13

Als die Lampe blinkt und ausgeht, kommt es mir vor, als wären Stunden vergangen und wir hätten schon geschlafen. Zumindest ich habe tatsächlich geschlafen, erschöpft nach der unglaublichsten Stunde meines Lebens. Meredith weckt mich auf.

»Daniel. Hast du das gesehen? Gerade ist das Licht ausgegangen. Ist jemand hier? Oder ist das eine Art Zeitschaltung?«

Der Wind schlägt gegen das Boot, das heftig hin und her schwankt. Ich weiß, dass ich besser auf das Boot aufpassen müsste, aber Merediths Hüfte an meinem Oberschenkel und ihre nackte Brust auf meinem Arm zu spüren, lenkt mich zu sehr ab. Sie hebt den Kopf von meiner Schulter und späht in die Dunkelheit, das Kinn knapp über meinem. Ich küsse es.

»Diese kleinen Lichter an Deck«, sagt sie. »Hast du die ausgemacht, als wir reingegangen sind?«

»Ach, du meine Güte, das hab ich vielleicht vergessen.« Ich fahre hoch und knalle mit dem Kopf an die Decke. Ich lasse mich wieder aufs Kissen fallen. »Dad bringt mich um, wenn die Batterie leer ist.«

Sie beobachtet mich. Ihre Augen wandern durch den Raum wie die einer Katze. »Dummerchen, die sind schon längst aus. Ich wollte nur wissen, ob du das warst.« Sie küsst mich, und um nichts auf der Welt werde ich jetzt aufstehen und mich um die Lampen kümmern. Wer braucht schon Licht?

»Dan.«

Ich streichle die Mulde auf ihrem Rücken und massiere sanft ihre Wirbelsäule. Ich fasse ihre Hüften und hebe sie ein Stückchen hoch. Damit sie auf mir ist. Und ich in ihr.

»Daniel.«

Es ist ein so erstaunliches Gefühl. Wie gut zwei Menschen zusammenpassen.

»Hör auf«, flüstert sie. »Daniel. Wir können nicht ... Wir brauchen noch eins von diesen ... Dingern.«

»O Gott, Meredith.« Ihre Haut ist so warm.

»Ich weiß. Tut mir leid.«

»Das muss dir nicht leidtun«, sage ich. »Du hast ja recht. Es ist nur so schwer, dich ... Du bist so schön und ... so weich an den richtigen Stellen und ...« Ich stöhne und winde mich unter ihr weg. »Ich hatte nur zwei.«

Sie fängt an zu kichern. Ich muss auch lachen. Tolle Planung.

»Es gibt für alles ein erstes Mal«, sage ich.

»Jetzt nicht mehr«, erwidert sie lachend und schiebt mich an den Rand der Koje.

Ich taste im Dunkeln nach meiner Jeans. Als ich über den Plastikhaken meines Kostüms stolpere, fliegt er quer durch die Kabine. Ich lache und sage Merry, dass ich die Batterie überprüfe, tut mir leid wegen der Kondome, alles in Ordnung, bleib, wo du bist, keine Sorge, bin gleich zurück. Ich fahre mit der Hand am Geländer entlang, bis ich ihre Schulter spüre. Stelle einen Fuß auf Nicks Koje und ziehe mich hoch, bis unsere Gesichter auf gleicher Höhe sind. Ich weiß, was ich sagen will. Die Worte sind da. Die Worte. Aber auf einmal, nun, da ich sicher weiß, dass es auch für sie das erste Mal war, kommt es mir egoistisch vor, über meine Gefühle zu sprechen. Es ihr einfach so hinzuknallen. Ohne zu überlegen, wie es für sie ist, wenn ein Todgeweihter sie liebt. Sie kann sich nicht darauf freuen, mit mir zum Abschlussball zu gehen, wir können uns nicht an denselben Colleges bewerben oder das Foto des jeweils anderen auf unsere Seiten des Jahrbuchs kleben.

»Merry«, flüstere ich also stattdessen, und ihre Lippen sind so nah, dass ich sie küssen muss. »Danke.«

Die Batterie ist in Ordnung. Nur die Glühbirne in unserer Kabine ist durchgebrannt. Meredith lacht sich kaputt.

»Du bist doch diejenige, die Panik gekriegt hat«, sage ich.

»Ich?«, meint sie erstaunt. »Du hast geflucht und gesagt, dass dein Vater ausrastet.«

»Ich hab nicht ausrasten gesagt.«

»Hast du doch.«

»Hab ich nicht.« Ich muss sie zum Schweigen bringen. Ich muss sie küssen.

