leute von früher wie naive Provinzdeppen. Obwohl Mack immer wieder behauptet, er habe nur ein einziges Mal Drogen probiert und auch nur Marihuana, redet er von Partys und Leuten, die wir früher nicht ausstehen konnten. Ich spüre deutlich, dass er denkt, ich könnte nicht mehr mitreden.
Ich merke auch, dass Dad neuerdings schweigt, sobald das Thema aufkommt. Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Sonst war er immer unerbittlich und hat jede Gelegenheit genutzt zu erzählen, wie ein bisschen Ausprobieren krasse Formen annehmen kann, und von Freunden, die er wegen einer Überdosis verloren hat. Er beschreibt, wie du dich von allem zurückziehst, Aktivitäten und Freunden, bis du ganz allein in einem Raum hockst und nur noch an den nächsten Schuss denkst. Ich denke, vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen dieser unterirdischen Zeit in seinem Leben und seiner Weigerung, mir von den Ärzten irgendwelche Chemikalien verabreichen zu lassen – irgendwas, das mit Schuldgefühlen oder schlechtem Gewissen zu tun hat.
Mack kann allerdings noch nicht allzu weit abgedriftet sein, wenn er mich immer wieder in den neuen Keller einlädt, obwohl ich meine Haltung zu Drogen mehr als eindeutig klargemacht habe.
»Die Anlage ist ziemlich primitiv«, hat er beim dritten Mal zugegeben. »Und es ist weniger edel als bei Meredith und Juliann mit den zwei Sofas, aber trotzdem ...« Dann wartete er, dass ich Ja sage, aber ich war neugierig darauf zu erfahren, womit er mich noch überzeugen wollte. »Er verdient es, eingeweiht zu werden.«
Während die Debatte über den Bootsausflug andauert, fällt mir alles ein, was Mack gesagt hat. Ich rutsche die Leiter runter, suche nach Jeans und T-Shirt. Dad will nicht aufgeben.
»Es könnte unsere letzte Chance sein.« Er zögert. »Vor dem Winter, meine ich.«
Mom denkt sicher, dass ich schlafe. »Was, wenn unterwegs etwas passiert? Misty sagt, Daniel kann jederzeit zusammenbrechen. Carla Petriano hätte keine Ahnung, wie sie reagieren soll. Wahrscheinlich würde sie ihm Kekse geben.«
»Er weiß doch, wie es läuft. Er kann genauso gut lernen, selbst mit diesen Dingen klarzukommen.«
»Spritzen und Medizin und Einschränkungen? Das sind nicht die Art von Sachen, mit denen Jungs in seinem Alter klarkommen wollen. Schlimm genug, dass es ihm die ganze Zeit schlecht geht.«
»Er sagt, er hat auch gute Tage.«
»So wie er aussieht, kann man das gar nicht glauben. Was, wenn er ausgerechnet morgen, während wir zu Good Day Sunshine rumschippern, einen schlechten Tag hat?«
»Liebling, du kannst ihn nicht vor allem Schlechten auf dieser Welt bewahren.«
»Das ist ja wohl die Untertreibung des Jahres.« Ihre Stimme bricht.
Es herrscht langes Schweigen, bevor Dad wieder spricht. »Ich glaube, wir brauchen diesen Ausflug. Für die Familie.« Und als sie nicht antwortet, verkündet er in seiner väterlichsten Stimme. »So ist es denn beschlossen. In einer Stunde legen wir ab.« An seinen Schritten höre ich, dass er vor unserer Kabinentür stehen bleibt.
»Wir haben es gehört.« Nick stöhnt wieder, diesmal sehr übertrieben, um Dad zu zeigen, dass er ihn durchschaut hat. Aber Dad lacht nur.
Wir fahren erst um elf, weil Mom noch Lebensmittel einkaufen muss. Sie ist definitiv im Bunkervorbereitungsmodus. Als ich vorschlage mitzukommen, protestiert sie nicht, was nur beweist, dass sie total in Gedanken ist, und nicht, dass sie anders über Keime denkt. Den Weg zum Supermarkt fährt sie mit ungefähr fünfzehn Stundenkilometern. Keine Ahnung, was sie sonst noch beunruhigt außer dem, was sie gesagt hat, aber ich versuche die ganze Zeit die Frage hinzukriegen, ob sie kurz am Haus der Zwillinge anhalten kann. Ich muss mit Meredith über Halloween sprechen.
In den letzten drei Jahren, seit das Bürgeramt von Essex County Kindern über dreizehn das Klingeln an Haustüren und Sammeln von Süßigkeiten verboten hat, haben die Petrianos Mack immer eine Halloween-Party feiern lassen. Das war noch vor der Kellerrenovierung, also stieg die Party in ihrer Garage oder im Garten. Letztes Jahr gingen Leonard, Mack und ich als Figuren aus dem Film Frankenstein Junior. Ich war der Bucklige, weil ich nicht mehr Text haben wollte. Damals lernte ich ja gerade für den Baron von Trapp. »Bitte hier entlang«, war alles, was ich sagen musste. Dumpfbackig, aber lustig. Jedenfalls haben wir letztes Jahr zum ersten Mal auch Mädchen eingeladen. Die Party war draußen, weil es um die fünfundzwanzig Grad hatte. Mack verschwand fast zeitgleich wie Marissa Bennett, mein damals angehender Co-Star. Allein deswegen habe ich lange überlegt, ob die beiden an dem Abend Sex hatten. Obwohl er es immer wieder verneinte, grinste er trotzdem so, als würde er Ja meinen. Monate später sagte er mir endlich die Wahrheit. So konnte zumindest dieses Bild aus meiner Vorstellungswelt gelöscht werden. Marissa Bennett hat sich nicht von einem grünen Monster abschleppen lassen.
