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Als wir zum Supermarkt kommen, läuft die stellvertretende Geschäftsführerin draußen unruhig auf und ab. Effies Gesicht, leicht aufgedunsen von zu vielen Donuts, hat rote Flecken. Sie war früher eine Kundin von Mom bei der Tafel, einem inoffiziellen Ableger der örtlichen Wohltätigkeitsorganisation, die kostenlos Essen verteilt, meistens überschüssigen Käse und Fleisch aus Rückrufaktionen. Mom hat dieses Projekt vor Jahren in Tappahannock ins Leben gerufen. Es ist ein bewährtes kommunales Verfahren zur Vermögensumverteilung in sehr bescheidenem Rahmen. Manchmal helfen Mack und ich dabei, die Kisten auszupacken und in einzelne Päckchen zu sortieren. Jetzt, wo Effie den Job im Supermarkt hat, ist sie quasi aufgestiegen. Eine von Moms Erfolgsstorys.

»Effie.« Mom weicht den automatischen Türen aus, um die dicke Frau zu umarmen. Effie trägt eine Schürze mit einem lila Löwen drauf. »Was ist los?«

»Sie kürzen meine Stundenzahl.«

»Ach, Effie!«

Mom nimmt ihre Hände und führt das Mädchen zu einer Bank im Schatten. Effie hat geweint, aber jetzt, wo sie Publikum hat, fängt sie an zu schimpfen und wird immer lauter. Das kleine Engelstattoo auf ihrer Schulter tanzt, während sie sich in Rage redet.

»Ich krieg keine Sozialleistungen, wenn ich weniger als vierzig Stunden arbeite. Keine Krankheitstage. Keinen Urlaub. Das ist Beschiss.«

»Wer hat das angeordnet.«

»Der Regionalleiter in Raleigh.«

Ich lehne mich gegen das Gebäude, und nur meine Zehen ragen in die Sonne. Es ist fast, als wäre ich unsichtbar, während die beiden in ihrer Wut baden. Das ist echt mal eine Atempause, weil Mom mich den ganzen Sommer kaum zehn Minuten allein lassen konnte. Während ich hier stehe und Kunden rein- und rausgehen sehe, wird Moms Hals hinten ganz rosa. Sie wollte nur Besorgungen machen, deshalb hat sie sich nicht wie sonst mit Sonnenschutzfaktor 50 eingeschmiert. Diesen Sommer ist sie plötzlich ganz verrückt nach Sonnenschutz, um den sie sich vorher kaum gekümmert hat. Obwohl sie das nicht weiter erklärt, ist es offensichtlich, dass es mit der drohenden Gefahr zusammenhängt, die die KRANKHEIT in unser Leben gebracht hat.

Ich bin nicht der Einzige, der leidet. Ich finde es furchtbar, dass sie und Dad auf Zehenspitzen durch die Tage gehen, um dem auszuweichen, was mich erwischt hat. Sie haben Angst, vor mir darüber zu sprechen. Sie versuchen alles in ihrer Macht Stehende zu tun, damit das Leben läuft wie immer. Aber das ist genau der falsche Ansatz, denn wie immer ist ja genau das, was uns hierher gebracht hat. Weil unsere Eltern sich so viel Sorgen um mich machen, leidet Nick am meisten unter jeder Entscheidung. Als Joe damals am Wochenende nach Hause kam, überfielen sie ihn damit, sobald ich aus dem Zimmer war. Das restliche Wochenende hörte er nur Musik und redete kaum mit mir. Keine ätzenden Sprüche, keine witzigen Geschichten – er stand definitiv unter Schock. Immerhin hat er nicht die Garagenfenster zerschlagen, so wie Holden, als sein Bruder Allie starb, aber das kann ja immer noch kommen. Wenn alles so läuft wie erwartet.

An jenem Sonntag ist Joe ganz früh wieder abgereist, ohne sich großartig zu verabschieden. Keiner von ihnen kapiert, dass es die Angst ist, weshalb es mir so dreckig geht, und nicht der Krebs.

Nachdem ich Mom und Effie zehn Minuten zugehört habe, wie sie hin und her diskutieren über die Ungerechtigkeit willkürlicher Beschäftigungsmodelle, Virginias konservative Politik und den traditionellen Hass auf Gewerkschaften und Minderheiten, läuft mir der Schweiß in Bächen den Rücken runter.

