3
Ich schreibe das alles hier im Sommer nach dem Wechsel ins neue Millennium. Was für ein Reinfall! Das Jahr-2000-Problem war ja wohl der größte Flop seit Urzeiten! Und niemand, besonders ich, macht sich für den Rest des Jahrhunderts noch große Hoffnungen. Ich meine, die Kroaten töten die Serben, die Russen haben in Tschernobyl alle verstrahlt, weigern sich aber immer noch zuzugeben, dass es ihre Schuld war, und Saddam Hussein erschießt weiterhin Leute und verscharrt sie am Straßenrand, weil ihm nicht gefällt, wie sie ihre Sarongs wickeln oder wie auch immer diese Kopfbedeckung heißt, die die Leute in Wüstenländern tragen, um keinen Sonnenstich zu kriegen.
Das einzig Gute am Millenium-Bug war, dass alle mal innehalten und über die Zukunft nachdenken mussten. Ihre ideale Zukunft. Diejenigen, die dachten, es sei das Ende der Welt, diejenigen, die dachten, sie würden all ihr Geld verlieren, weil die Banken ihre Konten einfrieren und die Börse zusammenbricht, diejenigen, die dachten, jetzt übernehmen die Terroristen die Macht: Sie alle waren gezwungen, ihr Leben aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Letzten Herbst haben wir bestimmt in jedem Fach etwas darüber geschrieben. Wenn also jemand fragt, wie es mir mit der KRANKHEIT geht, sage ich: »Es ist wie mit dem Millenium-Bug, nur auf persönlicher Ebene.«
Um euch die Wahrheit zu sagen: Im Vergleich zu Holdens Leben ist meines einfach. Eigentlich im Vergleich zum Leben vom ganzen beschissenen Rest der Welt. Ein Erwachsener würde sagen, das ist doch gut, aber ich weiß es besser. Und HC auch. Erwachsene hassen Komplikationen, auch wenn sie es sind, die das Leben interessant machen.
Also, Leukämie. Hier sind die Fakten. Die meiste Zeit über fühlst du dich beschissen. Du wirst zur totalen Flasche. Zumindest behauptet Nick das, weil ich nicht mehr wie im letzten Sommer mit ihm Kicken gehe. Es hat keinen Sinn, ihm zu erklären, dass das mehr damit zu tun hat, dass ich aus solchen Spielen rausgewachsen bin, als mit der KRANKHEIT. Außerdem schlafe ich mehr.
Schlafen hilft, weil du vergisst. Das Problem ist, du wachst nicht fitter auf, als du beim Hinlegen warst. Und du vergisst nur für kurze Zeit. Du siehst aus wie ein Gerippe und wirst schwach. Mack sagt, ich seh schon aus wie Mick Jagger. Du musst alle Aktivitäten mit anderen absagen, weil du zu müde bist. Oder andere Eltern tun so, als hättest du die Krätze. Oder du bist es leid, ihre Fragen zu beantworten. Und wenn sie dir auf die Schulter klopfen, bist du es leid, dich zum Lächeln zu zwingen, anstatt deine Zähne in ihre Hände zu schlagen.
Die Ärzte sitzen nur rum und schütteln den Kopf, als hätten sie keine Ahnung, was bei dir wirkt und was nicht. Dann sagen sie dir, was sie den anderen Krebspatienten auch sagen: Der braucht Chemo, die braucht Bestrahlung. Als ob jeder genau wissen müsste, was das bedeutet. Und dann freudig drauf zuspringt, als wär’s Zuckerwatte oder ’ne Freifahrt in der Achterbahn.
Es fühlt sich an, als würdest du in einem Science-Fiction-Film leben, Krieg der Sterne am Rande des Universums in der Mayo Klinik. Es kommen fast nur viersilbige Wörter aus ihrem Mund, Wörter, die du nie zuvor gehört hast. Dann ist da diese ganze neumodische Technik, und eh du dich versiehst, fängst du an zu hoffen. Irgendwann, schon sehr bald, werden sie dich durch eine Metallröhre schieben und deinen alten Körper ganz neu zusammensetzen, heil und gesund, wie bei einem beschissenen Seestern, wo die Arme auch einfach wieder nachwachsen.
Das ist das Märchen, das du glauben sollst. Und es ist verlockend.
Ich sag euch jetzt, wie es wirklich läuft. Zuerst sagen sie dir, dass du krank bist. Ach was! Das weißt du sowieso schon, weil du dich entsprechend fühlst. Dann jagen sie dich durch so ungefähr jedes Gerät im Krankenhaus. Manchmal in mehr als einem Krankenhaus. Sie nehmen Proben von allen erdenklichen Stellen deines Körpers, mit superlangen Nadeln, und sie fotografieren jedes einzelne Körperteil und zeigen die Bilder dann jedem Arzt und jeder Schwester im Umkreis von hundert Kilometern. Privatsphäre? Dass ich nicht lache! Privatsphäre bedeutet diesen Pseudoüberfliegern gar nichts. Und danach? Schicken sie dich nach Hause, und du fühlst dich immer noch beschissen.
Deine Eltern sind nachts wach und streiten und werfen mit Sachen. Das geht wochenlang so. Sie werden wütender. Du wirst kränker. Das macht sie noch wütender. Dann, wenn du endlich aufwachst und erkennst, dass es kein Film ist, sondern echt, wirst du wütend. Aber du musst trotzdem weiter deine Hausaufgaben machen und deine Klamotten aufräumen.
Und wenn du Eltern hast wie meine, dann trauen sie den Ärzten nicht, weil diese Ärzte ein Teil der Maschinerie der großen bösen Pharmakonzerne sind. Die alle im Bund mit der großen bösen Regierung stehen. Also lehnen deine Eltern alle Ratschläge ab und reden mit unbekannten Gurus in den Anden oder in Yucatán über Naturheilmittel, und am Ende isst du Boysenbeeren, püriert mit irgendwelchen seltenen Enteneiern.
Leukämie ist absolut unterirdisch.