Sie versucht währenddessen, ihr schwarzes Gymnastikoberteil wieder anzuziehen. Ich bin noch nicht bereit, sie gehen zu lassen. Wenn ich nach Mexiko verfrachtet werde, könnte es Monate dauern, bis wir wieder die Chance haben, allein zu sein.

»Dan. Daniel.« Ihr Lachen klingt erstickt unter dem Stoff. »Hör auf, mich zu küssen. Ich muss zurück. Juliann und ich haben verabredet, dass wir beide um eins zu Hause sind – so kann Mom keine von uns verdächtigen.«

»Weiß sie Bescheid? Über ... uns?«

»Meine Mutter?«

»Gott, nein! Deine Schwester.«

»Noch nicht.«

Okay, ich bin brav. Ich streiche das Oberteil glatt und helfe ihr dabei, es in die Jeans zu stopfen, indem ich um ihre Taille greife. Ich will nur überprüfen, ob alles am richtigen Ort ist. Gott, sie ist so schön!

»Was wirst du ihr sagen?«, frage ich.

»Meiner Mutter?«

»Sehr witzig. Nein, Juliann.«

»Vielleicht gar nichts.«

»Ist das hier nicht wichtig genug«, frage ich sie, »um es deiner Schwester zu erzählen?«

Sie sieht weg, greift nach ihren Sandalen und beugt sich vor, um sicherzugehen, dass sie sie richtig herum anzieht. »Vielleicht möchte ich es noch eine Weile für mich behalten«, sagt sie. »Sobald sie es weiß, wird es anders. Im Moment gehört es nur dir und mir. Das finde ich schön.«

»Ich auch.« Mir fällt ein, dass sie meinen könnte, ich wollte ihr vorschreiben, was sie zu tun hat. »Ich meine, du kannst es ihr ruhig sagen, wenn du willst. Egal, wann.«

»Wirst du es Mack erzählen?«

»Nein.«

»Nein?«

»Bei Jungs ist das anders«, erkläre ich ihr. »Wenn ich es ihm sage, wird er es für nichts Besonderes halten, als wären wir Pizza essen gegangen oder so etwas. Vielleicht erzählt er es auch weiter. Ich will nicht, dass er es in der ganzen Schule verbreitet.«

»Es ist fast eins.«

»Du hast recht. Ich bring dich jetzt nach Hause.« Ich küsse sie wieder. »Im Ernst. Das tue ich. Ich küsse dich jetzt ein letztes Mal, dann rudere ich dich rüber und bring dich nach Hause.«

Sie wartet, als wüsste sie schon, dass ich noch nicht fertig bin. Wie kann ein Mädchen mich so gut kennen? Vielleicht durch Osmose?

»Und dann ...« Ich ziehe sie auf Deck, wickle sie in Dads Schifferjacke ein und ziehe das Ruderboot ran, damit sie einsteigen kann. »Und dann geh ich wieder auf die Brücke und schreie: Das Leben ist himmlisch. Und springe.«

Sie sieht mich an, als wäre es das Logischste auf der Welt, das zu sagen. Oder zu tun.

Sonntagmorgen bin ich auf dem Hausboot ganz allein. Draußen stürmt es. Regen. Wind. Wenn das Boot heftig schwankt, hüpft mein Magen mit. Mir ist unerträglich warm. Das Kissen duftet nach Meredith, eine ferne Erinnerung, aber mir wird immer wärmer. Ich schlage die Decke zurück. Grün und elend liege ich auf meiner gepolsterten Koje. Stunden zuvor, als der Schmerz in meinem Bauch nur ein gelegentliches Ziehen war, habe ich den zweiten Anker überprüft und das Handy eingeschaltet für den Fall, dass Mom oder Dad anrufen, um sich nach dem Boot zu erkundigen. Ich lasse mich auf die Couch fallen, mit einem Mal zu erschöpft, um wieder in meine Koje zu klettern. Niemand ruft an, und ich döse weg. Bei jedem zehnten Schwanken wache ich halb auf, beuge mich zum Fenster und starre in den prasselnden Regen, um zu überprüfen, ob das Motorboot noch am Steg des aufgelösten Yachthafens vertäut ist. Es fühlt sich an wie in einem dieser Werwolffilme, wo der Wolf gleich knurrend und mit bluttriefenden Lefzen aus dem Dunkel hervorspringt. Ich versuche, nicht an Meredith zu denken und daran, was wir getan haben, das ist schlimmer als feuchte Träume.