»Mom.«

»Eine Minute noch, Daniel.«

»Mom, gib mir die Liste. Wir können uns an der Kasse treffen.«

Sie sieht mich an und lächelt – ein echtes Lächeln, zum ersten Mal seit dem Frühstück. Jemand braucht sie, und sie kann helfen, ohne an eine Beerdigung denken zu müssen. Was für eine Erleichterung!

»Danke.« Und sie lässt mich gehen ohne das sonst übliche »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«.

Auf der Liste stehen sechs Sachen mit Vitamin C – irgendwo hat Mom gelesen, dass es gut gegen Übelkeit ist, und seither spricht sie von nichts anderem. Die Natur heilt sich selbst – das ist in unserer Familie Dauerthema. Aber mal ehrlich: Warum hört die Natur nicht einfach auf, solche Krankheiten zu produzieren? Dann müsste sie nicht so viel Energie darauf verschwenden, Heilmethoden zu finden.

Da ich schon Übung im Einkaufen habe, wähle ich die billigste Sorte Orangensaft, die Eigenmarke des Ladens, die man dann mit Wasser mischt. Aber ich prüfe auf der Rückseite noch die Liste mit den Vitaminen. Daniel Vitamin Landon – vielleicht krieg ich damit einen neuen Spitznamen. HC würde sich beölen.

Das Süßigkeitenregal weckt mein Interesse. Mädchen mögen Süßigkeiten. Leider hab ich keine Ahnung, was man für Mädchen aus Charlottesville aussucht oder überhaupt für Mädchen, da wir zu Hause NIE Süßigkeiten haben. Ich zögere bei den Schokoküssen – zu offensichtlich, zu blöd. Gerade als ich überlege, ob ich überhaupt etwas zu der Verabredung mit den Zwillingen mitbringen soll und was außer Süßigkeiten noch gehen würde, katapultiert sich mein Magen erst nach oben und saust dann in einen Abgrund. Ich stehe vornübergebeugt und suche einen Platz zum Hinsetzen, als Mom um die Ecke kommt.

Sie schiebt sich an einem Kunden vorbei und packt mich am Arm. »Effie!«, schreit sie.

Mir platzt fast das Trommelfell. »Ist schon gut, Mom. Das geht gleich vorbei.«

Am anderen Ende des Regals bleiben die Leute stehen und starren mich an. Was meine Mutter nicht weiter stört. Sie schiebt Müslipackungen von einem Stapel Pappkartons und zieht mich dahin. Effie und der Verkäufer sausen ebenfalls zum Ende des Regals. Chipstüten fliegen durch die Gegend.

»Sollen wir einen Krankenwagen rufen, Miz Landon?«

»Nein«, krächze ich. »Bitte nicht, Mom, das geht vorbei.«

»Nein, nein, es geht ihm gut.« Das sollte sie sich mal selbst sagen. »Tut mir leid, Effie. Ich hab nur Panik bekommen.«

Der Verkäufer, der aussieht wie ein Junge in meinem Spanischkurs letztes Halbjahr, nur dass er größer ist und mehr Akne hat, gibt mir aus seiner hinteren Hosentasche einen Lappen. »Wasser?«, fragt er.

»Das wär prima.« Ich verdrehe die Augen und er auch. Mütter.

Wieder zurück auf dem Boot biete ich ihr an, die Sachen aus dem Auto zu räumen, aber Mom besteht darauf, dass ich mich hinlege. Dann höre ich aus der Kombüse die Handytasten piepsen und weiß, dass sie die Heilpraktikerin anruft, um vom neuesten Vorfall zu berichten. Ich bin nicht der beste Patient, den sie je hatten, aber ich halte sie auf Trab.

»Hier, Schätzchen, trink das.« Mom gibt mir einen Becher, über dem sich Dampf kräuselt. Draußen sind fast vierzig Grad, und sie will mich mit Heißgetränken aufpäppeln.