Aber ich greife vor. Und Holden wird sauer, wenn ich die Passagen über ihn auslasse. Und die lustigen Stellen. Er ist derjenige, von dem ich gelernt hab, dass Bücher ohne lustige Momente nicht real sind. Weil das Leben ebenfalls lustige Momente hat, auch wenn die Leute sich gegenseitig nerven oder schlimme Dinge passieren. Wenn meine Englischlehrerin aus der Neunten, Stratford-Mains, korrigieren würde, was ich bislang geschrieben hab, dann kann ich schon hören, was sie dazu sagen würde. Ich weiß, ich weiß, Stratford-Mains klingt wie ein englisches Dorf in einem alten Schwarz-Weiß-Film. Wir nannten sie auch immer Stepford-Hanes, weil ihr Make-up immer so perfekt war wie bei den perfekten Cyborg-Frauen von Stepford – kennt ihr den Film? – und weil sie jeden Tag Rock und Strümpfe trug. Sie war die absolut einzige Lehrerin auf der Mittelschule, die keine Hosen trug. Und sie hatte tolle Beine, wie diese Models aus der Unterwäschewerbung von Hanes.
Wäre sie die Redakteurin dieses Textes, würde sie sagen, er müsse mehr zeigen und weniger erzählen. Ich werde mich auch noch mehr anstrengen, aber ich muss erst mal die Grundlagen erarbeiten. Es ist leichter, ein paar Sachen gleich vorweg zu erzählen. Und irgendwann komme ich dann zur ganzen Wahrheit, wie dieser Ich-bin-kein-Verbrecher-Nixon, ein abartiger Typ, den wir bis zum Erbrechen im Fach Amerikanische Geschichte durchgenommen haben. Pervers.
Als Dad nach mir ruft, stöpsele ich mich vom Discman ab. Trotz der Zurück-zur-Natur-Philosophie, die meine Eltern mir ständig einbläuen, darf ich zumindest halbwegs moderne Technik zum Musikhören nutzen. Bei aller Phobie vor Mikrowellenstrahlung und der neuen Generation hirntoter Videospieljunkies macht Mom hier eine Ausnahme. Und es ist auch mehr die Musik, die sie akzeptiert, als die Plug-in-Elektronik. Durch die offenen Lüftungsschlitze vom Fenster kann ich streifenweise Dads Oberkörper in seinem Jefferson-Airplane-T-Shirt sehen. Sie hatten ihre Musik. Wir haben unsere. Eine ganz neue Bedeutung von fairem Handel.
Dad steht draußen auf Deck und mustert den Horizont, als wären wir auf halbem Weg zum Panamakanal und lägen nicht in einem Seitenarm des Rappahannock River an einer Sandbank fest. Tatsächlich wohnen wir jetzt am Ende der Straße unseres letzten Hauses. Nur eben nicht an der Straße, da wir ja auf einem schwimmenden Hausboot wohnen.
Ich geh auf die Knie, um meine Cargoshorts unter der Koje hervorzufischen. Heute geht’s mir ganz gut, ich fühle mich nur ein bisschen benommen. Wenn ich nicht aufpasse und mich zu schnell aufsetze, kommt mir das Frühstück wieder hoch. Das Schaukeln vom Boot macht es auch nicht gerade besser. Leider ist das etwas, das ich meinen Eltern nicht sagen kann, wo sie doch auch so schon ganz fertig sind wegen der KRANKHEIT.
Der Rappahannock ist ein komischer Fluss und hier, auf Höhe des Seitenarms, nicht so breit wie weiter abwärts hinter den Starkstromleitungen. Üblicherweise legen wir am Steg von Freunden meiner Eltern an, die ihr Boot während des letzten Hurrikans verloren haben. Im Hoskins Creek sind wir vor dem Nordwind geschützt, der meist schlechtes Wetter bringt. Gerade außer Sichtweite der Brücke mit der Route 360, Richtung Richmond, beziehungsweise Warsaw. Die Brücke ist so was wie eine Grenze. Sie spannt sich an der Stelle über den Fluss, wo das Salzwasser aufhört und das Süßwasser anfängt.
In der Mitte sieht die Strömung täuschend langsam aus. Du merkst sie erst, wenn du mitten drin bist. Wenn du nicht aufpasst, landest du ruck, zuck in Urbanna – oder gar England –, aber wenigstens hält das Salzwasser dich oben. Nur der Hunger würde dich umbringen.
Manchmal nervt es mich bei anderen Jugendlichen, mit denen ich zur Schule gehe – und bei Erwachsenen übrigens auch –, dass sie ihr ganzes Leben hier wohnen und sich nie fragen, wohin das Wasser wohl fließt, und nie auf einer Karte nachsehen, dass der Fluss in die Chesapeake Bay mündet und dann in den Atlantischen Ozean. Ich persönlich finde, dass diese Verbindung zum Rest der Welt ziemlich wichtig ist. Ich hab mir immer vorgestellt, ich würde mal wie der Polarforscher Admiral Byrd werden und einen neuen Ort zum Erkunden entdecken. Das wäre dann mein Beitrag.
Mack und ich haben oft überlegt, von wo aus wir starten würden, an exotischen Orten wie Algerien oder Tahiti. Wir schrieben Listen für das, was wir mitnehmen würden. Wir übten sogar Rauchsignale und Feuer mit Steinen zu entfachen. Ich war da noch ein kleiner Junge und wusste nicht, dass sie alle Orte der Welt schon entdeckt haben. Wie bescheuert wir waren! Aber jetzt ist es okay. Früher hat es mich deprimiert, aber jetzt ... Es ist egal, weil ich sowieso keine Zeit dafür haben werde.
Unter der Brücke, gegenüber der Mündung des Creek, besteht das nördliche Ufer fast nur aus Grün. Verwaschen zwar, aber grün. Ohne Häuser, weil es ein Naturschutzgebiet ist. Per Gesetz. Das Grün hebt sich deutlich vom Braun des Flusses ab. Wenn man im Sommer am Ufer liegt oder auf einem Floß und die Augen zusammenkneift, kann man sich einbilden, der Dschungel käme immer näher. Wie in Apocalypse Now. Das ist ein Spiel, das Mack und ich uns vor Jahren ausgedacht haben, und es ist noch besser, seit wir auf dem Hausboot wohnen. Er liebt psychologische Twists, sich in fremde Welten beamen und so ... Der Typ hat’s voll drauf.