Als Dad und Nick schließlich zurückkommen, sind sie völlig durchnässt. Schlafsäcke, Zelt, alles. Sie sagen nichts, kein einziges Wort, und Dad sieht völlig fertig aus. Nachdem sie die Campingsachen unter das kleine Bimini auf dem Achterdeck verfrachtet haben, ziehen sie ihre nassen Klamotten aus und stehen in Boxershorts im Wohnzimmer. Das Heizgerät glüht rot wie das Ende eines Thermometers. Draußen schleudert jede zweite Welle das leere Motorboot mit seinem kleinen Neun-PS-Motor höher als das Deck.

»Vielleicht sollten wir es an Bord bringen«, schlägt Nick vor.

»Bei solchem Wetter können wir kein extra Gewicht an Bord gebrauchen.« Dad starrt auf das Boot. »Hat deine Mutter angerufen?« Er sieht mich erwartungsvoll an, als müsste ich jetzt genau das bestätigen. Dass sie angerufen hat und alles gut ist.

»Nein.«

»Ist das ein Hurrikan?«, fragt mich Nick. Als ob ich plötzlich ein Experte wäre. Vielleicht denkt er auch, ich hätte mal den Wetterbericht eingeschaltet. Viel zu logisch.

Dad macht die Tür auf, schlägt sie hinter sich zu und verschwindet, nur mit Unterhose bekleidet, im Wind, wobei im Augenblick keine Gefahr besteht, dass ihn jemand sehen könnte. Eine Minute später kommt er zurück und hat Regenzeug und trockene Sachen in einem seiner Rollkoffer dabei.

»Der einzige Weg, um die Sachen trocken zu halten«, erklärt er, während er sich umdreht und die nassen Boxershorts auf den Fußboden fallen lässt. Er trocknet sich mit seinem Sweatshirt ab, bevor er das und eine Khakihose überzieht. Erst als er angezogen ist, scheint er in den Vatermodus umschalten zu können. Sein Gesicht fährt dicht heran an meines. »Geht’s dir gut? Du siehst fix und fertig aus.«

»Ich bin fix und fertig.« Meine Lider sind so schwer, dass ich das Gefühl hab, ich könnte noch beim Reden einschlafen.

Der Wind heult flussabwärts. Als Dad mit dem Fernseher endlich Empfang hat, zeigt der Lokalsender Bilder aus der Innenstadt von Urbanna, die unter Wasser steht. Stromleitungen sind gekappt, und der Wasserpegel im Hafen ist so hoch, dass das Wasser auf die Straße mit dem edlen Segelclub überläuft. Das Fernsehbild flackert und erlischt.

»Meint ihr, wir sollten Mom anrufen und ihr raten, erst mal nicht nach Hause zu kommen?« Ich überlege einfach laut. Keiner von uns hat schon mal eine Hurrikan-Saison auf einem Hausboot verbracht.

»Na toll«, brummt Nick, weil er sauer ist, dass er jetzt die Folge von Cheers nicht sehen kann, auf die er sich gefreut hatte.

»Du bist ist sowieso zu jung dafür«, sage ich vom Sofa aus, schlapp und mit schleppender Stimme.

Dad hat ganz andere Sachen im Kopf. »Ich hätte dich gestern Abend anrufen sollen, dass du das Boot zu June Parkers Anlegesteg fährst. Dieser Sturm kommt aus der falschen Richtung und bläst direkt den Flussarm rauf. Wir müssen das Boot ans Ufer bringen.«

Genau in diesem Moment reihere ich meinen gesamten Mageninhalt auf den Boden. Zum Glück für alle war ich in den letzten vierundzwanzig Stunden viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, als dass ich viel hätte essen können. Nachdem Dad alles aufgewischt hat, legt er mir eine Hand auf die Stirn und sieht zu Nick, als wär ihm grade klargeworden, dass bei drei Menschen in einem Raum höchstwahrscheinlich jeder von ihnen erkranken wird. Also ist es ein Virus oder so was, nicht nur die KRANKHEIT.

Dads Unentschlossenheit macht mich ganz nervös. Er spricht mit sich selbst. »Wir können jetzt nicht flussaufwärts fahren.« Gedankenverloren schlägt er sich auf die Arme, um warm zu bleiben. »Das Boot ist zu flach, die Schiffsschraube sitzt zu hoch, ich bin nicht sicher, ob es bei diesen Wellen überhaupt reagiert. Vielleicht schaffen wir es bei dem Wind nicht mal bis an den alten Anleger.«

Nick und ich tauschen Blicke. Das Handy klingelt und klingelt immer weiter, bis Nick das Ding schließlich unter mir zwischen den Polstern findet.

»Ja, ja. Ja«, sagt er wenig redselig.

Ohne den Kopf vom Kissen zu heben, bedeute ich ihm zu sagen, wer dran ist. Nick gibt mir das Handy.