Ich schnuppere. »Bäh.«

»Misty sagt, ein Lavendelaufguss hilft gegen Krämpfe.«

»Mein Magen tut aber nicht mehr weh.«

»Sie meint, es verhindert auch neue Krämpfe.«

»Weiß sie denn, was sie hervorruft? Das wär vielleicht ein besserer Ansatz.«

»Daniel, hör auf damit. Misty hat viele Krebspatienten.«

»Ja, aber leben davon noch welche als Referenz für Mistys Heilmethoden?« Später höre ich, wie sie am Telefon weint. Misty Underwood, der Leonard Yowell in einem seiner helleren Momente den Spitznamen Miss T. Undertaker – also Bestatterin – verpasst hat, ist bei derartigen Zusammenbrüchen als Zuhörerin am besten geeignet. Wenn sie allein ist, hat Mom nah am Wasser gebaut, wobei ich das vor diesem Sommer nicht großartig bemerkt habe. Dad ist am Flughafen von Richmond, auf dem Weg zu einer Präsentation bei seinem größten Kunden, einem Schulbuchverlag in Chicago.

Nick steht in der Tür zu unserer Kajüte, den stets präsenten Fußball gegen die Hüfte gestemmt.

Er guckt mich böse an. »Toll gemacht. Mom ist völlig durch den Wind.«

»Das war keine Absicht, okay? Blödmann.«

»Wie auch immer«, sagt Nick. »Aber warum machst du das jedes Mal, wenn Dad nicht da ist?«

»Ich mache das nicht. Es macht das.« Ich werfe das Buch, das ich gerade lese, in seine Richtung. Er duckt sich, und es schlittert übers Deck bis zum Bootsrand und fällt in den Fluss.

»Das ist ein Büchereibuch«, rufe ich und versuche aufzustehen, aber mein Magen lässt mich nicht.

Nick kickt seine Schuhe weg, klettert über die Reling und springt mit perfekter Arschbombe ins Wasser, dass alles spritzt. Als er wieder auftaucht, hält er das Buch über dem Kopf. »Und der Gewinner ist ...«

Es ist unmöglich, nicht zu lachen. HC kriegt ein unerwartetes Vollbad. Das würde ihm gefallen. Wenn die Bücherei das Buch nicht zurücknimmt, muss ich es zwar bezahlen, aber wenigstens hab ich dann meine eigene Ausgabe. Sogar schon unterstrichen.

Ihren ersten Zusammenbruch hatte Mom im Juli, als sie rausfand, dass die Arzthelferin unseres Hausarztes das mit der Leukämie Macks Mutter gesteckt hatte. Und Mrs Petriano ist eine Klatschtante, was es noch schlimmer machte. Die Essex-County-Gerüchteküche vom Feinsten. Durch die Wand konnte ich hören, wie meine Eltern sich stritten. Hausboote sind nicht für Privatsphäre gebaut.

»Sylvie«, sprach Dad mit viel Geduld in der Stimme, was die Worte geschmeidiger machte. »Du kannst es nicht ewig geheim halten.«

Damit ließ sich Mom allerdings nicht besänftigen. »Sie könnten uns wenigstens Zeit lassen, selbst damit zurechtzukommen, bevor alle anderen ihr Mitleid über uns ausgießen.«

»Sprich leise.«

»Carla Petriano ist das größte Klatschmaul der Stadt.«

»Sie ist die Mutter von Daniels bestem Freund«, sagte Dad. »Sie würde nichts tun, was ihm schadet.«

»Warum soll er von Fremden jetzt anders behandelt werden als sonst?«, entrüstete sich Mom.

»Sei fair. Carla ist wohl kaum eine Fremde.«

Dann kam etwas Unverständliches, bei dem mein Vater mit der Hand gegen die Wand schlug. »Verdammt noch mal, Sylvie. Das betrifft uns alle, nicht nur dich.«

»Denkst du, das weiß ich nicht, Red?«, sagte Mom. »Sieh dir Joe an. Er hält sich fern. Und Nick. Der strengt sich so sehr an, nicht darüber zu reden, dass er überhaupt nichts mehr sagt.«

»Außer, wenn es um Fußball geht.« Aber nur mein Vater lacht, trocken und kurz.