Mack ist mein bester Freund, seit Joe auf dem College ist. Vorher waren wir einfach Kumpel, die Zeit miteinander verbrachten. Du kannst ja nicht immer was mit deinem großen Bruder machen, selbst wenn er dein bester Freund ist. Und kleine Brüder sind schrecklich nervig. Mack hat auch einen: Roger (Spitzname Hirni).
Als Mack und ich eingeschult wurden, wohnte meine Familie in einem gemieteten Haus am Jeanette Drive. Das lag mitten in einer Lichtung an derselben Straße wie der aufgelöste Jachthafen am Hoskins Creek. Aufgelöst. Ist das nicht ein tolles Wort? Es klingt genau nach dem, was es ist. Irgendwann, wenn er mal die Welt rettet, kann Nick das in seinen politischen Ansprachen über mich sagen. Mein aufgelöster Bruder, möge er in Frieden ruhen. Tote Verwandte bringen dir eine Menge Sympathie ein, wenn du in der Öffentlichkeit stehst. Denkt mal an die Kennedys.
Die Petrianos wohnen an einer unbefestigten Sackgasse hinter dem Dollar Inn Motel an der Route 17, ewig in demselben Haus. Macks Vater betreibt das Schulbusdepot für unseren Bezirk Essex County. Mr Petriano ist einer der langweiligsten Menschen, die ich kenne, ohne Zweifel. Ich meine, als Vater ist er okay, aber er sagt kaum was, und wenn, dann wiederholt er nur, was Mrs Petriano vorher schon gesagt hat. Räum dein Zimmer auf. Kirche ist heute um zehn. Du bist dran mit Tischabräumen. Kein Wunder, dass Mack so wild unterwegs ist. Er muss sich anstrengen, nicht zu werden wie sein Dad.
Mack ist witzig, ein richtiger Clown, und er hat hundert Ideen pro Minute. Ab und zu tickt er ein bisschen aus, wie der Zug einer Modelleisenbahn, der zu schnell in die Kurve fährt. Er lässt sich die merkwürdigsten Sachen einfallen. Als würde er nicht anhalten wollen, um sie richtig zu durchdenken. Das ist ein Grund dafür, warum wir so ein gutes Team sind. Normalerweise hört er auf mich, und ich bin nicht gerade ein Adrenalin-Junkie.
Früher hat er mich dauernd in unserem alten Haus besucht. Wahrscheinlich, um der Rückspultaste seines Vaters zu entfliehen. Also, mich würde es fertigmachen, wenn mein Vater so wäre und keine eigene Meinung hätte. Seit wir auf dem Hausboot wohnen, paddelt Mack immer von der öffentlichen Anlegestelle mit so einem alten, halb verrotteten Zweier-Kajak zu uns. Sein Vater hat es auf dem Müll gefunden. Die Leute lassen so was im Schilf liegen, und niemanden kümmert es. Typisch Essex County.
Das ist übrigens mal was Gutes an Mr Petriano. Er ist ein Abfallfanatiker. Die besten Sachen findet er auf der Müllhalde, da ist er wie ein Bluthund. Ich bin schon mit ihm und Mack zwischen Bergen von Müll rumgelaufen, und es ist wirklich erstaunlich. Du gehst an einem Haufen Metall und Holz vorbei, alles ist krumm und kaputt und sieht nach nichts aus, schon gar nicht danach, dass man es mitnehmen könnte. Aber Mr Petriano bleibt stehen, legt den Kopf schief, und dann schiebt er den Haufen mit dem Fuß nach rechts oder links auseinander. Mack redet die ganze Zeit, deshalb kriegt er davon meist nichts mit. Aber sobald Mr Petriano sich bückt und nach unten greift, hört Mack auf zu reden. Er weiß, dass in Mr Petrianos Hand gleich irgendwas Unglaubliches zum Vorschein kommen wird. Eine Luftpistole, eine völlig intakte Kettensäge, ein Videorecorder, der nur einen neuen Stecker braucht ... solche Sachen findet Mr P.
Mein Dad könnte in so einem Haufen seinen eigenen Fuß nicht finden. Sein Gehirn läuft auf Hochtouren, aber seine Verbindung zur realen Welt funktioniert ungefähr so wie ein Schlauch mit lauter Knickstellen. Meistens kommen nur feine Spritzer oder Tropfen raus und nur hin und wieder ein ordentlicher Strahl.
Ich hab das Gefühl, als hätten Mack und ich mein ganzes Leben lang jeden Sommer im leeren Gebäude des Yachthafens und mit den alten Schrottbooten am Creek gespielt. Als wir klein waren, dachte Mack sich Geschichten aus, die wir dann nachspielten. Da haben wir auch angefangen, Dschungelkrieg zu spielen, aber nur wenn mein Dad nicht in der Nähe war.
Wenn Dad auch nur ein Wort über Vietkong oder Vietnam hört, legt er sofort mit seinem Standardvortrag über die Lügner in Washington und das machthungrige Militär los. Das ist auch ein Grund, weshalb meine Eltern uns nie unsere Hauptstadt gezeigt haben: Sie ist eine Hochburg der Vetternwirtschaft und der Korruption.
In der Grundschule kamen meine Freunde gerne zum Übernachten zu uns, auch wenn unser Haus ziemlich eng war. Sie kannten sonst niemanden, dessen Eltern sie die ganze Nacht aufbleiben ließen. Meine Mom und mein Dad sagten selten Nein. Meine Kindheitserinnerungen mit Mack und meinen Eltern sind also ziemlich klasse. Piratenspiele und Lagerfeuer um Mitternacht und schlafen unter den Sternen auf dem Steg des aufgelösten Yachthafens. Kein schlechtes Leben. Entschuldigt, wenn ich wie ein Großvater klinge, der von der guten alten Zeit schwärmt. Der einzige Grund, warum ich euch das erzähle, ist, euch den Unterschied zu jetzt zu zeigen.