»Junge, Junge, diese Meredith Rilke ist ja ganz schön in dich verliebt.« Ich würde zu gerne wissen, wie er das aus einem Telefongespräch heraushören kann. Und was sie Nick alles erzählt hat, dass es so lang gedauert hat.

Als ich dann Macks Stimme höre, bin ich ganz irritiert. »Was hast du meinem Bruder über Meredith erzählt?«, will ich wissen.

Falls er alles über unsere Doppelverabredung ausposaunt hat und dass Meredith und ich gestern zusammen weggegangen sind, muss ich ihn als Freund verstoßen.

»Nichts«, sagt Mack. »Sie hat die Grippe, das ist alles.«

»Ich auch.«

»Na, da hast du’s.«

»Was?«

»Er ist ein cleverer Bursche, dein Bruder«, redet Mack weiter. »Du hast die Grippe, das Mädchen, mit dem du gestern Abend aus warst, hat auch die Grippe. Viren werden durch Körperflüssigkeit übertragen. Zum Beispiel Speichel?« Er lacht lauter als nötig.

»Was habt ihr zwei denn noch gemacht, Juliann und du?«

»Sie wollte mit diesem blöden Gläserrücken nicht aufhören.«

»Mist.« Was, wenn Juliann es bewusst vermeidet, mit Mack allein zu sein, weil sie sich nach Joe verzehrt? Das würde Mack mir nie verzeihen.

Er denkt in dieselbe Richtung. »Hat Meredith was erwähnt, dass Juliann wegen irgendetwas sauer auf mich ist oder so?«

»Nein, aber es könnte damit zu tun haben, dass du high warst. Ich hab nicht den Eindruck, dass Juliann auf so einen Schwachsinn steht. Meredith ganz sicher nicht.« Ich muss mich bremsen, bevor ich verrate, dass ich das mit dem Koksen weiß. Oder dass Meredith und ich zu beschäftigt waren, um viel über andere zu reden.

»Fick dich, Daniel«, wehrt sich Mack. »Es geht nicht immer alles nur um dich und deine Krankheit. Andere Leute haben auch Probleme.«

»Zum Beispiel?«, will ich wissen. »Deine Noten sind hervorragend. Dein Vater trinkt nicht, und sie lassen dich schon Auto fahren.«

»Red nicht über meinen Vater.«

»Scheiße, Mack«, sag ich. »Spinnst du jetzt? Ich hab nichts Schlechtes über deinen Vater gesagt.«

»Tja, dein Vater ist ja auch total entspannt«, erwidert Mack. »Also weißt du gar nicht, wie es sein kann. Meiner erwartet, dass ich Arzt oder Anwalt werde. Immer wieder fängt er davon an. Wie zum Henker soll ich wissen, was ich in zehn Jahren machen will? Ich will mich ganz bestimmt nicht für den Rest meines Lebens jeden Tag zum selben Job schleppen, so wie er, und im Müll nach Videorekordern suchen.«

Mein Kopf pocht, als würde darin ’ne Blaskapelle rummarschieren. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich ihn aus seinem Stimmungstief rausholen kann. Dad kann ich nicht fragen. Er würde gleich spitzkriegen, was mit Mack los ist. Irgendwo in meinem überhitzten Hirn hab ich die Erinnerung, dass Dad mal was über drogenbedingte Depressionen gesagt hat. Ich richte mich auf und bereue es sofort, als mein Hinterkopf aufplatzt und ein Blitz hinter meine Augen fährt.

»Mack ... Kumpel.« Meine Worte sind Blasen, die genau in dem Moment aufspringen, als ich den richtigen Ton finde. Ich kann sie kaum aussprechen, je straffer sich meine Muskeln wie ein Schraubstock um meinen Kopf spannen. »Ich versteh schon. Das Leben ist scheiße, und dann bist du tot. Aber wenigstens bist du lange genug da, um noch was zu ändern. Das ist doch wenigstens etwas wert, oder? Vielleicht solltest du einfach ein paar Wochen mit diesem Zeug aufhören und schauen, ob du dich dann endlich mit Juliann verträgst. Ich glaube, sie mag dich wirklich gerne.«

»Toller Ratschlag vom ewigen Frischluft-Junkie«, meint Mack. »Danke, dass du dir Sorgen machst. Wir seh’n uns.«

Tja, hier steht’s wohl null zu null.