An der Kasse im Supermarkt, wo ungefähr ein Dutzend Leute, die Mom kennt, Schlange stehen, frage ich sie, ob wir noch zu Meredith fahren können. Vor all den Zeugen und wegen ihres tierisch schlechten Gewissens wundert es mich nicht, dass sie Ja sagt. Tja, gehirntot bin ich noch nicht.
»Diese Meredith gefällt dir wohl, hm?«, meint sie.
Ich schlucke und lasse mein Lächeln kommen und gehen. Diese Frage kann ich nicht vor Leuten beantworten, die in Essex County leben. Es würde sich ausbreiten wie ein Gewitter über dem Fluss.
Bei den Rilkes parkt das Auto auf dem Rasen, und die Mädchen tragen Shorts und seifen das Ding ein wie einen Hund.
»Kann ich ...?« Ich deute auf Juliann am Wasserschlauch.
»Werd bloß nicht nass. Sonst kriegst du eine Lungenentzündung.« Aber Mom lächelt. Mich wie einen normalen Jungen zu behandeln, tut ihr auch gut.
Meredith umarmt mich vorsichtig, und danach bin ich schon halb nass. Zum Glück winkt Mrs Rilke Mom ins Haus.
Meredith gibt mir den Schlauch. »Halt ihn einfach fest, okay?« Sie und Juliann stehen rechts und links vom Van und machen sich lang, um das Dach komplett einzuseifen, aber trotzdem klappt das nicht ganz.
»Habt ihr irgendwo ’ne Leiter?«, frage ich.
»Hinter der Garage«, sagt Juliann.
»Ich hol sie.« Ich gehe rückwärts, damit ich Merediths Beine beobachten kann, ohne dass sie es merkt.
Mrs Rilkes Gesicht erscheint im Fenster, und sie hebt die Brauen und schüttelt den Kopf. Woher weiß sie, was ich denke?
Ich schleppe die Leiter in den Vorgarten, vorsichtig, um den Rasen nicht durchzufurchen, und klappe ich sie neben der Fahrertür auf. Meredith klettert hoch und grinst mich an.
»Kannst du zum Essen bleiben? Es gibt selbst gemachte Pizza.«
»Mom wird bestimmt ...« Ich zucke mit den Schultern. »Eigentlich wollen wir mit dem Boot rausfahren.« Ich wünschte, ich könnte sie fragen, ob sie mitkommt, aber das wäre wohl kaum das, was Dad sich vorgestellt hat. Aber wenn er noch länger auf Kumpel macht, wird das irgendwann stressig. Es nervt jetzt schon, wenn ich daran denke, wie viel mehr Spaß es machen würde, Meredith den Fluss zu zeigen, als mit Nick Karten zu spielen.
Als sie sich nach rechts lehnt, fängt die Leiter an zu wackeln. Ich setze einen Fuß zur Seite, um mich besser abstützen zu können, und halte die Leiter fest.
»Easy, ganz cool. Keine Unfälle mehr. Deine Mom denkt sonst noch, ich zieh das Unglück an wie ein Magnet.«
»Das denkt sie sowieso schon.« Aber sie lacht wieder und wirft ihr Haar zurück. Hat sie eine Ahnung, was das mit mir macht?
Mom und Mrs Rilke kommen auf die vordere Veranda, in ein ernstes Gespräch vertieft.
»He, guck mal, wer da beste Freunde wird.« Meredith schwenkt ihren seifigen Schwamm und sprüht uns alle nass.
»Könnte gefährlich werden«, sage ich. »Nachher wollen sie immer zusammen in der Nähe bleiben, wenn wir uns treffen.«
»Ich glaube eher, sie lenken sich gegenseitig von uns ab.«
Juliann schnipst Wasser aus ihrem Schwamm über das Dach in unsere Richtung. »Daniel, du lenkst die Autowäscherin ab. Wir müssen hier fertig werden und weitermachen.«
»Oh, hör sie dir nur an.« Meredith verzieht übertrieben das Gesicht. »Sie hat heute Abend ein heißes Date mit Mack, und plötzlich hat sie keine Zeit mehr für uns.«
Die Frage, die ich gerne stellen würde, rollt wie ein Trommelwirbel in meinem Kopf. Wenn Juliann zu Mack geht, was macht dann Meredith?