Irgendwann zwischen Grundschule und Highschool ist das Leben erheblich langsamer geworden. Wie Schlamm. Gemerkt habe ich das erst diesen Sommer, wo sich das Leben ohnehin wie Treibsand anfühlt. Aber wenn ich zurückdenke, fing es schon vor der KRANKHEIT an, und es wird immer schlimmer. Meine Eltern streiten mehr, wegen vieler Kleinigkeiten, aber meistens wegen Geld. Das Boot fällt auseinander. Mom schläft nicht gut. Sie ist zu müde, um all die Dinge zu machen, die sie früher gerne gemacht hat, draußen Wäsche aufhängen, zum Beispiel, oder Brot backen. Sie will einen Wäschetrockner, den man miteiner Hausbootbatterie oder einem Kerosinmotor aber nicht betreiben kann.
Dad ist irritiert, weil Mom solche Geräte früher nie gewollt hat. Wenn sie davon anfängt, nennt er sie eine Verräterin. Sie schimpft dann zurück, das sei nicht fair, bei all den Jahren, die sie die Wäsche draußen im Korb per Hand ausgeschleudert und bei jedem Wetter aufgehängt hat. Ich weiß, sie will eigentlich sagen, dass es die Keime und die KRANKHEIT sind, die sie so paranoid machen, aber das kann sie nicht, weil es so klingen würde, als hätte ich dran Schuld, und diese blöde Leukämie wollte ich ganz bestimmt nicht.
All das macht es ihnen unmöglich, über das nachzudenken, was ich will: ein eigenes Auto, auch wenn ich erst im April alt genug sein werde, es zu fahren. Und im Juni tot. Selbst ich sehe ein, dass es keine tolle Investition wäre.
Irgendwann Anfang des Sommers hab ich mal einen Streit zwischen ihnen unterbrochen. Das war, bevor sie mir erzählten, was die Ärzte ihnen schon gesagt hatten. Dass ich diese beschissene KRANKHEIT habe.
»Vergesst das Auto«, habe ich gesagt. »Wir können in die Stadt ziehen, und ich nehme mir ein Taxi, wie Holden.«
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Freund hast, der Holden heißt.« Mom vergaß den Streit sofort. Sie hatte selbst gemachte Spaghettisoße gekocht. So was macht sie, um Pestizide und all das Zeug zu vermeiden, das ins Essen gekippt wird, damit es perfekt aussieht. Aber jeder muss einsehen, dass perfekt dumm ist. In der wirklichen Welt sind die Dinge nun mal nicht perfekt. Seht euch die Leute an. Denkt an Adam und Eva. Die Realität ist der Apfel. Wenn es um Menschen geht, funktioniert perfekt nicht. Wie sonst soll man Sachen wie schwangere Teenager und Kindesmissbrauch erklären oder Krankheiten wie AIDS? Oder Leukämie?
Zurück zum Tag des Autostreits. Mom hatte sogar selbst Tomaten gehäutet, weil sie auf dem Salzlos-Trip war. (Essen ohne Salz ist widerlich, aber das dürft ihr meiner Mutter nicht verraten.) Sie hatte gelesen, dass das Salz in Dosengemüse die Arterien eines Zwanzigjährigen in die eines Sechzigjährigen verwandeln kann.
»Über Nacht?«, witzelte Dad, aber da hatte sie unsere Dosentomaten schon dem Obdachlosenheim gegeben.
Nick versuchte, wie ein echter Italiener zu essen, und sog die Nudeln einzeln in den Mund. Überall gab es kleine rote Spritzer. Das lenkte Mom vollkommen ab, und sie vergaß, dass sie mir eine Frage gestellt hatte, weil sie damit beschäftigt war, die Soßenspritzer mit einem Geschirrhandtuch aufzuwischen.
»Ich hab keinen Hunger.« Ich musste das Thema wechseln. Ihnen das mit Holden zu erklären, wäre kompliziert geworden. Joe ist der Einzige, der weiß, dass ich dieses Buch schon vor der Zehnten gelesen hab.
Mom sah aus, als wollte sie losschreien. »Du musst essen.« Obwohl sie nicht wirklich schrie, sprach sie so laut, dass sogar Nick mit dem Rumkaspern aufhörte.
Als hätten wir nicht schon jahrelang Erdnussbutter-Gelee-Brote zum Frühstück und zum Mittag gegessen! Erdnussbutter ist laut Mom das weltbeste Nahrungsmittel, und darin sind wir uns sogar einig. Oder waren es. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings in drei Wochen zehn Pfund abgenommen, sodass selbst ich anfing zu ahnen, dass da was nicht stimmte.
»Was – Holden?«, meinte Dad. »Das kann auch nur jemandem in Essex County einfallen, sein Kind nach der Figur in einer Geschichte zu benennen.« Er legte Mom den Arm um die Schultern – auf einmal kuschelig, der Streit vergessen – und drückte sie, so wie Erwachsene es tun, wenn sie sich gegenseitig aufmuntern wollen.
Es ärgerte mich, dass er das mit Holden als Story abtat. Holden hat all diese schmerzhaften Dinge wirklich durchgemacht. Und damit ist er nicht der einzige Jugendliche. Warum denken Erwachsene immer, was Kinder oder Jugendliche fühlen, wäre nebensächlich und unbedeutend?
Letztes Jahr hat sich ein Junge in der Mittelschule erhängt. Im Halbjahr davor hatte er die Unterschrift seines Vaters auf dem Zeugnis gefälscht, nachdem sein Vater Druck gemacht hatte, er solle bessere Noten schreiben. Dann ist er in einem Fach durchgefallen. Als die Schule ein Eltern-Lehrer-Gespräch ansetzte, musste er sich gedacht haben, dass dann alles auffliegen würde. Alle Eltern und Lehrer liefen rum wie im Nebel, als hätten sie keinen Schimmer, was da passiert war. Aber wir Jugendliche kapierten, wie es dem Jungen gegangen sein musste ... dass er für seinen Vater niemals gut genug sein würde – diese Hoffnungslosigkeit, dass sich nie was ändern würde.