Der Sturm lässt am späten Nachmittag nach. Zu der Zeit hat mich die Grippe voll erwischt. Dad verbannt mich in unsere Kabine, und Nick darf nicht mal reingehen. Dann bringt er mir ein Glas Ginger Ale aus einer alten Dose, die er unten in der Kühlbox gefunden hat. Ich bringe es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass keine Kohlensäure mehr drin ist. Ich bin sowieso nicht sicher, ob ich es runterkriege. Durch die Schiebetür dringen hin und wieder gedämpfte Stimmen. Ein Wort hier, ein Wort da. Mein Kopf versucht sie zusammenzusetzen, wie beim Galgenmännchen, aber dann falle ich in einen so tiefen Schlaf, dass ich mich hinterher weder an die Worte erinnern kann noch an den Grund, weshalb ich sie zusammenfügen wollte.

Als Dad das nächste Mal kommt, um nach mir zu sehen, sagt er, dass Mom angerufen hat und unterwegs ist, dass wir aber schon mal ohne sie anfangen sollen zu essen. Der Gedanke an Essen treibt mich wieder ins Badezimmer, in eine Position auf den Knien, die ich öfter einnehme, als mir lieb ist. Ein Traum verfolgt mich – eine Armee marschierender Krebszellen, mit der Aufschrift AML auf den Uniformen. Eine Reihe unerschütterlicher Krieger säumt einen Hügelkamm, und davor marschiert eine Phalanx von Grippezellen durch das Tal. Trompeten klingen, Fahnen flattern, und am äußersten Rand meines Blickfelds surren Fernsehkameras, während sie meine Eltern interviewen. Daneben steht Mr Walker wie ein Cheerleader gekleidet, die stämmigen haarigen Beine unter einem rosa Faltenrock.

»Pizza?« Nick schon wieder mit seiner Pizza ... Seine Stimme dringt aus der vorderen Kabine in meinen Traum. Mir wird übel.

Dad reagiert schnell. »Ich fahre nirgends hin, außer an den Steg, um deine Mutter abzuholen.« Damit einigermaßen beruhigt, schlafe ich wieder ein.

Ich kriege nicht mit, wann Mom nach Hause kommt. Endlich ist diese Würgerei vorbei. Ich schlafe, zitternd und fiebrig, und gleite durch Träume, die weit von allem entfernt sind, was ich mir in wachem Zustand vorstellen könnte.

Irgendwann später – es ist wieder Abend, aber Gott weiß, an welchem Tag – wache ich schweißgebadet auf und kann tatsächlich die Augen öffnen. Überrascht stelle ich fest, dass ich in der unteren Koje liege, was aber nur logisch ist. So benommen, wie ich war (und vielleicht immer noch bin – ich bin nicht wach genug, um das zu beurteilen), wäre die Leiter schwierig gewesen. Eigentlich unmöglich, denn als ich genauer hinsehe, fällt mir auf, dass sie gar nicht da ist. Dad. Wieder mal eins von diesen Elterndingen, die sie tun: die Möglichkeit, dass du einen Fehler machst und dich verletzt, schon im Vorfeld erahnen und unterbinden. Ob er sich wohl für die Leukämie die Schuld gibt, weil er letztes Frühjahr keine elterliche Vorsichtsmaßnahme ergriffen hat?

Die Hand an der Kabinenwand, schlurfe ich zum Pinkeln aufs Klo. Das Gespenst im Spiegel erinnert nur vage an Daniel Solstice Landon und erschreckt mich so sehr, dass ich ins Bett zurückwanke, ohne ein weiteres Mal hinzusehen. Als ich das nächste Mal aufwache, ist es draußen dunkel, und über Nicks und meinem gemeinsamen Schreibtisch brennt das Licht. Mom sitzt da, den Kopf auf die Arme gelegt. Vielleicht schläft sie. Ich strample ein wenig – es ist viel zu warm – und suche mit den Beinen ein kühles Stück Bettlaken. Als sich die Bettdecke um sie schlingt, spüre ich den Drang, alles abzuwerfen und mich zu befreien.

»Daniel.« Mom schießt hoch und fasst mich am Ellbogen. »Geht’s dir besser.«

»Wie lange bist du schon da?«

»Es ist Dienstagmorgen«, antwortet Mom. »Zwei Uhr noch was, als ich das letzte Mal geguckt hab.« Sie sieht zu, wie ich mich freikämpfe und aufstehe. Als ich in Richtung Toilette schlurfe, entspannt sie sich, als hätte sie befürchtet, dass ich ins Wasser springen will.

Sie flüstert: »Ich dachte, ich lese hier ein bisschen für den Fall, dass du was brauchst, wenn du aufwachst.«

Ich brumme zustimmend. Mein Kopf ist schwer wie eine Bowlingkugel. Ich weiß nicht mal, ob ich ihn den ganzen Weg zum Klo und wieder zurück tragen kann.