Mom klingelt mit dem Schlüsselbund. »Okay, Daniel. Zeit zu gehen.«
Mrs Rilke gibt ihr eine Papiertüte, die oben zusammengerollt ist. »Es war schön, dich zu sehen, Daniel. Ich wette, den Gips am Fuß vermisst du kein bisschen.«
»Nein, Ma’am.« Unwichtig, darauf hinzuweisen, dass es nur eine Schiene war. Mit abgewandtem Blick warte ich am Fuß der Leiter, bis Meredith runtergeklettert ist. »Hey, ich wollte noch fragen, ob du dich an Halloween mit mir verabreden willst – mit uns zusammen, Mack und mir. Er schmeißt eine große Party, mit Kostümen und allem.«
Sie hat jetzt beide Füße am Boden, die Leiter steht hinter ihr und ich vorne, sodass sie nirgends hingehen kann. Ich rieche Creme und Seife und feuchtes Haar. Mit einem schnellen Blick auf unsere Mütter sehe ich, dass die beiden schon halb am Auto sind und außerdem wieder die Köpfe zusammenstecken und irgendwas Wichtiges besprechen.
Meredith küsst mich so schnell, dass es sich wie ein Windhauch auf meinem Gesicht anfühlt. Ich küsse sie fester zurück, aber auch ganz schnell, weil ich nicht weiß, ob ihre Mutter wissen darf, dass sie so was macht.
»Ja«, sagt Meredith, und ich weiß nicht, ob sie Ja zur Party meint oder Ja zum Kuss oder Ja zu mehr. So gerne ich sie noch einmal küssen würde, kann ich es nicht, weil meine Mutter jetzt am Wagen angekommen ist und uns über die Kühlerhaube hinweg anstarrt.
»Ich ruf dich an«, flüstert Meredith, bevor ich über das klitschnasse Gras zum Auto gehe.
Erst auf dem Weg nach Hause, als der Garten der Rilkes außer Sichtweite ist, fällt mir ein, dass ich ja das ganze Wochenende auf unserem Familienausflug bin und immer noch keine Ahnung habe, was Meredith während Julianns Verabredung macht.
Sobald wir auf dem Boot sind und den Anker lichten, fängt Mom wieder an zu schmollen und alle möglichen Gefahren aufzuzählen, aber Dad nickt nur schweigend. Wahrscheinlich denkt er, dass sie einfach alles rauslassen muss. Als ich ihr anbiete, Sandwiches zu machen, sieht sie mich überrascht an.
»Das kann Nick doch machen.«
Nick schluckt den letzten Rest Milch runter, den er aus seiner Müslischüssel geschlürft hat. »Ich? Ich bin gerade mal dreizehn. Ich kann noch keine Sandwiches machen.«
»Ich helfe dir.« Nicht, weil ich so ein netter Typ bin, sondern weil mich dieser Dauerstreit nervt. Jedes noch so kleine Detail muss um mich und die KRANKHEIT herumorganisiert werden und zeigt damit, wie nutzlos ich bin.
Mom steht auf, obwohl sie sich gerade erst hingesetzt hat, um im Windschatten die Zeitung zu lesen. »Nein, du ruhst dich aus. Ich helfe Nick.«
»Nick«, tönt Dads Kommandierstimme vom Deck nach drinnen. »Mach die Sandwiches!« Er gibt Mom ein Zeichen, mit ihm in die Steuerkabine hochzugehen. Als er ihr auf dem Weg nach oben in den Po kneift, schlägt sie seine Hand weg, aber wenigstens hat er sie zum Lachen gebracht. Zusammen stellen sie sich ans Steuer. Dad, die Baseballkappe mit dem Schirm nach hinten, legt den Arm um ihre Taille, ein kleiner Junge auf Abenteuerreise mit seinen Kumpels. Man muss meinen Dad einfach mögen.
Sie stehen Schulter an Schulter, und er senkt seine Stimme. Ich stehe vor der Kabine neben der Leiter im Schatten, wo sie mich nicht sehen können. Ihre Worte fallen wie Regenwasser durch ein Rohr zu mir herunter.
»Die Jungs sollen das ruhig unter sich ausmachen«, sagt Dad.
»Aber Daniel muss sich vor Montag ausruhen«, erwidert Mom. »Vielleicht sollten wir es ihm sagen, damit er weiß, wie wichtig es ist, dass er seine Kräfte aufspart.«
»Er wird sich nur Sorgen machen und dann vielleicht nicht gut schlafen«, sagt Dad. »Lass uns warten.«
»Es wird sowieso ein Schock.«
Mir schwirrt der Kopf, meine mir bereits notorisch vertraute Fantasie arbeitet auf Hochtouren. Wovon zum Teufel sprechen sie da? Wie lautet das große Geheimnis? Welche Neuigkeiten können noch schlimmer sein?
Mom spricht wieder ganz leise. »Da kann ich es ihm bis dahin wenigstens etwas leichter machen. Und ihm Dinge abnehmen.«
»Du kannst nicht alles machen.«
»Ich mache ja auch nicht alles«, sagt Mom. »Wenn es so wäre, würde ich die verdammte Chemo nehmen, anstatt sie ihm gegen seinen Willen aufzwingen zu lassen.«
Also das ist das große Geheimnis. Chemo am Montag, der Achtundvierzig-Stunden-Countdown läuft. Ich sollte geschockt sein, verängstigt, aber tatsächlich bin ich erleichtert. Endlich passiert etwas. Die Debatte ist vorbei. Alle Ärzte halten es für den richtigen Weg, der Richter stimmt zu, selbst der Große Zauberer von Oz Walker ist dafür.