Mit Holden ist es dasselbe. Es ist nicht so, dass er rumjammert wie ein Kleinkind und schreit, weil er keinen Schokoriegel bekommt. Es ist schwer genug rauszufinden, wie die Welt funktioniert, ganz zu schweigen von dem Irrsinn, wie die Erwachsenen sie vermurkst haben. Wie sie darauf bestehen, dass Noten wichtig sind, und es ihnen egal ist, ob man tatsächlich was gelernt hat. Sie kommen nicht ein einziges Mal darauf, wie horrormäßig für uns die Vorstellung ist, dass wir ihren Schwachsinn eines Tages ausbaden und vielleicht sogar die Welt in Ordnung bringen müssen.
Wäre ich nicht so froh gewesen, dass meine Eltern zur Abwechslung mal nicht stritten, hätte ich Dad wegen seiner Bemerkung über dieses Nur-’ne-Story-Ding die Meinung gesagt. Ich hasse es, wenn Erwachsene uns Jugendliche wegen unserer Unerfahrenheit runtermachen. Als ob wir was dafür könnten, dass wir noch nicht so lange gelebt haben wie sie!
Jedenfalls lächelte Dad nach seiner Bemerkung über Holden und massierte Mom die Schultern. Von mir nahm er gar keine Notiz mehr. Kuscheln ist etwas, das die beiden immer seltener machen. Ich wollte es ihnen nicht verderben, indem ich einen Streit über Holden anfing.
Dad lehnte sich über Moms Schulter, und ihre Köpfe berührten sich. »Weißt du noch, als wir das Buch gelesen haben? Bei Mr Nolan in Geisteswissenschaft. Und deine beste Freundin Rose beschloss, nach New York abzuhauen.«
»Ich war schrecklich neidisch auf Rose Pelletier.«
Mein Vater zog verblüfft eine Schnute. »Du wolltest auch nach New York?«
Mom schüttelte den Kopf. »Ihr Onkel hatte ihr diese perlenbestickte Weste aus Indien mitgebracht, und sie schaffte es immer, in der letzten Reihe den Platz neben Lewis Murray zu ergattern.«
»Sie war süß.«
Süß? Ich stöhnte. Hörten die sich eigentlich selbst reden?
Aber um ehrlich zu sein, war ich froh, dass sie mich vergessen hatten. Es ist anstrengend, wegen jeder Kleinigkeit, die du sagst oder tust, im Mittelpunkt zu stehen. Nick nutzte die Gelegenheit, seine Spaghetti in den Müll zu schieben. Noch ehe Mom und Dad etwas sagen konnten oder sogar was bemerkten, war er draußen und kickte den Fußball gegen unsere Hauswand. Ich stand auch auf und drehte mich, um meinen Teller auszuleeren, und da küssten sie sich. Versteht ihr, was ich Dad betreffend meine?
Schneller Vorlauf zu Ende August.
»Daniel«, ruft Dad wieder, ohne zu merken, dass ich direkt hinter ihm stehe. Wenn er so konzentriert über was nachdenkt, muss es was Ernstes sein. Normalerweise ist er sehr geduldig und lebt nach dem Motto Alle Dinge geschehen ganz von allein. Er ist überzeugt, dass er alle Zeit der Welt hat. Sein Job ist es, Schulbücher rauszubringen, und das kann er überall machen. Was ein Glück für uns ist, mit dem Hausboot und so.
»Ja, Dad, was gibt’s?« Als er die Hand ausstreckt, um mir durchs Haar zu wuscheln, ducke ich mich weg. »Dad!«
»Hör zu, deine Mutter fährt einkaufen, und sie dachte, du willst vielleicht mit in die Stadt und dir die Haare schneiden lassen, bevor die Schule nächste Woche wieder anfängt.«
»Du hast gesagt, ich könnte sie so lang wachsen lassen, wie ich will.«
»Ja, im Sommer. Aber du willst doch nicht, dass die Lehrer auf der Highschool dich für faul halten, oder? Ohne Schnitt kein Schnitt.« Er lacht über sein Wortspiel.
Ich stöhne. »Mom hat gesagt, sie will gar nicht, dass ich noch zur Schule gehe. Du weißt schon, wegen all der Keime.«
»Das besprechen wir noch.«
»Du hattest auf der Highschool auch lange Haare.«
Er sieht mich überrascht an.
»Dein Jahrbuch«, erkläre ich.
»Tja, richtig, aber damals gab es einen Krieg. Langes Haar war ein Statement.«
»Ist das in Ruanda etwa kein Krieg?«
Er zögert so lange, dass wir beide wissen, dass ich gewonnen hab. Dann wechselt er in den Standard-Eltern-Modus. »Du kommst nicht aufs College, wenn du deine Highschool-Lehrer nicht beeindruckst.«
»Du hast es auch ohne College geschafft.«
»Ich habe die Abendschule besucht. Das ist der härteste Weg, ein Studium durchzuziehen.«
»Ich dachte, du würdest deinen Traum leben. Du und Mom, ihr sagt doch immer, wie froh ihr seid, dass ihr nicht in dieser Tretmühle seid wie Leonards Dad oder Mr Hanaday.«
»Mr Hanaday ist Bankdirektor. Niemand will Mr Hanaday sein. Jedenfalls musst du dir keine Gedanken darüber machen, dass du mal Bankdirektor werden könntest.«
Vom Vorderdeck ertönt Moms Stimme. »Stieg, du hast es versprochen.«
»Was versprochen?«, frage ich, während ich hinter meiner rechten Augenbraue einen pulsierenden stechenden Schmerz spüre. Wenn sie seinen richtigen Namen benutzt, ist es wichtig. Sein Spitzname ist Red. Wegen seines Haares, nicht seines Temperaments wegen. Und wenn er hundert Prozent ehrlich wäre, auch wegen seiner politischen Gesinnung.
Dad kniet sich hin, um die Festmacherleine straff zu ziehen. Er stammelt etwas von meinen mathematischen Fähigkeiten und beendet das Gespräch, bevor ich die ultimative Bosheit anbringen kann. Warum brauche ich überhaupt je wieder einen Haarschnitt? Ich werde nicht lang genug leben, um aufs College zu gehen.
Inzwischen fragt ihr euch wahrscheinlich, wie ich aussehe. Das tun die Leute bei Büchern immer. Dass sie rausfinden wollen, ob jemand lockige Haare hat oder wer wen in der Verfilmung spielt. Todsicher ist, dass ich mich nicht selbst spielen kann. (Ist schon in Ordnung, ihr dürft lachen. Perverse Idioten.)