»Auch egal«, fährt meine Mutter fort. »Er ist zu jung, um zu verstehen, wie ernst die Sache ist.«

»Ich glaube, da irrst du dich. Ich denke, er versteht es nur allzu gut.« Dad ist jetzt todernst. »Nick sieht, wie Daniel vor seinen Augen dahinsiecht. Er sieht, wie er mitten in der Nacht zur Toilette rennt. Das ewige Wäschewaschen. Gestern hat Daniel es nicht mal geschafft, um das Boot zu schwimmen, ohne sich an der Festmacherleine auszuruhen. Er konnte mal quer durch den ganzen Fluss schwimmen, verdammt!« Dads Ärger war laut und deutlich zu verstehen.

Mom unterbrach ihn. »Meinst du, Nick sollte mit einem Therapeuten sprechen?«

»Vermutlich.«

»Aber wir können uns nicht den und Mexiko leisten«, sagte Mom. »Wir waren uns einig, dass Daniel an erster Stelle steht. Deshalb hat mich das mit Judy auch so genervt.«

»Sie versucht nur zu helfen. Sie meint es gut.«

»Wenn ich für jedes gut gemeinte Wort dieser Leute einen Dollar kriegen würde ...!«, erboste sich Mom

»Dieser Leute?«, sagte Dad. »Vor fünf Wochen waren diese Leute noch unsere Freunde.«

»Tja, die wissen aber nicht, wie es ist«, erwiderte Mom. »Mit ihren Plattitüden und Aufläufen und Früchtekuchen! Was lesen die denn für Ratgeber?«

»Du würdest es ihren Kindern nicht wünschen.«

Es wurde still, und ich setzte mich automatisch auf, um besser mithören zu können. Als würde gleich die Weltfriedensformel verkündet werden.

Die Stimme meiner Mutter war langsamer und unsicherer, als würde sie an Fahrt verlieren, als wäre die Diskussion eine Art verbaler Einlauf, der sie bereits leer gespült hatte. »Doch, das tue ich. O Gott, Red, ich wünschte, es wäre das Kind einer anderen. Sofort. Und ich wäre die Erste, die Schokoladenkuchen backt.«

»Das hier ist aber nicht Teil eines großen Masterplans zur Bestrafung der Landons«, entgegnete Dad. »Es ist, wie bei Mau-Mau eine Sieben vorgesetzt zu bekommen. Diesmal sind wir dran. Ein anderer Junge in einer anderen Stadt ist der nächste. Krankheiten wie Leukämie passieren einfach.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Mom. »Es kann nicht einfach Zufall sein. Es gibt biologische Gründe, gesundheitliche Dinge, die gewissen Menschen zustoßen und anderen nicht.«

Mehr Gemurmel, tonlosere Stimmen, erschöpft, drauf und dran, sich geschlagen zu geben. Die Tür der Kabine wurde aufgemacht, und Dads Gummisohlen quietschten übers Deck. »Sylvie, du musst das loslassen. Du hilfst den Jungen nicht, wenn du die ganze Zeit über wütend bist. Es ist nicht deine Schuld, dass Daniel krank ist.«

»Er ist nicht einfach krank. Ich wünschte, er wäre einfach krank. Er stirbt.« Sie verschluckte sich an ihren eigenen Worten, und ich bekam seine Antwort nicht mit. Dann sagte sie: »Wenn es Zufall ist, wenn es keine medizinische Erklärung gibt, wie soll es dann ein Heilung geben?«

»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Dad. »Du reißt meine Worte jetzt aus dem Zusammenhang. Ich meine, du musst aufhören, dir die Schuld für etwas zu geben, das du nicht beeinflussen kannst.«

Sie flüsterte nur noch. Ich konnte sie nicht verstehen, und Dad anscheinend auch nicht, denn er hörte auf zu reden und ging übers Deck zu der Stelle zurück, wo sie wohl stand, immer noch in der Kajüte. Und dann sagte sie die Worte, die mich seit genau diesem Tag verfolgen – gleich als Erstes am Morgen, an verregneten Nachmittagen und mitten in der Nacht. Mit tonloser Stimme – ohne Ärger, ohne Verzweiflung, ohne Enttäuschung – hängte Mom die Worte eins nach dem anderen in die Luft wie unendlich schwere Christbaumkugeln, die alle Zweige nach unten ziehen.

»Aber ich hab ihm diese Gene gegeben.«