In dem bisschen, was ich bisher über Leukämie lesen konnte, wird Chemotherapie immer als erste Lösung genannt. Ich meine, ich mag Miss T. Undertaker und ich liebe meine Eltern, aber was können die in ihrer kleinen Ecke von Essex County, Virginia, schon wissen? Sie haben nie eine Chemotherapie erlebt. Wie schlimm kann das schon sein? Ich muss ja jetzt schon dauernd kotzen und kann nicht mehr zur Schule und sitze auf dieser fahrbaren Insel fest. Außerdem hält auch Meredith die Chemo für eine gute Idee, und sie hat an noch anderen Orten gelebt außer in diesem Loch Tappahannock.
Als Mom die Treppe wieder runtergeht, beeile ich mich, zurück in die Kabine zu schleichen und mich auf einen Stuhl zu setzen. Zum Glück kommt sie nicht rein, sondern sieht nur durchs Fenster und kehrt dann um. Ich beobachte sie, wie sie sich an der Reling festhält, obwohl das Wasser glatt wie ein Spiegel ist. Ohne die Reling loszulassen, geht sie bis zu ihrer Kabine und verschwindet mit gesenktem Kopf. Gebeugt unter der Last eines sterbenden Sohnes.
Eine Minute später ertönt lautstarke Musik. Eine der alten Kassetten mit ihrer Lieblingsmusik. Die Lieder versetzt sie in eine bessere Zeit zurück, schätze ich. Eine Zeit ohne Kinder, ohne Rechnungen und Hausboot, ohne Trockner und ohne die permanente Möglichkeit, dass ihr Sohn die versprochenen zwölf Monate nicht schafft, wenn sie ihn nicht mit Gift vollpumpen lässt.
Moms Oldie-Kassetten konkurrieren mit dem mickrigen Stampfen und Stöhnen des Motors, während das Hausboot flussabwärts tuckert. Wir kommen an Häusern vorbei, die ich nur ein oder zwei Mal von einem Motorboot aus gesehen habe. In jeder halbrunden Bucht kauern sich ein paar Häuser in Gruppen zusammen. If I had a hammer, I’d hammer in the mo-or-ning, leiert es von hinten hoch. Ganze Wörter bleiben im Wind hängen und verhallen, während das Boot sich vorwärtsschiebt.
Ich bin kein Snob, was Musik angeht, echt nicht, aber die meisten dieser Kassetten sind furchtbar. Abgesehen vom monotonen Schrammeln auf der Gitarre – runter, rauf, runter, Dreierschlagtechnik, Lied um Lied um Lied –, sind die Bänder vorsintflutlich alt und so klingen sie auch. Es sind Lieder, die man sonst nur noch in Disney-Filmen für Erstklässler über die Geschichte der Musik vorgespielt bekommt. Meine Eltern hören tatsächlich auch Coltrane und andere bessere Sachen, aber jetzt bestraft Mom uns drei mit Peter, Paul and Mary, während sie in Wahrheit den Richter und das Jugendamt dafür bestrafen will, dass sie mir die Chemo aufzwingen.
Die frische Brise aus Südost in der Nase und neue Ausblicke vor Augen, sage ich mir, dass nach dem Essen alles besser wird. Das Leben geht weiter.
Aber es wird nicht besser. Es wird schlimmer. Mom weigert sich zu essen. Als Dad das Steuer an Nick übergibt, um mit ihr zu reden, schließt sie sich in ihrer Kabine ein. Ich ziehe meine Badehose an und hole ein Handtuch aus dem Stapel im Schrank. Da, wo die Sonne voll aufs Deck scheint, tanze ich barfuß ein bisschen herum und schwitze so stark, dass ich aussehe wie frisch geduscht. Die Vorstellung, gleich das kalte Wasser auf meinem Körper zu spüren, lässt mich vor Freude summen.
Ihr wisst das vielleicht schon, aber das Wasser in Virginia ist im Oktober nie so kalt wie im April, weil es die Wärme des Sommers noch umklammert wie ein Mädchen seinen Schatz auf der Achterbahn. Schwimmen, egal, in welchem Wasser, hat für mich immer Freiheit bedeutet. Du bist wie außerhalb deiner Haut. Du bist ein Fisch.
Mom stürmt aus der Kabine und klettert die Leiter hoch, kurz nachdem Dad auf das Oberdeck zurückgekehrt ist. Er hat wohl aufgegeben. Jetzt steht er wieder am Steuer und lenkt flussabwärts.
»Ich suche eine Stelle, an der wir anlegen und alle schwimmen können.« Er winkt mir zu.
Die aufkommende Brise weht Mom das Haar ins Gesicht, und sie muss es wegschieben, um mich zu sehen. Sie klettert und ruft zur selben Zeit.
»Verstehst du es jetzt?« Sie schreit zu Dad, zeigt aber auf mich.
Offensichtlich versteht er es nicht. Ich auch nicht.
»Was ist los, Mom?«, rufe ich über das Motorengeräusch hinweg. »Wir wollen doch nur schwimmen gehen.«
»Sag’s ihm, Red!«
»Was denn?«, frage ich, die Hände klebrig von der Sonnencreme, die ich so dick auftrage, als würden wir sie selbst herstellen. Das war eine Eingebung, um Mom zu besänftigen, um ihr zu zeigen, dass ich vorsichtig bin. Wenn ich schon nicht zu dem perfekten Sohn heranwachsen kann, den sie sich immer gewünscht hat, kann ich ihr wenigstens die Genugtuung geben, dass ich auf ihre Warnung vor ultravioletten Strahlen höre.