Ohne zu viel zu verraten: Ich seh aus wie meine Mutter. Ich bin nicht sicher, ob das gut ist oder nicht. Dad sagt Ja. Sie ist blond wie die Models, die man in der Urlaubswerbung für Schweden sieht. Ich bin einer der wenigen, der weiß, dass ihr Haar gefärbt ist. Ich hab mal gesehen – als wir eigentlich schlafen sollten –, wie sie eine Tube Färbemittel draufgeschmiert hat und dann mit dieser blauen Plastikhaube mit steifer Schleife unterm Kinn dasaß. Es ist ein Zugeständnis ans Establishment, das sie nicht gerne zugibt.
Aber auch ohne dieses Zeug ist sie nicht so alt, dass sie schon ganz graue Haare hätte. Ich glaube nicht, dass sie sich die Haare aus Eitelkeit färbt; sie ist einfach nicht stark genug hinzunehmen, dass die Zeit auf eine Weise vergeht, die sie nicht kontrollieren kann. Es ist komisch sich vorzustellen, dass die eigene Mutter nicht stark ist. In Geschichten sind Mütter immer wie Bärenmamas, die ihre Jungen beschützen.
Meine beiden Großelternpaare sind tot, aber sie waren allesamt naturblonde Skandinavier mit doppelten Vokalen in ihren fast unaussprechlichen Namen. Joe sagt, wir hätten Glück gehabt, dass Mom ihre eigene Vorstellung von Namen hatte. Wir hätten auch so komische Namen haben können wie den von Dad oder Militärnamen wie Helmut mit doppelten Punkten über den Vokalen. Ich denke, Mom besteht deshalb auf blonde Haare, weil sie damit zu ihren Wurzeln zurückkehrt. Es würde zu all ihrem Wiedergeburtshokuspokus passen. Sie trägt ihr langes Haar normalerweise offen, wie Mama Cass auf dem Cover der Mamas-and-Papas-Schallplatte in Moms und Dads Sammlung. Eine ihrer Lieblingsplatten. Das sieht man an den abgestoßenen Ecken und weißen Flecken, wo die Farbe abgescheuert ist. Ein sicheres Zeichen ist natürlich auch, dass sie alle Texte kennen, wenn die Lieder mal im Radio laufen.
Während ich mit Dad übers Haareschneiden rede, kommt Mom vom vorderen Deck zu uns. Im Badeanzug – von hinten, wo man die ganzen Sorgenfalten in ihrem Gesicht nicht sieht – kann sie noch als zwanzig plus durchgehen. Einmal, als ich etwa dreizehn war, hatte ich einen Freund, der immer wieder so Andeutungen machte, wie heiß meine Mutter sei, bis ich ihm eines Tages meinen Rucksack um die Ohren schlug. Kinder sollten solche Sachen nicht über Erwachsene sagen. Das ist abartig. Es ist nicht richtig. Nachdem mein Vater unseren Kampf beendet hatte, wollte keiner von uns sagen, worum es ging.
Jetzt denkt aber nicht, ich wäre ein gewalttätiger Mensch. Das bin ich nicht. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich nicht gewalttätig sein, mit diesen Friedensengeln von Eltern.
»Daniel, Schätzchen.« Mom zieht ihre Worte, als würde Honig von einem Löffel tropfen. Sie hat diesen Südstaatenakzent, bei dem Fremde auf der Stelle stehen bleiben. Die Leute erwarten eine dumme Blondine, und dann sind sie schockiert, wenn sie merken, wie schlau sie ist. »Streite nicht mit deinem Vater. Wir haben das alles schon durchgekaut. Schule ist deine Arbeit. Und solange du in der Schule bist, können sie dich nicht einziehen.«
»Du meine Güte, Sylvie, sie ziehen doch keine Fünfzehnjährigen ein. Vor allem nicht in Friedenszeiten, wenn sie noch nicht mal Einberufungsbefehle ausgeben. Wir reden über einen Haarschnitt. Keine neue Weltordnung.«
Nachdem Mom den Subaru-Kombi an der Hauptstraße angehalten hat, gibt sie mir einen Zehn-Dollar-Schein. »Vergiss das Wechselgeld nicht, aber gib dem Friseur bitte einen Dollar Trinkgeld. Bei diesen Preisen liegen die bestimmt unter dem Existenzminimum.« So ist sie, immer in Sorge um andere, während sie ihre eigenen Kleider im Secondhandladen kauft und ihre Lieblingszeitschriften in der Bücherei liest.
Sie blättert durch irgendwelche Papiere auf dem Beifahrersitz und denkt wahrscheinlich schon an alles, was auf ihrer Liste steht, weil sie den Motor laufen lässt. Was bei der Umweltverschmutzung und globalen Erwärmung absolut unmöglich ist. »Hör zu, Danny.«
Mom ist die Einzige, die mich ungestraft Danny nennen darf. Ich steige aus und beuge mich zu ihrem Fenster runter.
»Ich bin etwa eine Stunde unterwegs. Als Letztes gehe ich in die Bücherei. Wenn du früher fertig bist, kannst du im Wagen warten. Oder du gehst rein und suchst mich ... nein, das ist keine gute Idee. Warte einfach im Wagen.«
Von wegen. In letzter Zeit hab ich kaum mal freie Zeit in der Stadt. Die Liste der Orte, wo ich hingehen will, um zu sehen, was läuft, und um selbst gesehen zu werden, wird täglich länger. Wenn man auf einem Hausboot lebt, sind Sommerferien auch ohne die KRANKHEIT sterbenslangweilig.
