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Manchmal, im Januar oder Februar, fegt ein besonderer Wind aus dem Osten über den Fluss. Furchterregend, so wie Tornados in Virginia, und kein normales Wettervorkommen. Der Ostwind kommt klammheimlich und verbreitet diese Stimmung, als wenn kleine Kinder auf den Weihnachtsmann warten, aufgekratzt, aufgeregt, aber auch ein bisschen ängstlich. Nicht wie die Glockenschläge eines Ringrichters beim Wrestling, wenn der Nordostwind kommt. Nicht wie diese unangenehm kitzelnde Julibrise aus dem Süden, die dich wie eine komische Alte am Arm streichelt, bis du reingehen musst, um vor dieser Brechreiz verursachenden Süße zu flüchten.
Der Ostwind kommt nur mitten im Winter, zur Eisbärenzeit, die in diesem Teil von Virginia selten ist. In manchen Wintern wird es nie so kalt. Aber wenn er kommt, treibt er laut und protzend über den offenen Fluss. Er greift spielerisch neckend ins Riedgras. Er setzt Eiszapfen unter Autos und lässt Abflussrinnen zufrieren. Keiner von diesen Fernsehwettermenschen in ihren zirkusbunten Jacketts mit passenden Taschentüchern und Um-Gottes-willen-bitte-nicht-Stimmen kann ihn vorhersagen. Aber wenn er kommt, fühlt es sich an wie ein Bilderbuch aus der Kindheit, an das du dich vage erinnerst und nur vergessen hast, bis der Wind es dir wiederbringt.
Die Worte unter dem Wind sind wie Merediths Finger auf meinem Rücken, die sich in meine Haut krallen, mich hart machen und mir sagen, dass ich schnell machen soll. Es ist ein unbestimmtes Gefühl, das ich nicht genau beschreiben kann. Du willst es aber auf keinen Fall verpassen. Es schafft die Verbindung zu einem anderen Ort, an dem du bis jetzt noch nicht mal gewesen bist. Es sagt dir: Sicher, Umstände können Menschen trennen, Umstände, die du nicht kontrollieren kannst, aber trotzdem gibt es da was, etwas zwischen dir und diesem Ort, das du nicht beschreiben kannst. Oder sehen. Dieser Wind bringt überhaupt keine Gewissheit, nur Möglichkeiten.
Schon als wir am Jeanette Drive wohnten, vor dem Hausboot, mochte ich den Winter am Fluss lieber als den Sommer. Der Winter ist schärfer. Der Fluss öffnet sich. Du siehst, wie er sich durchs Land schlängelt. Du weißt, ohne es zu sehen, dass da Otter und Kraniche und Reiher durchs Schilfrohr streifen. Der Ostwind spricht laut, mehr von der Zukunft als von der Gegenwart.
Mom mag sein Heulen nicht. Dad neigt nur kommentarlos den Kopf. Er ignoriert ihn einfach. Nick tut so, als wäre er ein Riese, der im schlammigen Flussbett überwintert, sich umdreht und beim Schlafen einen fahren lässt.
Doch die flitzig schnellen Winterwolken, die dieser Ostwind vor sich hertreibt, heben mich hoch und tragen mich fort. Fort von Nick und Joe, fort von Mom und Dad, von allem, was ich kenne. Wenn ich als Kind mit diesem Wind flog, war ich erwachsen. Einfach so. Ich konnte alles tun. Auf diesem Wind zu reiten, war, wie in die Zukunft zu reisen. Einmal, Jahre vor der KRANKHEIT, habe ich mich als Vater einer langhaarigen Tochter gesehen, ihr Haar so rot wie Dads. Ich trug das Bild meiner Frau in der Brieftasche und zeigte es jedem. Ein anderes Mal hab ich gesungen, nicht wie ein Rockstar, sondern wie ein Bauer, der seine Lieder ausstreut und -wirft wie Samen oder Faschingsbonbons. Die Leute sammelten sie auf, so schnell sie konnten, als wären sie wertvoll. Und ich musste zurückweichen, damit ich nicht bedrängt wurde, so beliebt war ich. Der Ostwind trug mich in Räume innerhalb von Räumen, wie in einer Zeichnung von M. C. Escher. Schwarz und weiß, aber jede Menge klitzekleine Details und immer wieder ein neuer Raum hinter dem nächsten und noch einer. Ich hatte alles so deutlich vor Augen, dass ich es in Sekundenschnelle hätte aufzeichnen können. Aber als ich es versuchte, wurde nichts daraus, und ich warf die Zeichnungen weg.
Mit der wütenden Leukämie unter meiner Haut, die zwischen Knochen und Muskeln Verstecken spielt, liege ich in diesem Winter wach, wenn die Temperatur unter null Grad fällt und es friert. Ich lausche und warte und hoffe, dass der Ostwind wiederkommt und mich wegträgt. Ich muss diese Zukunft sehen. Ich will wissen, ob ich mich richtig erinnere, ob sie immer noch da ist, denn die Details weiß ich jetzt schon nicht mehr richtig.
Nach Weihnachten, nachdem Mom darauf beharrt, dass wir bis zum Frühling nicht mehr aufs Hausboot gehen, schlüpfe ich mehrmals aus dem Fenster unserer Wohnung und gehe zum aufgelösten Yachthafen oder zur Brücke, weil ich Angst hab, der Autolärm der Route 17 könnte den Wind übertönen. In eine Decke gewickelt stehe ich unter dem Winterhimmel am Ufer wie ein einsamer afghanischer Berghirte und horche nach dem Ostwind, nach einem Hinweis auf meine Zukunft. Als er nicht kommt, fange ich allmählich an zu glauben, dass ich mir alles nur eingebildet habe.