Gleichermaßen verwirrt zieht Dad die Augenbrauen hoch. Er hat keine Ahnung, was sie meint. Oder er denkt immer noch, wenn wir die großen Themen ignorieren, verschwinden sie von allein. Ohne darauf zu warten, dass er die Sache in die Hand nimmt, prescht Mom vor.
»Nein, Daniel, du kannst nicht schwimmen gehen. Auf gar keinen Fall. Misty sagt, dein Körper kann diese Art von Belastung nicht mehr vertragen. Wenn du Wasser schluckst oder zu weit rausschwimmst ... schon der Schock des Temperaturunterschieds kann ausreichen.«
»Ich bin diesen Sommer aber schon geschwommen.«
»Das war etwas anderes. Im August hat das Wasser fast Lufttemperatur. Und du warst noch nicht so weit ...« Diesen Satz kann sie nicht beenden. »In kaltem Wasser müssen deine Lungen übermäßig arbeiten, und das belastet dein Herz. Und das bedeutet, dass du einen Herzinfarkt riskierst.«
»Ein Herzinfarkt durch Krebs?«
Mom sieht mich unverwandt an. »Genau so ist es. Misty sagt, sie wissen nicht, wo die bösen Zellen sitzen.«
»Dad?« Meine Knie fangen an zu zittern. »Ist das wahr? Können die in meinem Herzen sein?«
Endlich sagt er etwas, auch wenn sein Gesicht so reglos bleibt, als würde er das Einmaleins aufsagen. »Wenn der Krebs erst mal im Blut ist, kann er überall sein.«
Man sollte meinen, dass das ausreicht, damit sie nicht mehr aufeinander rumhacken.
Ich wickle mich in das größte Handtuch und lasse meine Badehose an. Ich bin noch nicht bereit, das Schwimmen ganz und gar abzuschreiben. Mit der zerknitterten Ausgabe vom Fänger, für den die Bibliothekarin mir doch nichts berechnet hat, weil sie noch drei weitere Ausgaben in der Kiste vom Freunde-der-Bücherei-Flohmarkt entdeckte, klettere ich in Dads Hängematte auf der Sonnenseite des Decks. Vielleicht hat HC ja irgendeinen Rat für einen, der giftige Chemikalien in seinen Körper gespritzt bekommt.
Dad und Nick beschließen zu angeln. Sie witzeln herum, dass sie sich das Abendessen greifen wollen. Nick sortiert die Ausrüstung, während Dad das Boot zum Wind dreht und den Anker in einer mit Schilf umwachsenen Bucht auswirft. Wenn ich nicht so fertig wäre, würde ich mit ihnen angeln. Es würde Dads Idee, uns allen wenigstens vorübergehend das Leben zu erleichtern, unterstützen: unser fröhliches Familienabenteuer. Er ist es nicht gewohnt, der Stimmungskiller zu sein, aber es gibt keinen Grund, dass wir uns alle beschissen fühlen. Während die Sonne mir wie Akupunkturnadeln in die nackte Haut sticht, lese ich immer weiter und lasse ihre Stimmen um mich herum durch die Luft wehen.
Holdens Kapitel über den Fahrstuhltypen, der kommt, um die fünf Dollar zu holen, hat mich schon immer irritiert. Wieso lässt diese Sunny zu, dass er Holden das antut? Sie sollte ihm doch dankbar sein. Holden hat sie gut behandelt. Sie musste nicht mal das tun, wofür sie eigentlich bezahlt wurde.
Dass Holden sich so entschieden hat, kann ich gut verstehen. So gerne ich auch Sex haben möchte, mag ich mir nicht vorstellen, ihn mit einer völlig Fremden zu haben, so ganz kalt, ohne Stimmung, ohne Gespräch, ohne Beziehung. Sie kannte ihn nicht, und er war ihr egal. Es wäre rein mechanisch gewesen, ohne Gefühl. Sucht er so verzweifelt nach Gesellschaft? Mack sagt, nichts davon spielt eine Rolle, es passiert einfach. Das kann ich nachvollziehen. Manchmal stehe ich nur neben einem Mädchen in der Schlange oder sehe einen Film mit einem Mädchen im Badeanzug, und ich muss mich schon entschuldigen. Es ist peinlich.
Davon mal abgesehen – wie schrecklich wäre es, nicht zu wissen, mit wem sie vorher so zusammen war? Oder wen sie geküsst hat? Ich meine, du kannst nie ganz sicher sein, aber bei einem Mädchen, das du vorher kennst, etwa aus der Schule oder woher auch immer, weißt du zumindest ungefähr, mit wem sie so abhängt. Und du kennst so einigermaßen den letzten Typen, mit dem sie zusammen war.
