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Als ich Holden Caulfield kennenlernte, wusste ich noch nicht, dass ich sterbe. Er ist viel cooler als ich, aber mir gefällt seine Art zu beschreiben, wie es ist, er zu sein. Offen. Direkt. Echt. Und obwohl seine Geschichte viel aufregender ist, werd ich euch trotzdem auch meine erzählen. Vielleicht ist es das Letzte, was ich tue.
Wie ich auf Holden gekommen bin? Der Fänger im Roggen ist Pflichtlektüre für die zehnte Klasse, zusammen mit ’ner langen Liste anderer Bücher – hauptsächlich welche, von denen ich nie was gehört hab. In der Essex County Library gibt’s vier Ausgaben vom Fänger. Abgestoßene Ecken, ausgeblichene Einbände. Offenbar haben das sehr viel mehr Leute gelesen als nur ich. Die Titelseite war es, die mich gepackt hat. Einfach braun mit kleinen gelben Buchstaben, als wäre es gar nichts Besonderes. Und durch die Art und Weise, wie Holden schreibt, kann man ihn fast denken hören. Es ist irre, wie klar ich die Stimme dieses Typen in meinem Kopf höre.
Ihr müsst entschuldigen, wenn ich ein wenig konfus erzähle. Aber ich hab nicht viel Übung mit so was, und viel Zeit hab ich auch nicht. Laut Aussage der Ärzte.
Daniel Solstice Landon, das bin ich – aber bald schon ein Haufen Staub. Mein Name stammt aus der Bibel, auch wenn meine Eltern das nie unterschreiben würden. Sie glauben an den großen Kosmos, nicht an Gott. Daher stammt auch Solstice – Sonnenwende – direkt aus der Hippie-Phase meiner Eltern, eine Phase, in der sie noch immer feststecken. Das ist auch so ’ne Sache, die sie nie zugeben würden. Meiner Meinung nach suchten sie Daniel aus, weil ihnen die Vorstellung von diesem kleinen Kerl gefiel, diesem Underdog. Um ehrlich zu sein, hab ich erst durch ein Mädchen erfahren, was der Name bedeutet, ein Mädchen, mit dem ich letztes Jahr gehen wollte, aber ich war zu feige, sie zu fragen. Cassie Jones. Sie hat gesagt, Daniel bedeute »Gott ist mein Richter«. Ganz schön krass.
Krank zu sein, macht einen brutal zum Mittelpunkt. Das ist ungefähr so, als wäre man Hauptdarsteller im Theaterstück der Mittelschule, und jeder kleine Sechstklässler-Teenie starrt dich in der Cafeteria an und streitet um den Stuhl, auf dem du gesessen hast, oder will unbedingt dieselbe Kaugummisorte kauen wie du. Da, wo wir in Virginia wohnen, sind immer noch die sechste bis neunte Klasse zusammen in einer Schule. Laut Mom besagt die Erziehungstheorie, dass Teenager erst in der zehnten Klasse ruhiger werden, also ist es wohl besser, all die herumwirbelnden Hormone zusammenzustecken. Ich vermute ja, dass sie dich zermürben wollen. Vier Jahre mit Sechstklässlern machen jeden fertig. Die Lehrer hat es auf jeden Fall erledigt.
Letzten Winter, bevor wir von der Leukämie erfuhren, spielte ich den Baron von Trapp in The Sound of Music, der Musical-Version des Films Die Trapp-Familie. Zu der Zeit hat mich die Aufmerksamkeit nicht so gestört. Es war eher schmeichelhaft, auch wenn die Sechstklässler-Groupies jeden einzelnen meiner Schritte verfolgten. Zumindest mochte mich jemand. Und ich hatte Glück. Ich hatte nur ein einziges Lied, das ich allein singen musste, ich war der Gute, und ich durfte Marissa Bennett küssen. Wenn man die Proben und Aufführungen zusammenzählt, ganze zweiundzwanzig Mal. Mein großer Bruder meinte, ich solle es genießen, denn die meisten Neuntklässler küssen niemanden, egal, was sie dir erzählen.
Abgesehen vom Küssen ist es viel komplizierter, im Rampenlicht zu stehen, als ihr vielleicht denkt. All die Zeit, in der ich Marissa küsste, war mir nicht klar, dass ich mir eines Tages wünschen würde, die Leute wüssten nicht alles Erdenkliche über mich. Wenn du krank bist, reden sie hinter deinem Rücken über dich. Sie verbreiten all die ekelhaften Details, als würden sie M&Ms unter sich aufteilen, aber mach dir nichts vor, es ist nicht so, als ob sie dich kennenlernen wollten. Sie reden nicht einmal mit dir.
Das ist zum Teil der Grund, weshalb ich Holden bewundere. Jeder weiß, dass er aus diesem Nobelinternat rausgeflogen ist. Die Lehrer, der Rektor, auch sein Zimmergenosse Stradlater und die Jungs im Wohnheim haben alle ihre eigene Meinung dazu, warum er es nicht so weit hätte kommen lassen sollen. Und sie sind alle scharf drauf, ihm zu sagen, was sie denken. Doch der gute Holden tut so, als würd ihn das gar nicht interessieren. Okay, klar, er lässt sie zum Teil deswegen auflaufen, weil es sie verdammt noch mal nichts angeht. Er respektiert diese Leute nicht. Aber hauptsächlich, denke ich, kommt es daher, weil er erkannt hat, dass es am Ende nicht wichtig ist, auf welche Highschool du gehst.
Ganz gleich, wie sehr ich mich selbst davon überzeugen will, dass es egal ist, ob alle von mir und der KRANKHEIT wissen, ist es bei Leukämie trotzdem was anderes. Am Ende steht der Tod. Also ist es doch nicht egal. Es gibt bloß überhaupt nichts, was ich dagegen tun kann.