Mack hat da mehr Glück. Sein Haus liegt zwei Straßenecken vom Friseur entfernt und auch zwei Straßenecken von allen Orten, an denen die Jugendlichen von Essex County in unserem Alter abhängen. Der Waschsalon, Parrs Parkplatz, der Schulhof der Grundschule, der Angelsteg, die Bücherei. Letzte Woche ist neben Mack eine Familie mit Zwillingsmädchen eingezogen, was Thema mehrerer spätnächtlicher Telefongespräche zwischen uns war. Obwohl ich die Zwillinge noch nicht gesehen hab, haben Mack und ich schon einen Plan zurechtgelegt, wie wir meine Mutter überreden, dass wir sie zum Bandkonzert mitnehmen. Das wöchentliche Konzert am Community College in Warsaw gehört zu den Lieblingsveranstaltungen meiner Eltern. Was organisierte Ereignisse angeht, sind Musikveranstaltungen für sie eine Ausnahme. Wie Mom sagen würde, sind sie das, was in dieser gottverlassenen Ödnis zwischen Rappahannock und Potomac River einem kulturellen Ereignis am nächsten kommt.
Nach dem Friseur sollte ich genug Zeit haben, um über den Motelparkplatz zu Mack rüberzugehen. Ausreichend Zeit, um die Zwillinge unter die Lupe zu nehmen. Er hat schon verraten, dass sie was fürs Auge sind. Das könnte meine letzte Chance sein, sie vor September von Nahem zu Gesicht zu kriegen. Bevor der Rest der Highschool sich um sie schart und Mack und ich nicht mal dicht genug rankommen, um mit ihnen zu reden.
Als ich in den Friseursalon gehe, klingelt die Glocke über der Tür. Ich bin jedes Mal aufs Neue überrascht. Und jedes Mal erschrecke ich mich. Alle Stühle sind besetzt. Die üblichen alten Säcke, alle mit nur noch drei Haaren zum Schneiden. Was gut ist, weil ihre Herzen mehr Aufregung wahrscheinlich nicht vertragen würden. Eine Mutter mit einem Baby auf dem Schoß und zwei kleinen Jungs, die sich um den Stuhl mit dem zerrissenen Vinylpolster streiten. Ich hab schon gesehn, wie Kinder halb angefressene Bonbons in diesen Riss schieben. Den Stuhl können sie gerne haben.
»Vierzig Minuten«, sagt mir der Friseur mit dem Toupet. Die beiden Jungs hören auf und starren mich an. Sie haben Angst, dass ich ihren Stuhl will. Ha. Der andere Friseur schneidet unbeirrt weiter, ganz ernst, ganz entschlossen, es richtig zu machen. Er muss mit meinem Vater verwandt sein.
»Können Sie mir meinen Platz reservieren?«, frage ich den Älteren, der hier das Sagen hat. Mom würde nicht wollen, dass ich mich Kleinkinderkeimen aussetze. »Ich bin gleich zurück.«
»Schreib deinen Namen auf.« Er deutet auf einen Schreibblock neben dem Telefon.
Freiheit.
Mrs Petriano öffnet die Tür. »Daniel, schön, dich zu sehen!«
Mack hat erzählt, als seine Mutter zum ersten Mal von der KRANKHEIT hörte, hat sie die ganze Nacht geheult. Wenn die Mutter eines anderen so empfindet, jemand, der mich auch kannte, bevor ich krank wurde, dann kann ich ja nicht so schrecklich sein.
Sie macht die Tür weiter auf. »Mack ist nebenan.«
»Bei den Zwillingen?«
Sie nickt. »Möchtest du reinkommen und ein Eis essen, während du wartest?«
»Ich könnte drüben anklopfen. Meinen Sie, das ist okay?«
»Oh ... natürlich. Natürlich.« Sie sieht mich mit großen Augen an, als wär ihr noch nie in den Sinn gekommen, dass zwei Mädchen in meinem Alter mich mehr interessieren könnten als Eiskrem. Armer Mack. Seine Mutter wird schockiert sein, wenn sie spitzkriegt, dass er keine Jungfrau mehr ist.
Das Nachbarhaus sieht von außen genauso aus wie Macks. Ein Bungalow, aus Schlackenbeton. Weiß mit grünen Fensterläden und so einer Art Fußweg aus grauen Steinen, mit Stufen zur Tür rauf und mit diesen halben Kellerfenstern, die vorn und an der Seite ins Gras eingelassen sind. Von unten kann ich die Basstöne von U2 dröhnen hören. Sie müssen im Keller sein.
Keine Türklingel. Als auf mein Klopfen niemand antwortet, klopfe ich lauter. Wieder kein Glück. Ich spähe durch eins der Halbfenster und schreie über U2 hinweg: »Mack!« Sofortige Stille.
Dann erscheint sein Gesicht fünf Zentimeter von meinem entfernt hinter der Glasscheibe. »Daniel.« Er spricht nach hinten in den dunklen Raum. »Komm hinten rum.«
Das Haus der Zwillinge hat eine von diesen schrägen Kellertüren, wie meine Großmutter sie an ihrem kleinen Bauernhaus in Urbanna hatte. Da standen immer diese uralten Flechtkörbe mit Äpfeln und Kartoffeln und Steckrüben auf der Treppe, wie in Unsere kleine Farm. Was wir in den Ferien zu Thanksgiving immer ansehen mussten. Grandmas Keller war ein Paradies für Spinnen. Mom hat immer mich runtergeschickt, wenn Grandma etwas wollte, weil Mom diese Spinnenphobie hat. Ziemlich heftig sogar.
Und da ist sie nicht die Einzige. Vor drei Jahren, kurz bevor Grandma starb, sammelten Joe und ich ein ganzes Glas voll mit diesen gruseligen Krabbelviechern und drohten, sie Nick ins Bett zu tun, wenn er nicht aufhören würde, uns nachzulaufen. Es war äußerst effektiv. Eine Schwachstelle in der Rüstung des glorreichen Ritters.
Die Metalltür zum Keller der Zwillinge fliegt auf und knallt gegen die Betonwand. »Scheiße.« Eine weibliche Stimme. Aus dem dunklen Untergeschoss winkt mich ein Mädchen die Treppe runter. Lange dunkle Haare und eine tolle Bräune. Wenn es die zweimal gibt, wird das vielleicht der beste Schnitt, den ich je hatte.
»Du bist Daniel?« Als hätte sie ein Wasser speiendes Monster aus Stein erwartet anstelle eines Jungen.