Schlimmer ist noch, dass die gute Sunny in Holdens Hotelzimmer sich überhaupt nicht für seine Gefühle interessiert. Sie will nur das Geld. Lausige fünf Dollar, mehr nicht. So schlimm meine Eltern auch dran sind mit den Arzneimittelrechnungen und Anwaltskosten, kann ich mir nicht vorstellen, wie jemandem fünf Dollar so wichtig sein können, nicht mal im letzten Jahrhundert, als Salinger den Fänger geschrieben hat. Sunny und der Fahrstuhltyp zocken Holden ab, nur weil sie’s können. Weil er allein und jung ist. Das ist echt bescheuert.
Die Frage, die mir nicht aus dem Kopf geht, ist, ob Holden diese ganze Episode hätte vermeiden können. Ist das der Grund, warum er uns jedes noch so peinliche Detail erzählt? Wie der schmierige, behaarte Typ ihn in die Ecke drängt, und wie er weint, als sie das Geld aus seinem Portemonnaie ziehen. Das hätte er nicht erzählen müssen. Wenn er nicht so deprimiert über die Schule gewesen wäre und nicht diese Probleme mit seinen alten Freunden gehabt hätte, wäre er auf den Vorschlag des Fahrstuhlluden mit dem Mädchen wohl gar nicht erst eingegangen. Und dann hätte er ihr beim zweiten Mal auch bestimmt nicht die Tür geöffnet.
Nach dem ganzen Mist mit den beiden in seinem Zimmer nimmt er ein Bad. Welcher Typ nimmt schon ein Bad? Und dann denkt er sich diese ganze Filmszene aus, die total albern ist und überhaupt nicht zu jemandem passt, der so straight und echt ist, wie er vorher war. Ich verstehe das als Kontrast. Ich kann direkt hören, wie Stepford-Hanes das zum Besten gibt. Etwas so Verrücktes, dass er es auf keinen Fall durchziehen kann – um den wahren Charakter Holdens ans Tageslicht zu bringen, nicht den aufgesetzt coolen König der Großstadt. Als ich es jetzt lese, zum fünften oder sechsten Mal, treffen mich die letzten drei Zeilen richtig hart. Du kriegst wirklich Angst, dass er es ernst meint – dass er so tief deprimiert ist oder sich so sehr vor seinen Eltern fürchtet, dass er tatsächlich aus dem Fenster springt. Allerdings verfehlt er, während er übers Springen nachdenkt, den entscheidenden Punkt. Wenn du erst mal springst, ist es egal, wer dich verdammt noch mal sieht.
Von meinem Platz in der Hängematte aus kann ich das Gespräch zwischen Nick und Dad auf dem Oberdeck mithören. Nick erzählt Dad von seinem Freund Thomas Lynch, der die fünfte Klasse nicht schaffen wird. Als ob tatsächlich jemand die fünfte nicht schaffen könnte! Da geht es hauptsächlich um Buchbesprechungen und Kunstprojekte und Buchstabiertests, wie schwer kann das schon sein? Aber Nick hat mir auch schon von diesem Thomas erzählt. Ein paar Mal. Sein Vater trinkt sehr viel, und wenn er trinkt, dann schlägt er. Nick versucht, Dad dazu zu bringen, mit Thomas’ Vater über AA zu sprechen. Dad sagt Nein.
Nein nicht deshalb, weil er nicht mit Mr Lynch reden will, sondern weil es nichts ändern würde. Dads großes Thema bei AA und der Entscheidung, sein Leben zu ändern, dreht sich um Schritt eins der AA-Philosophie: Du musst einsehen, dass du ein Problem hast, das du allein nicht lösen kannst. Wir Landons haben das schon hundert Mal gehört.
Dad ist ganz ruhig, als er über die Lynchs redet. »Nickie, diese Entscheidung kann niemand Mr Lynch abnehmen.«
Nick redet dagegen, aber seine Stimme ist leise und stockend, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Und was ist mit Thomas? Der hat auch ein Problem, das er allein nicht lösen kann. Wer kümmert sich um ihn?«
»Vielleicht sollte Thomas mit jemandem reden, der ihm helfen kann. Einem Erwachsenen.«
»Dann nehmen sie ihn seinem Vater weg und bringen ihn zu Pflegeeltern.«
Das dumpfe, regelmäßige Klopfen auf dem Dach sagt mir, dass dort oben jemand rumläuft. Auch ohne ihn zu sehen, kann ich mir vorstellen, wie Dad seine Stirn in tiefe Falten legt vor lauter Sorge, ob Mom noch sauer ist, ob die Chemo mir den Rest geben wird, ob Nicks Angel beim ersten Biss in den Fluss fällt, weil er nicht dicht genug dransteht. Dads Schritte stapfen über meinem Kopf hin und her. Es muss schwer sein, sich um uns alle Sorgen zu machen und um Nicks Freunde noch dazu.