»Du bist gerade sechzehn geworden«, sagt sie etwas lauter, als könnte sie es selbst kaum glauben.

Mehr Brummen von meiner Seite. Ich weiß nicht, wovon sie spricht.

»Wusstest du, dass du mitten in der Nacht geboren wurdest, so wie jetzt?«

»Geboren?«, murmele ich durch die geschlossene Tür.

»Ja, dein Vater hat Joe aufgeweckt, damit er dich sehen kann«, erzählt mir Mom. »Er war so um die fünf. Wir hatten diese wunderbare Hebamme, Mary Stewart Elliott. Die war vielleicht zweiundsechzig oder dreiundsechzig. Sie hatte schon Hunderte von Babys zur Welt gebracht.«

»Wie im Film, wo die Hebamme der Frau einen Stock zum Draufbeißen gibt?«, frage ich. »Und der Ehemann unten auf der Treppe sitzt, den Kopf in die Hände stützt und leidet, weil er der Frau, die er liebt, so was Schreckliches angetan hat?« Es ist mein klarster Gedanke seit Tagen.

Wow! Es muss mir besser gehen. Obwohl hier vielleicht mein Unterbewusstsein spricht. Noch klarer als die Hebammenfilmszene sehe ich, was ich Meredith angetan habe. Ich habe ihr Leben für immer verändert und verschwinde dann in einem Nebel aus Fieber und Nachtschweiß. Selbst in ihrem eigenen Fieberwahn hat sie sich bestimmt gefragt, was zum Teufel ich wohl für ein Typ bin, dass ich seit zwei Tagen nicht anrufe.

Obwohl Mom meinen Arm stützt, damit ich mich aufrecht halte, kann ich plötzlich, mitten im Raum, nicht mehr weitergehen. Von dem Gedanken, wie ich Meredith behandelt habe, wird mir noch viel übler als von der Grippe.

»Nein, das hast du falsch verstanden, mein Schatz«, korrigiert mich Mom. »Der Ehemann macht sich Sorgen über alles, was schiefgehen kann. Ein Kind zu bekommen, ist eine komplizierte Angelegenheit, beängstigend. Ich meine, heutzutage ist so eine Geburt viel weniger beängstigend, aber ... trotzdem ...«

Sie verliert sich definitiv in ihren Erinnerungen.

»War ich denn so, wie du es erwartet hattest?« Ich überlege krampfhaft, wie ich sie um das Handy bitten kann, ohne mein Dilemma wegen Meredith zu verraten.

»Na ja, wir hatten ja schon Joe bekommen«, antwortet Mom. »Also wussten wir ungefähr, was wir erwarten konnten. Trotzdem warst du ganz anders. Nicht so gierig, viel geduldiger. Aber von Anfang an neugierig. Sobald du stehen konntest, bist du rumgeklettert. Das hat Joe nie gemacht. Er musste immer nur quieken, und wir sind hingerannt.«

»Kein Wunder, dass ich so verkorkst bin.«

Als sie lacht, weiß ich, dass sie sich über meinen Humor freut. Sie sieht mir ins Gesicht, die Hand an meinem Ellbogen. Sie muss nicht besonders viel nachdenken, um zu wissen, was bei Kindern alles schiefgehen kann.

Beim Frühstück singt die ganze Familie Happy Birthday durch die Wand, um die Quarantäne aufrechtzuerhalten. Nick mit seiner Manchmal-Tenor-manchmal-Bass-Stimme schmettert die Standard-Solozeile »Und viele mehr«. Wonach er sofort die Tür aufreißt und mit Tränen in den Augen in die Kabine kommt. Er tritt von einem Fuß auf den andern.

»Tut mir leid«, bricht es aus Nick heraus. »Tut mir so leid, Dan. Entschuldige. Es kam einfach raus. Ich hab nicht nachgedacht.«

»Vergiss es, Kumpel.« Das ist, wenn man darüber nachdenkt, genauso dumm, wie wenn Leute »Kein Problem« sagen, wenn du sie um Hilfe bittest oder dich über was beschwerst.

Er kramt auf dem Schreibtisch herum, tauscht seine Jogginghose gegen Jeans und sieht zu mir. Ich liege unten in der Koje auf der Decke, zu müde, um darunterzuschlüpfen.

»Wo ist Mom?«, erkundige ich mich.

»Hinten in ihrer Kabine«, sagt Nick. »Sie und Dad streiten, ob sie den Arzt anrufen sollen oder die Bestatterin. Misty Underwood, meine ich natürlich.«

Es ist immer noch ein guter Witz, und wir müssen beide lachen.

