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»Daniel, antreten!« Das ist mein Dad, der da ruft.
Die Zeit der Jahreszeugnisse ist längst vorbei, und ich hab diese Woche keine Regel gebrochen – ich habe also keine Ahnung, warum er seinen Patriarchenton anschlägt.
Meinen Dad muss man einfach mögen. Er trägt einen Bart und Sandalen, als käme er direkt aus dem Sechzigerjahrefilm Herbie. Auch wenn er ganz schön daneben ist, ist er trotzdem in Ordnung, und man hat fast ein bisschen Mitleid mit ihm. Er hat sechs oder sieben seiner »besten Kumpel«, wie er sie nennt, in Vietnam verloren. Seitdem bestimmt dieser Verlust sein ganzes Leben. Er geht zu jeder Antikriegsdemo im Umkreis von dreihundert Kilometern. An Silvester ruft er die Familien seiner toten Freunde an, um ihnen zu zeigen, dass er die Männer nicht vergessen hat. Spielzeugsoldaten und Panzer und all so militärische Dinge waren bei uns natürlich absolut tabu. Wir durften nicht mal mit dem Kriegsspielzeug unserer Freunde spielen. Obwohl er nicht eingezogen wurde, weil er sich als Kind das Trommelfell verletzt hatte, verkündet mein Vater regelmäßig, dass er, nicht ausgemustert, nach Kanada emigriert wäre. Das erzählt er jedem, ob ers hören will oder nicht. »Vorzeitig schwerhörig«, sagt er immer, als wäre das furchtbar witzig.
Väter, zumindest die Väter meiner Freunde, machen gerne Witze. Es ist, als wären sie Zeichentrickversionen dessen, wie ein Vater sein soll. Auch wenn sie immer wieder dieselben alten Kamellen erzählen, nimmt es ihnen keiner übel, weil Väter das eben so machen. Es soll sie sympathisch machen. Dieses Witzeding muss wie die unbefleckte Empfängnis ablaufen, sobald eine Frau einem Mann das erste Kind geschenkt hat. Es macht ihnen nichts aus, dass kein anderer ihre Witze lustig findet. Es macht ihnen auch nichts aus, dass ihre Frauen sagen: »Ach, Schatz, nicht den schon wieder!«
Ich und Mack Petriano und Leonard Yowell, dessen Vater Senator ist und wahrscheinlich mit ’nem dreiteiligen Anzug ins Bett geht, zucken immer gleichzeitig zusammen, wenn unsere Väter einen Witz erzählen. Obwohl die anderen normale Dads haben und meiner ein später Hippie ist, sind ihre Witze gleichermaßen lahm.
Diese Militärsprache muss auch so ein Vaterding sein. Leonards Dad sagt ständig Sachen wie »Gefechtsstation« oder »Rührt euch«. Zu Senator Yowell passt das wirklich gut, weil er ein dekorierter Vietnam-Veteran ist. Aber wenn mein Dad so redet, wundere ich mich jedes Mal, weil er doch eigentlich gegen den Krieg ist. Gegen jede Art von Krieg. Schulkonferenzen, fremdenfeindliche, gestapogleiche Praktiken gegen Einwanderer, Palästina und sogar Rivalität unter Geschwistern. Er ist ein wahrer Pazifist. Aber auf eine ganz aufrechte und gute Art.
Außerdem ist er Vegetarier. Und seine Lieblingsbeschäftigung ist Recycling. Wir benutzen keine Pappteller, auch wenn es schrecklich anstrengend ist, alles abzuwaschen, jetzt, wo wir auf dem Hausboot leben. Heißes Wasser ist ein seltener Luxus, meistens haben wir gar keins. Trotzdem kann ich mehr Gutes über meinen Dad sagen als Schlechtes. Er guckt sich jeden Film an, den ich sehen will, und er weigert sich, Krawatten zu tragen. Ganz anders als Antolini, dieser gefühlsduselige Englischlehrer von Holden mit dem seidenen Bademantel und den aufdringlichen Händen. Auf Dads Sofa hätte Holden ohne Bedenken übernachten können.
Wenn ihr die Wahrheit wissen wollt: Bevor ich krank wurde, war mein Leben langweilig. Ganz und gar vollkommen langweilig. Ihr hättet bestimmt nicht weitergelesen. Schule und Sommer, Sommer und Schule, meistens heiß und dann noch heißer, hier in unserem Teil von Virginia. Wenn Holden mit dem Taxi durch New York fährt, klingt das aufregender als mein Leben. Selbst der Spielplan der Fußballmannschaft meines kleinen Bruders ist aufregender. Also, ich für meinen Teil bin ja nicht so für Kontaktsportarten, aber Nick ist definitiv der Star seiner Mannschaft, mit dreizehn schon ein brillanter Ausputzer, aber zu nett, um damit anzugeben. Zigtausend Mal in jedem Spiel lässt er die gegnerische Mannschaft auflaufen. Jeder kann sehen, wie sehr sich das Team auf ihn verlässt und wie er alles dafür tut, unentbehrlich zu sein.