Nick ist alles andere als cool. »Es ist nicht fair, Thomas für etwas zu bestrafen, das sein Vater tut. Und wenn sie Thomas wegbringen, wird er sich nur noch mehr Sorgen machen, dass sein Vater was total Verrücktes anstellt. Eine Überdosis vielleicht.«
»Eins ist sicher«, sagt Dad. »Du kannst das Problem von Thomas oder seinem Vater nicht lösen. Sie beide brauchen Hilfe.«
»Ich versuche doch zu helfen.«
»Er braucht mehr als das, Nick.«
»Sind Freunde also nutzlos?«
»Überhaupt nicht«, antwortet Dad. »Thomas kann sich freuen, einen so guten Freund zu haben.«
»Dad. Das ist Dreck«, regt sich Nick mächtig auf. »Wertloser Dreck, wenn er morgen tot ist.«
»Dann braucht er einen Erwachsenen, der ihm helfen kann«, sagt Dad ganz ruhig. »Einen ausgebildeten Erwachsenen. Einen Experten.«
»Ach, jetzt bist du plötzlich für Experten?«, greift Nick Dad an. »Warum lasst ihr Daniel dann nicht das tun, was die Ärzte sagen? Das sind doch die Experten, oder?«
Um sie auszublenden, lese ich noch mal das Ende vom Kapitel, wo Holden überlegt, aus dem Fenster zu springen. Dann lese ich es ein weiteres Mal. Da ist er jetzt ganz allein in der Stadt, hat Sex mit einer Fremden abgelehnt und macht sich fertig, um ein anderes Mädchen zu treffen, das er kennt, aber nicht wirklich mag. Er denkt darüber nach, alles zu beenden, einfach so. Sicher, aus dem Fenster zu springen, sieht aus wie eine schnelle und einfache Möglichkeit, seine Probleme zu lösen. Aber was ist mit Phoebe? Und dem guten Mr Spencer? Und seinen Eltern? Aber Holden macht sich mehr Sorgen um die Gaffer auf der Straße. Irgendwas stimmt an diesem Bild nicht.
Holden, Kumpel, du merkst gar nicht, wie gut du’s hast! Mit siebzehn hast du dein ganzes Leben vor dir. Da ist noch viel Zeit für Jane oder Sally und Zeit zu tanzen und neue Freunde an einer neuen Schule zu finden. Du hast keinen Vater, der dich verprügelt. Du musst dir keine Sorgen um Geld machen. Du hast nicht die KRANKHEIT.
Um nicht über die ganze beschissene Welt zu verzweifeln, stehe ich auf und springe in den Fluss. Das Problem ist, wenn ich wirklich verzweifeln würde, dann wüsste ich nicht einmal, um wen ich weinen würde.
Über Nacht legen wir am Hafen von Urbanna an. Wie sich herausstellt, fährt das Hausboot nicht besonders schnell. Dad verwirft seine Pläne für die große Familientraumreise. Wir müssen am Sonntag wieder flussaufwärts fahren, um rechtzeitig zurück zu sein, damit Nick am Montag in die Schule gehen kann. In dem kleinen Hafen liegen die Segelboote so kreuz und quer, dass sie aussehen wie verstreute Zahnstocher. Es ist absolut windstill. Du riechst das Essen aus dem italienischen Restaurant an der Pier. Nick fragt nicht nach Pizza, was mich total überrascht. Er nimmt diese Idee des Familientrips viel ernster, als ich dachte. Nach dem Abendessen holt er das Scrabble raus. Uah. Zu früh gefreut.
Nur weil ich Lesen und Bücher mag, heißt das noch lange nicht, dass ich Scrabble mag. Manche Spiele sind rein vom Zufall abhängig. Wenn du die richtigen Buchstaben erwischst, bist du das Genie. Aber wenn du die schwierigen kriegst, hast du nach ein paar Runden schon keine Chance mehr. Wenn einer mal ein gutes Wort mit sechs oder sieben Buchstaben auf ein Feld mit doppeltem Wortwert legt, kannst du das mit deinem Q in der Hand nie mehr aufholen, selbst wenn du brillant bist.
»Ich seh nur zu«, sage ich.
Nick stößt gegen das Brett, und überall fliegen Buchstabensteine rum.
Moms Fingerknöchel an ihrem Becher werden ganz weiß. »Das war vollkommen unnötig, Nick. Geh in dein Zimmer.«
Dad hebt die Steine auf.
Aber Nick hatte einen schweren Nachmittag und ist nicht so schnell bereit aufzugeben. »Na toll, Mom! Der verhätschelte Junge wird geschont, und ich werde bestraft. Was hab ich falsch gemacht?«
Dad, der ultimative Diplomat, der waschechte Friedenswächter, nimmt die Sache in die Hand. »Setzt euch, alle beide. Daniel hat nur Angst, gegen seinen kleinen Bruder zu verlieren. Er spielt eine Runde mit. Das tust du doch, oder?«
Seine Taktik, mich bei der Ehre zu packen, um mich zum Spiel herauszufordern, ist wirklich albern. Aber Mom wischt sich heimlich die Tränen weg, und jeder sieht, dass Nick nur Dampf ablässt wegen Thomas, also gebe ich nach und ziehe sieben Steine. Natürlich kann ich Party legen und später Quark und fühle mich beschissen, als ich die höchste Punktzahl kriege.