Ich stütze mich auf einen Ellbogen. »Kannst du mir das Telefon bringen, Brüderchen? Ich muss dringend mit Meredith sprechen.«

»O ja, ganz bestimmt. Die hat ungefähr schon acht Mal angerufen. Hat aber keine Nachricht hinterlassen. Tatsächlich konnte sie kaum zwei Worte rausbringen mit ihrer Grippe.« Sein Grinsen ist so breit wie das Hausboot. Er ist ungeheuer stolz auf sich.

»Ja, ja, schon gut«, sage ich. »Mein brillantes Kerlchen von Bruder. Hör zu, Sherlock, ich brauche das Handy jetzt. Nicht nächstes Ostern.«

Auf Nicks Worte ist Verlass. Obwohl Dienstag ist und die Freiminuten erst ab sieben Uhr gelten, rufe ich Meredith an. Sie ist immer noch krank und geht nicht zur Schule. Ihre Mutter arbeitet. Nachdem ich ihr versprechen musste, gleich wieder anzurufen, lege ich auf und zähle bis hundertzwanzig, sodass es nach sieben ist. Wir reden eine halbe Stunde, dann kommt Mom, die Aufseherin, und sagt, ich solle mich verabschieden.

Nachdem sie mich wieder in Nicks Koje verfrachtet und zugedeckt hat und alles, legt sie prüfend den Handrücken auf meine Stirn. »Ich schätze, Meredith ist mehr als nur eine gute Freundin?«

Ich kann nicht anders, ich muss einfach grinsen.

»Ich hab ihre Mutter zufällig in der Bücherei getroffen«, erzählt mir Mom. »Sie sagte, die Mädchen fahren dieses Jahr an Thanksgiving vielleicht zu ihrem Vater. Anscheinend wechseln sie sich immer ab.«

»Meredith hat ihren Vater noch nie erwähnt.«

»Das ist traurig.«

Stimmt. Was gibt es noch alles, das ich nicht von ihr weiß? Das ist sogar noch trauriger als Holden, wie er zu Phoebe ins Zimmer schleicht und nur flüstert, damit seine Eltern ihn nicht entdecken und Zoff machen, weil er von der Pencey geflogen ist. Er begreift nicht mal, dass es sogar besser ist, einen Vater zu haben, der Ärger macht, als gar keinen.

Mom zieht die Decke noch einmal zurecht und schließt die Fensterklappen. »Noch ein Nickerchen, dann hast du nachher vielleicht Appetit auf Abendessen.«

Ich warte, bis sie weg ist, ziehe das Handy unter dem Kissen hervor – sie hat es ganz vergessen – und rufe Meredith an.

»Daniel«, sagt sie sofort.

»Ich wollte dir noch was sagen.«

Sie fragt nicht, was, und kichert auch nicht. Das Mädchen ist der Hammer.

»Ich hoffe, das ist nicht blöd, übers Telefon und so, wo ich dir nicht in die Augen sehen kann, aber ich kann einfach nicht mehr warten.«

Ich höre, wie sie einatmet, vielleicht sogar die Luft anhält vor Spannung. In meiner Fantasie trägt sie einen cremefarbenen Pyjama mit kobaltblauer Paspelierung, so ein Oberteil, das wie ein Männerhemd aussieht und vorne Knöpfe hat. Direkt aus dem Katalog von Victoria’s Secret. Die oberen Knöpfe sind offen, und ich sehe diese Knochen oben an ihrem Hals. Ihre Schlüsselbeine. Mit der empfindlichen Haut. Ich mag ihre empfindliche Haut.

Jetzt, durch die Verzögerung, hat sich eine Riesenspannung aufgebaut. Ich will es nicht vermasseln. Und ich hoffe, sie weiß, dass ich es ernst meine.

»Ich liebe dich.« Und als sie nur ausatmet, füge ich hinzu: »Ich schätze, das wusstest du schon.«

»Ja«, sagt sie.

Jetzt ist es offiziell. Ich kann wieder schlafen.

Ohne dass ich darüber diskutieren muss, beschließt Mom, dass Besuche von Mack und Meredith gut für meine Gesundheit sind. Manchmal kommen sie zusammen, und wir spielen Karten oder Risiko oder sehen einen Film. Und manchmal rudert Mack Meredith nur rüber und lässt uns allein. Nicht ganz allein. Dad sitzt in der hinteren Kabine und lektoriert. Bestimmt erinnert er sich daran, wie es war, sechzehn und verliebt zu sein, denn er macht immer einen Höllenlärm auf Deck, bevor er in die vordere Kabine kommt. Ich darf Meredith nicht mit in unsere Kabine nehmen, das ist eine von Moms Regeln. Zu spät, will ich sagen, aber es ist ein Geheimnis, das zu hüten ich genieße. Meredith ebenfalls.