Mein älterer Bruder studiert im ersten Jahr an der Universität von Virginia und hat mehr Freundinnen als jeder, den ich kenne. Er ist ein wahrer Joe McCollege, der coolste Typ auf dem Campus – viel zu cool, um sich noch mit mir abzugeben.
Übrigens heißt er tatsächlich Joe, kurz für Joseph Ides Landon. Meine Eltern haben ihn ebenfalls mit so einem komischen Namen geschlagen, nur dass Ides – also die Iden aus dem römischen Kalender – nicht halb so schlimm ist wie Solstice. Außerdem können die Leute sich Ides viel eher als richtigen Namen vorstellen, deshalb ist es ihm nie so peinlich wie mir. Er braucht sich nicht die Story ausdenken, dass Solstice ein Überbleibsel unserer Vorfahren aus der alten Welt sei – wieder so ein Gratistipp von Cassie Jones, die sich bestimmt nicht mal mehr an mich oder mein Gestammel über das Erntetanzfest erinnert, zu dem ich leider nie so was wie ’ne Einladung hingekriegt hab.
Und um diese Namenssache abzuschließen, für den Fall, dass euch Namen auch so wichtig sind wie anscheinend meiner Mom: Nick für Nicholas bedeutet der Siegreiche. Das ist auch Moms grundsätzliche Lebensphilosophie. Ich weiß nicht, warum sie das dritte Mal beim zweiten Vornamen gekniffen und sich für unseren einzigen Vorfahren aus Virginia entschieden hat, Marshall. Aber er passt zu Nick. Nicholas Marshall Landon klingt wie ein Politikername, oder? Er ist definitiv derjenige, der die Welt verändern wird. Den Namen dafür hat er. Und die Energie.
Als Dad mich ruft, lieg ich grad in meiner Koje – direkt über der von Nick – in der vorderen Schlafkabine unseres Hausboots. Das Hausboot ist megacool – etwas Alltägliches und Altmodisches zugleich. Meine Eltern haben es vor zwei Monaten bei einer Regierungsauktion gekauft. Es war eine reine Reflexreaktion, etwa eine Woche, vielleicht auch weniger, nachdem die Ärzte ihnen gesagt hatten, dass ich krank bin. Joe hat das Boot Nirvana getauft. Weil meine Eltern so taten, als hätten sie den Witz kapiert, haben sie nicht protestiert. Wahrscheinlich haben sie es als Anspielung auf Buddha verstanden. Was auch immer – der Name ist geblieben. Es ist das erste große Ding, das sie je besessen haben. Autos – böse Umweltverpester, aufgrund des unglückseligen Zustands der Welt aber leider nötig – zählen laut ihrer Aussage nicht.
Ganz früher, vdK (vor den Kindern), als sie noch schwer verliebt waren, gingen sie vom College ab, um Hängematten zu flechten. Sie lebten »in ihrer eigenen Kommune«, wie Mom es nennt. Wenn sie ihren Nostalgischen kriegen, erzählen sie Geschichten über die tollen Partys, die sie da gefeiert haben, und wie sie alle eins mit der Erde waren, bevor Joe kam. Bevor sie wieder damit aufhören mussten, um das College zu beenden und richtige Arbeit zu bekommen. Aber irgendwie war trotz dieser Arbeit nie genug Geld da, um ein Haus zu kaufen.
Über diesen Teil erzählen sie nicht so viel. Ihre Version lautet: Besitz ist ein Kotau – eine demütige Ehrerweisung – vor dem Kapitalismus. Mieter zu sein bedeutet dann anscheinend, mit dem Universum verbunden zu sein.
Macht es euch nicht auch verrückt, wenn Leute sich so was ausdenken, nur um ihre Situation zu rechtfertigen? Bei meinen Eltern finde ich das allerdings nicht schlimm, weil sie ihre Ansichten nicht jedem aufdrängen, so wie manche Eltern das tun, die den Freunden ihrer Kinder die Limo wegnehmen, weil der Zucker darin die Zähne kaputt macht. Das ist peinlich. Wie kommen sie auf die Idee, dass eine Dose Limo weniger das Kind retten oder für immer die Wahl seiner Getränke verändern wird?