Am frühen, schönen Montagmorgen steht wieder mal der Sheriff am Creek. Nick ist schon zur Schule gegangen, und wir sind grade mit dem Morgenlob am Anlegesteg von June Parker fertig. Am Anfang, also als wir auf das Hausboot zogen, mussten wir uns an ein gewisses Timing gewöhnen: wann man den Wassertank nachfüllen und den Abwassertank leeren muss, wann man neues Gas für den Herd und Benzin für den Motor braucht und so weiter. Mom gab diesem ganzen Ablauf dann den Spitznamen Morgenlob, weil wir den ganzen Kram zuerst fast täglich machen mussten. Wir hatten ja noch keine Ahnung, wie alles funktioniert. Der Witz hinter der ganzen Sache war perfekt, weil meine Eltern Mutter Natur über alles verehren, und dies waren grundsätzliche natürliche Dinge, zumindest für Hausbootbewohner. Das Morgenlob ist jetzt nicht mehr so lustig, nur noch unser Name dafür.
Sheriff Jessup kommt mit dem Motorboot der Fischereigesellschaft übers Wasser. Er will wohl nicht das Risiko eingehen, dass wir nicht kooperieren könnten.
Dad nimmt die Fangleine und schlingt sie um die Reling, aber er geht nicht näher, um dem Sheriff die Hand zu schütteln. »Im Gerichtsbeschluss stand Vormittag.«
»Ich weiß. Da komme ich noch mal, um ihn abzuholen.«
»Das wird nicht nötig sein.« Dad klingt eisenhart. »Ich denke, wir kriegen es hin, unseren eigenen Sohn ins Krankenhaus zu bringen.«
»So steht es aber in der gerichtlichen Anordnung. Ihr könnt dem Polizeiwagen nachfahren. Und hinterher könnt ihr ihn nach Hause bringen.«
»Gut. Wenn es so sein muss, gut.«
»Tut mir leid, Stieg. Ich weiß, dass das wie eine endlose Schikane wirkt und persönlich.«
»Es ist persönlich.«
»Die Bezirksleute tun nur ihre Pflicht.«
»Dann sollen sie ein Heilmittel für Daniel finden.«
Während der langen Stille, die nun herrscht, fummelt der Sheriff an seinem Klemmbrett, um einen Stapel Unterlagen zu befreien. Ich beobachte alles von innen durch die Fensterschlitze und habe komische Gedanken – ohne es zu wollen, hat Dad die Sache haargenau getroffen, denn ein Heilmittel zu finden, ist genau das, was die vom Bezirksgericht versuchen. Nachdem Sheriff Jessup sich eine Notiz gemacht hat, reicht er Dad die Papiere, alle zusammengetackert und in verschiedenen Farben und für immer an der Stelle eingeritzt, wo sie wer weiß wie lange im Klemmbrett steckten.
Dad liest sich alles schweigend durch, ein Blatt nach dem anderen, ohne den Kopf zu heben. Er sieht auch nicht auf, als der Sheriff die Leine losmacht, das Motorboot umdreht und vom Hausboot aus zurück zum Steg fährt. Sobald der Sheriff weg ist, reißt Mom Dad die Papiere aus der Hand.
»Da steht nichts von Chemotherapie«, stellt sie fest.
»Nein, nichts«, wiederholt Dad.
»Das ist ein Strafbefehl, eine ganz andere Vorgangsnummer«, sagt Mom. »Sie zeigen uns wegen Vernachlässigung an. Wegen böswilliger Vernachlässigung.«
»Ja.« Dad spricht im gleichen dumpfen Tonfall wie sie.
Die Bezirksregierung hat gewonnen. Runde eins und Runde zwei. Ein weiterer Gerichtsbefehl, und plötzlich sind meine Eltern Verbrecher. Sie stehen völlig schockiert vor der Hauptkabine, in der ich so tue, als ob ich die Morgen-Talkshow verfolge. Als eine Gruppe Highschool-Kinder aus Oklahoma in die Kamera vor dem Rockefeller Center winkt, hab ich plötzlich eine Eingebung. Wir könnten das auch machen: unseren Fall in die Medien bringen und mit Plakaten wedeln, auf denen RETTET DANIEL steht oder BEFREIT DIE LANDONS. Aber jetzt ist wahrscheinlich nicht der richtige Moment für so einen Vorschlag, also hebe ich ihn für später auf.
Mom raunt Dad zu: »Haben wir genug auf der Bank, dass ich Daniel nach Mexiko bringen kann?«
Dad klingt so niedergeschlagen, wie ich ihn noch nie gehört habe. »Ich gebe auf. Ich kann nicht gegen dich und den Bezirk ankämpfen.«
Ich habe das flirrende Flussufer aus Apocalypse Now vor Augen, als ich Mom und mich auf Eseln karge Berge überqueren sehe, unter blutroter Sonne, wie es in jedem Buch über Mexiko beschrieben wird. Wir kommen an unzähligen, leuchtend orangefarbenen Schmetterlingen vorbei und an diesen Kaktuspflanzen mit den großen gelben Blüten, die man in allen Wüstenszenen in Filmen sieht. In der Ferne schimmert der Horizont als türkis-violette Linie über den Sandhügeln. Versteht ihr jetzt, was ich damit meinte, dass mein Leben aufregend wird?
Das Einzige, was ich wegen Mexiko bedauere, ist, dass ich Meredith dann Leonards schleimigem Angebaggere überlassen muss. Aber wenn die Heilmethode dort wirkt und ich als erfahrener Weltreisender zurückkehre, hat selbst ein Senatorensohn mit gestärktem Oberhemd keine Chance mehr. Tja, wenn ist hier das entscheidende Wort.