Sie besucht mich ganz spontan, weil sie es liebt, mich zu überraschen. Weil ich ein Problem mit dem Schlucken habe und es wehtut zu sprechen, bringt sie Bücher mit, die sie mir vorliest. Keine kitschigen Gedichte. Und ich musste nicht mal was sagen. Das ist das unglaublich Tolle an ihr, dass sie so was auch nicht mag. Sie bringt Artikel aus der Newsweek mit oder die Schülerzeitung. Sie liest mir etwas aus einem Buch über Afrika vor, von einer Pilotin namens Beryl Markham. Eine Pionierin: Das ist etwas, das Meredith unglaublich gefällt. Je mehr sie daraus vorliest, umso klarer wird mir, warum sie dieses Buch ausgesucht hat. Diese Markham ist zu Orten geflogen, an denen keine andere Frau vor ihr war, und auch kaum andere Piloten. Es ist die Zukunft, die mir die vorlesende Meredith als das Morgen der Vergangenheit präsentiert. Total cool.

Während sie liest, schließe ich meistens die Augen. Dann kann ich besser hören. Ich höre, wie ihre Hand die Seite glatt streicht, wie Haut und Papier sich leicht berühren, und das versetzt mich in unsere eine perfekte Nacht zurück.

»Was machst du da?«, fragte sie ungefähr beim zweiten Mal, als sie mir aus Westwärts mit der Nacht vorlas.

Ich machte die Augen auf. »Was meinst du?«

»Deine rechte Hand«, sagt Merry. »Du reibst deine Hose, da auf dem Bein.«

Es ist schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlt, die Person, die du liebst, so nah bei dir zu haben, ihre Stimme ganz um dich herum in diesem warmen Raum, fern von den anderen, und nicht neben ihr liegen zu dürfen und ihre Haut mit deiner verschmelzen zu lassen. Ich habe nicht eine Sekunde dieser Nacht vergessen. Ich träume ständig davon. Aber am deutlichsten erinnere ich mich immer daran, wenn sie hier ist und spricht, wenn ihre Stimme in mein Unterbewusstsein dringt oder was auch immer. Danke, Doktor Freud. Ich überlege verzweifelt, wie ich ihr beschreiben kann, was ich fühle, ohne lächerlich zu klingen, wie ein einziges großes Klischee. Denn das ist es nicht.

Sie sieht besorgt aus. »Warum machst du das? Tut da was weh?«

Ich höre einen Anflug der Panik, wie ihn meine Mutter ständig in der Stimme trägt.

»Nein. Ich erinnere mich bloß. An unsere Nacht.«

Sie hält nur eine Sekunde inne, ihre Augen weiten sich, und dann sieht sie wieder in ihr Buch und liest weiter. Sie wird rot.

Ich kann nicht lügen. Wir verbringen auch viel Zeit mit Küssen. Nachdem ich wieder gesund bin und mich bewegen kann. Plötzlich trägt sie bei ihren Besuchen weite T-Shirts ohne BH, sodass wir nicht viel Zeit verschwenden müssen. Ich würd nur zu gerne wissen, wie die Typen in dem Filmen das immer so elegant hinkriegen. Es war nicht meine Idee, die Unterwäsche wegzulassen, aber es hilft.

Mom erklärt Meredith bis in alle Einzelheiten, dass ich ansteckend sein kann mit irgendwelchen Sachen, von denen sie nicht einmal wissen. Nach dieser Warnung sage ich Meredith, dass wir uns nicht mehr küssen dürfen. Sie hat noch siebzig Jahre vor sich. Aber als sie androht, nicht mehr wiederzukommen, falls ich damit ernst mache, weiß ich, dass ich das schon jetzt nicht überlebe.

»Na, gut«, sagt sie, »dann muss ich eben mit Leonard ausgehen. Vielleicht hatte er ja doch recht mit dir.«

»Warum – was hat der Mistkerl gesagt?«

»Das war ein Witz, Daniel. Beruhige dich.«

»Bitte, sei nicht sauer. Das ist auch für mich neu. Können wir darüber reden?«

»Reden ist zwecklos. Ich will keinen Freund, der mich nicht küssen will.«

»Ich habe nie gesagt, dass ich das nicht will.«

»Tja, dann wäre das ja geklärt. Und halt jetzt bloß die Klappe!« Sie setzt sich auf meinen Schoß und überzeugt mich.