Jedenfalls haben meine Eltern seit ihrer Kommunenzeit eine Reihe von Häusern gemietet. An manche kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Das vor dem Hausboot hatte Fehler mit der Elektrik, was eine gute Entschuldigung war, sich keinen Fernseher anzuschaffen. Und wir mussten bei Kerzenlicht lesen. Meinen Eltern gefiel das. Zurück zur Natur. Ich hab euch gewarnt.
Die KRANKHEIT hat ihre Einstellung zu Besitz verändert. Sie sind überzeugt, das Hausboot halte Keime fern. Aber egal. Auf jeden Fall ist es anders.
Den Fänger hab ich schon mehrmals gelesen – und sogar mal die Erläuterungen überflogen, um rauszukriegen, ob ich es richtig verstanden hab. Es gefällt mir, wie Holden überall hingeht, wo es ihm passt – in die Stadt, ins Hotel. Er entscheidet sich, und dann geht er einfach. Das ist echt cool.
Nächste Woche komme ich in die Zehnte – mit großem Wechsel auf die Essex County Highschool und so, aber die ist auch bei uns in Tappahannock. Ich war noch nie in einer Stadt, die größer ist als Richmond. Da meine Eltern sich diesem Zurück-zur-Natur-Ding verschrieben haben, gehen wir nie in große Städte, wenn sie es vermeiden können.
Als Holden beschließt abzuhauen, ist er schon in New York City, der Stadt aller Städte. Aber irgendwas hält ihn davon ab, so richtig wegzulaufen. Was bloß? Angst kann es nicht sein. Dieser Typ hat keine Angst. Er redet mit fremden Frauen und marschiert im Hotel geradewegs zur Rezeption. Bewundernswert. Als ob ich mir einfach so eine Stadt aussuchen, mein Geld auf den Tisch knallen und alleine hinfahren könnte! Einen Taxifahrer kreuz und quer durch die Stadt schicken und eine Fremde in einer Bar zum Tanzen auffordern!
Ich frage mich immer wieder, warum er das alles macht? Vielleicht, weil er die Art von Mensch sein will, die so was kann. Vielleicht probiert er auch einfach nur herum und versucht damit klarzukommen, dass er von der Pencey wegmusste, bevor er nach Hause geht. Seine Schwester Phoebe wartet auf ihn, und er will sie nicht hängen lassen oder dass sie denkt, er hätte sie angelogen. Und zum Teil ist er auch deswegen so fixiert auf zu Hause, weil sein Bruder tot ist. Aber egal, was der Grund ist, er hat auf jeden Fall die Schnauze voll von all den Heuchlern, und deshalb arbeitet er so hart daran, klarzukriegen, wer er wirklich ist. Für seine Eltern und für sich selbst.
Auch wenn er es nicht offen ausspricht, muss er doch wissen, dass er es vermasselt hat. Das muss selbst ihm doch ziemlich klar sein. Wenn er seine Aufgaben erledigt hätte, diese dummen Aufsätze ordentlich geschrieben hätte, wäre er nicht geflogen. Die Dinge auf erwachsene Weise zu regeln, heißt, Verantwortung zu übernehmen. Es beim nächsten Mal richtig zu machen. Du meine Güte, ich klinge wie mein Vater.
Aber man weiß, dass Holden das alles begreift, weil er mit den höheren Mächten an der Schule nicht hadert. Dass er so klammheimlich abhaut, ist in gewisser Weise ein Eingeständnis. Nicht, dass es sein Fehler ist, sondern dass er von Anfang an nicht reingepasst hat. Was mich wieder zu der Frage zurückbringt, warum er die Arbeiten nicht erledigt hat. Es ist nicht so, dass er nicht wusste, was passieren würde. An den Schulen vor der Pencey ist ihm das ja auch passiert. Es muss also mehr dahinterstecken. Diese Sache, dass du rausfinden willst, wo du hingehörst.
Ganz tief drinnen glaube ich, der alte HC weiß etwas, das ich wissen sollte. Das habe ich noch niemandem erzählt. Es ist ein bisschen seltsam, wenn der Fänger erst im nächsten Jahr gelesen werden soll und ich ihn jetzt schon durchhabe, noch ehe wir das aufbekommen. Joe meint, das sei okay – das Buch sei einzigartig und besser als alles, was die ihm bisher auf dem College zu lesen gegeben haben. Er hat sogar gesagt, wir könnten darüber reden, wenn er Weihnachten nach Hause kommt, als würde ihn wirklich interessieren, was ich davon halte.