»Hat Mack von mir erzählt?«
Sie nickt. »Tut mir leid.«
»Tutmirleid.« Ich sehe ihr direkt in die Augen, während ich meine Hand ausstrecke, um ihre zu schütteln – etwas, das meine Mutter mir sofort strikt untersagte, als sie das erste Kapitel vom ersten Buch über AML gelesen hatte. »Sehr schön, dich kennenzulernen, Tutmirleid.«
Das Mädchen lacht. Das könnte gut werden, auch wenn sie die Wahrheit über mich weiß.
»Nein, ich heiße Meredith. Und das ist meine Schwester Juliann.«
Ein zweites Mädchen mit den gleichen langen Beinen, der gleichen gebräunten Haut, aber mit kurzen Haaren erscheint, Mack dahinter. Juliann winkt mir zu. Ich nicke.
»Plappermaul.« Mack und ich verkrallen die Finger ineinander, und ich ziehe, aber er lässt los.
»Sie sind mit uns in der Zehnten«, sagt er.
»Nicht möglich.«
Der Keller ist als Partykeller eingerichtet. Eine Tischtennisplatte auf der einen Seite, zwei Sofas und ein alter Fernseher auf der anderen. Die Lampen haben farbige Glühbirnen – Stimmungsbeleuchtung. Und in einer Ecke steht ein Kühlschrank. Megacool.
»Wer hat dich in die Stadt gebracht?« Mack weiß, wenn es meine Mutter war, ist die Zeit knapp, aber mit Dad wäre es locker.
»Mom.«
»Mist.«
»Willst du ’ne Cola?«, fragt Meredith und wirft ihr Haar über die Schulter, wie Mädchen das tun. Beide tragen diese Shirts mit dünnen Trägern, und auf ihren Schultern sind keine weißen Bikiniträgerstreifen zu sehen. Zu schade, dass schon die letzte Augustwoche ist und nicht Juni, wo wir den ganzen Sommer mit Strandbesuchen und Booten noch vor uns hätten.
»Cola ist perfekt«, sage ich. Meine Mutter würde ausflippen. Coca-Cola ist ein Produkt des Teufels.
Mack setzt sich hin, und Juliann hockt sich neben ihn auf die Sofalehne und schlenkert mit ihren langen Beinen. Sein Grinsen ist breit wie der Fluss. Ich weiß, was er denkt. Drecksack.
»Wart ihr schon drüben, euch die Highschool ansehen?«, frage ich. Mack zwinkert mir zu, um mich zu warnen, dass ich mich zu sehr anstrenge.
»Sie ist ziemlich klein«, sagt Juliann. »Letztes Jahr waren wir an der Albemarle.«
»Klingt französisch.«
»Die ist riesig.« sagt Juliann.
Meredith reicht mir die gekühlte Coladose. »Hast du je von der gehört? Die sind schon zum zweiten Mal in Folge Sieger im Highschool-Football von Virginia.«
Ich schüttle den Kopf und kann mich gerade noch davon abhalten, Mack einen kritischen Blick zuzuwerfen. Wegen ihrer Anspielung auf Football brauche ich für uns dringend ein paar Hintergrundinformationen über die beiden. Wenn ein Mädchen auf Footballspieler steht, verringert das die Chancen für Außenseitertypen wie Mack und mich. Wie er es geschafft hat, ein Mädchen dazu zu bringen, auf die große Frage mit Ja zu antworten, ist mir immer noch ein Rätsel, aber das ist eine andere Geschichte.
»Macht ihr auch Sport?«, frage ich, als Mack nichts sagt.
Meredith sieht zu Juliann, die auf ihre Füße guckt. Sie trägt so Gesundheitssandalen, hat aber rosa lackierte Zehennägel. Wow! Meredith lächelt entschuldigend. »Kein Football«, witzelt sie.
Gleichzeitig sagt ihre Schwester: »Nur Schulsport.«
Mack und ich klatschen uns in Gedanken ab, und er sagt: »Dans Bruder ist ein Superstar in seiner Fußballliga. Das Angebot an Mannschaftssportarten ist hier ... äh, überwältigend. Es gibt hier nicht viel anderes ...« Er bricht ab. Ich merke, dass er in der noch frühen Phase des Kennenlernens lieber nichts über die Schwachpunkte von Essex County erzählen will.
Die Mädchen nicken, als wüssten sie, dass die wenigen Freizeitbeschäftigungen nicht der wahre Grund dafür sind, dass wir den Mannschaftssport so ablehnen. Sie geben sich solche Mühe, uns nicht zu verärgern, dass ich schon wieder sauer werde, dass Mack unsere Abmachung gebrochen hat, die KRANKHEIT nicht zu erwähnen.
Natürlich verpasse ich meinen Platz in der Reihe beim Friseur. Während ich es gerade eben erst merke, ist meine Mutter wahrscheinlich schon stinksauer, aber immerhin konnten wir die Zwillinge dazu bringen, uns am Freitagabend an der Pier unter der Brücke zu treffen, um angeln zu lernen. Das ist viel besser als das Band-Konzert, wo die halbe Stadt dabei ist. Verabredungen eins zu eins – Mack wird langsam zum Experten. Ohne Auto ist es schwierig, einen Ort zu finden, an dem man mit einem Mädchen allein sein kann.
Als ich zum Friseur komme, sitzt meine Mutter draußen im Subaru. Damit, dass es zu heiß wäre, versuche ich mein Keuchen zu entschuldigen. Sie streckt mir ihre leere Hand entgegen.
»Gib mir die zehn Dollar.« Sie ist wirklich böse. »Du kannst morgen mit dem Fahrrad zum Friseur fahren.«
»Wie wäre es mit Freitag?«, frage ich. »Da wollten Mack und ich den neuen Nachbarn zeigen, wie man angelt. Die sind aus Charlottesville.«
Sie sieht mich nur an, mit diesem schmalen, hintergründigen Lächeln, das eigentlich keins ist, sagt aber nicht Nein, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass sie mich Fahrrad fahren lässt. Seit Juni hat sie Panik, dass ich dabei ohnmächtig werde und vom Rad kippe.
»Das mit dem Angeln würd ich mir an eurer Stelle noch mal überlegen«, sagt sie trocken. »Nicht viele Mädchen mögen das.«
Dazu fällt mir nichts mehr ein, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, mir zu überlegen, woher sie weiß, dass die neuen Nachbarn Mädchen sind.