Das Endbeste an Holden ist, dass er sagt, was er denkt, ohne Drumherum. Ich wünschte, ich könnte so reden. Aber dazu denke ich nicht schnell genug. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, mir Gedanken zu machen, ob der andere mich für blöd oder für bescheuert hält. Bei Holden sieht das so einfach aus. Die Beleidigungen schüttelt er einfach ab und hört sich alles an, während ich schon kurz vorm Explodieren wäre. Er hört sogar höflich zu, wenn die Erwachsenen versuchen, ihm Ratschläge zu erteilen. Wie der alte Professor, dem er leidtut. Spencer heißt er, glaube ich. Und Antolini, der überzeugt ist, dass sein geliebter Schützling ins Unglück rennt. Gut, Holden gibt ein bisschen nach, um ihre Gefühle nicht zu verletzen, aber er weigert sich, ihre Spielchen mitzuspielen. Und er lässt sich von ihnen nicht ausreden, was er empfindet. Die ganze Welt wäre leichter zu ertragen, wenn alle wie Holden wären und immer gleich von Anfang an zugeben würden, was sie nicht verstehen.
Auch wenn die KRANKHEIT mich dazu bringt, über Dinge nachzudenken, über die ich vorher nie nachgedacht habe, weiß ich auch nicht genau, warum ich bestimmte Sachen mache oder ganz genau so und nicht anders reagiere. Jedes Mal, wenn ich zu wissen glaube, was ich will oder wie ich mich fühle, verändert sich was, bevor ich es zu fassen kriege. Das meiste von dem, was ich sage oder tue, ist mir selbst ein Rätsel. Holden setzt sich mit so was auch auseinander, aber er versteht es, er versteht es wirklich. Ich brauche ihn.
Man sollte meinen, mit fünf Leuten in der Familie müsste ich immer jemanden zum Reden haben. Leider funktioniert das nicht. Joe ist die meiste Zeit nicht hier. Nick kennt nur volle Fahrt voraus. Er kann nicht lange genug stillsitzen, um zuzuhören. Außerdem, was meine Brüder denken und fühlen, ist nicht das, was ich denke und fühle. Sie haben ihre eigenen Kämpfe auszufechten. Wie alle anderen auch.
Es ist komisch, weil alle außerhalb der Familie immer meinen, deine Familie versteht dich. Als läge es an den gemeinsamen Genen oder daran, dass alle im Haus dieselbe Luft atmen. Aber wenn du darauf wartest, dass deine Familie ihre Sachen stehen und liegen lässt und dich fragt, was dich beschäftigt, kriegst du vielleicht nie die Chance, darüber zu reden.
Grandma Sumner sagte immer: »Hört mal zu, ihr Zigeuner«, als wären wir fahrendes Volk und nicht bloß drei Jungen. Es spielte keine Rolle, dass wir ihre einzigen drei Enkel waren. Und ich hatte nichts dagegen, weil mir die Vorstellung gefiel, dass wir drei zusammen umherziehen. Ihr wisst schon, wie in den alten Geschichten von großen Zigeunerhorden in diesen komischen bunten Wagen, wo hinten der Kochtopf raushängt, mit Papageien und Ziegen und so vielen Kindern, dass du nicht weißt, wer zu wem gehört. Es sieht zwar chaotisch aus, aber alle ziehen in dieselbe Richtung, zur selben Melodie. Und sie stehen füreinander ein. Als wüssten sie, dass es eine Verschwörung gibt – wir allein gegen den Rest der Welt.
Als ich klein war, dachte ich, es würde immer so bleiben. Dass Joe und Nick immer mitkommen würden, wohin ich auch gehe. Einfach so. Ohne dass ich sie darum bitten muss. Es macht mich fertig, dass ich nicht mehr da sein werde und sie dann Sachen unternehmen, die wir zusammen machen sollten. Aber zumindest werden sie miteinander reden können, wenn es passiert ist. Aus der Art, wie Holden nicht über seinen Bruder Allie redet, weißt du, dass er es vermisst, nicht mehr mit ihm reden zu können. Wir drei Landon-Jungen sollten immer zusammen über Insiderwitze lachen und Joe mit seinen Lektionen über die wirkliche Welt aufziehen und mit Nick herumbalgen und seine pure Lebenslust spüren.
Wenn Grandma uns Zigeuner nannte, stellte ich mir vor, wie ich auch meine eigenen Kinder so rufe – mein Team, sobald Joe und Nick weggehen würden, um ihr eigenes Ding zu machen. Zigeuner – damit könnte der alltägliche Kram wie ein Abenteuer aussehen. Ich hör schon, wie Mack Petriano lästert: »Hallo, Mary Poppins.« Aber so meine ich das nicht, ehrlich. So ein Waschlappen bin ich nun auch wieder nicht. Gerade in letzter Zeit kapiere ich, dass niemand wirklich begreifen kann, wie ein anderer Mensch empfindet. Und die Vorstellung, dass Verpflichtungen oder Schule oder das Leben einen nicht runterziehen müssen, wenn man zusammenhält – das ist es, was mir gefällt. Oder gefallen hat. Jetzt lohnt es eh nicht mehr, sich deswegen schlaflose Nächte zu machen.
Und obwohl Dad Grandmas Spruch geklaut hat und ihn in seinen Vorträgen über Kommunikation als Schlüssel zum Weltfrieden rumdreht, indem er das Hört zu betont und nicht die Zigeuner, streite ich nicht mit ihm darüber. Die Wahrheit ist doch, dass das Sandwichkind nie viel Sprechzeit bekommt. Wenn Joe hier ist, dominiert er jedes Gespräch. Ich schätze, das gilt als normal. Als Ältester kriegt man leicht die Versuch-Irrtum-Erziehungsmethode – Klappt oder klappt nicht! – voll ab, eins-zu-eins-mäßig. Joe war bei allem der Erste und musste für Nick und mich alle Barrieren niederreißen. Also denkt er wahrscheinlich, er hätte sich das Recht verdient, immer als Erster zu reden.
Nick, der Glückliche, schlittert einfach so durch. Wenn jemand ihm sagt, er dürfe dieses oder jenes nicht tun, lässt er sich davon nicht beirren. Er wartet einfach, bis sie nicht mehr aufpassen, und tut dann genau das, was er will. So wie Phoebe Caulfield.
In gewisser Weise ebnet mir die KRANKHEIT den Weg. Jetzt müssen sie mir zuhören.
Holden ist auf dasselbe aus. Er versucht, jemanden dazu zu bringen, ihn ernst zu nehmen. Aus ganz anderen Gründen natürlich. Und ich bin nicht sicher, ob er weiß, dass er deshalb das tut, was er tut, oder ob er sich nicht fragt, was der Sinn vom Ganzen ist. Aber er und ich denken sehr ähnlich. Wir sind praktisch im selben Alter. Und obwohl er, genau wie ich, keine Ahnung hat, was er als Nächstes tun soll, gibt es einen großen Unterschied: Er hat das ganze Leben vor sich, um es herauszufinden.
Es ist schwer, ihn nicht dafür zu hassen. Und Nick und Joe. Sie dürfen leben. Vielleicht um die Welt reisen, mit ein paar Mädchen schlafen, bevor sie die Richtige treffen, ein neues Auto erfinden, ein Geschäft eröffnen oder was auch immer. Sie haben Zeit, die Fehler wiedergutzumachen, die sie begingen, als sie es nicht besser wussten.
Ich sitze mit dem fest, was ich bisher gemacht hab und die nächsten zehn oder zwölf Monate machen werde. Das ist wie bei meinem Namen, es wird mit strengstem Maß gemessen. Manchmal denke ich, dass ich die Zeit nicht mal mit Schlafen vergeuden sollte. Die Zeit reicht nicht aus, um all die Dinge zu tun, die ich mir vorgenommen habe, bevor ich krank wurde.
Vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren, als meine Eltern noch Teenager waren, 45er-Schallplatten kauften und hofften, dass beim Übernachten jemand Gras mitbringt, kriegten nur kleine Kinder Leukämie. Es gab Poster mit diesen kahlen Köpfen drauf. Alle kannten die. Niedliche, lächelnde Kinder ohne Haare. Aber jedes Jahr waren es andere Kinder. Und dafür gab es einen Grund.
Als die Leukämie mich fand, waren die Krankenhäuser voll mit Krebspatienten in jedem Alter. Ein Teenager mit Leukämie war nichts Besonderes mehr. AML oder »akute myeloische Leukämie«, wie meine Mutter mich immer korrigiert, als würde der offizielle Name es einfacher machen zu akzeptieren, dass ich in einem Jahr tot bin.
Man kann es sich schwer vorstellen, weil Formalitäten eigentlich nicht ihre Stärke sind, aber sie besteht auch bei anderen auf diesen präzisen medizinischen Ausdruck. Auf irgendeine seltsame Weise ist das wohl eine Art Schutz. Keiner ihrer Söhne kann von so etwas Profanem wie Krebs besiegt werden.