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In einem Polizeiwagen zu fahren, ist nicht so prickelnd, wie alle tun. Sie bringen mich nur zur Praxis von Doktor Morley an der Route 360 in Mechanicsville. Meine Eltern sollen uns dort treffen, und dann werden die Ärzte offiziell die Chemotherapie verschreiben und eine Überweisung zur Behandlung am Medical College von Virginia in Richmond ausstellen, alles per Gerichtsbeschluss. Dort werden sie mich dann, laut Aussage des Sheriffs, mit den Zellgiften vollpumpen, auch wenn er das nicht wörtlich so sagt. Eigentlich sagt er während der ganzen Fahrt über fast gar nichts, außer dass er mich dreimal fragt, ob ich Hunger habe. Daher weiß ich, dass er das ernst meinte, was er zu Dad gesagt hat: dass ihm die ganze Sache leidtut.

Mit Sheriff Jessup im Wartezimmer ist Doktor Morley viel nervöser als bei meinen früheren Besuchen. Ich frage mich, ob er seine professionelle Meinung anzweifelt.

»Blöd, so im Mittelpunkt zu stehen, hm?« Er starrt auf seine Hände, vielleicht, um sich selbst von dem uniformierten Wachposten neben der geöffneten Tür abzulenken. Doch als er aufblickt, sieht er nicht zum Sheriff, sondern direkt zu mir. Bis jetzt ist Doktor Morley einer der wenigen Ärzte gewesen, die immer direkt mit mir geredet haben und nicht mit meinen Eltern über mich. Da ich der Patient bin, weiß ich das sehr zu schätzen, auch wenn Mom sich wahrscheinlich wünscht, er würde einiges von dem, was er sagt, lieber nur für sie aufheben. Jetzt, wo meine Situation per Gericht auf ein riesiges Diskussionsfeld gezerrt worden ist, hoffe ich auf ein paar Minuten allein mit dem Doc. Meine Fragen würden Mom nur aufregen.

»Kann ich mit Doktor Morley in seinem Sprechzimmer reden?«, frage ich.

Sheriff Jessup nickt. »Solange du nicht vorhast, durchs offene Fenster zu entwischen.«

»Ich werde ihn nicht in die Nähe des Fensters lassen«, sagt Doktor Morley, bevor er mir bedeutet, in den Behandlungsraum zu gehen.

Grund für meinen Vorstoß ist Merediths Vortrag über mein Recht, selbst Fragen zu stellen. Auch wenn mir klar wird, dass die gerichtliche Anordnung, mit der meine Eltern bestraft werden, dieses Recht fast wertlos macht. Aber Holden hätte bestimmt gefragt. Also lege ich los.

»Wie funktioniert so eine Chemo?«

»Du legst dich hin, und sie bereiten einen Zugang vor. Abgesehen von dem Pieks der Nadel tut das nicht weh. Sie werden dir zuerst ein Medikament gegen Übelkeit geben und dann wahrscheinlich Benadryl, weil das Mittel gegen Übelkeit dich zappelig macht.« Er beobachtet mein Gesicht, als könnte ich gleich in Tränen ausbrechen. »Es dauert dann eine Weile, bis alles in deinem Körper ist. Alle paar Minuten wirst du von den Schwestern kontrolliert. Sie müssen sehen, wie viel du verträgst, vor allem bei diesem ersten Mal.«

»Beim ersten Mal? Wird es denn mehr als eine Anwendung geben?«

»Wir haben vorerst drei geplant.«

»Wir?«

»Bei einer so komplizierten Krankheit wie AML beraten die Ärzte der verschiedenen Fachrichtungen gemeinsam. Und sie müssen die Reaktion deines Körpers beobachten, ohne gleich zu viel zu geben. Diese Medikamente sind teuer, und eine Art Versuchslauf spart auf Dauer Zeit und Kosten.«

Es ist vier Monate her, seit sie die Tumore vorn und hinten in meinem Hals, in den Lungen und wo auch immer gefunden haben. Vier Monate, seit sie verkündeten, mir bliebe noch ein Jahr. Der Begriff auf Dauer hat da eine ganz neue Qualität. Doktor Morley fährt fort, also denkt er wohl, weil ich nichts sage, bin ich bereit, mehr zu hören.

»Der knifflige Teil kommt, wenn wir die Therapie gezielt auf dich abstimmen müssen, nachdem wir gesehen haben, wie dein Körper reagiert. Jeder Mensch ist anders. Wenn man bedenkt, dass dein Magen dir jetzt schon Probleme bereitet, würde ich empfehlen, dass du nach der Anwendung erst mal ein paar Stunden nicht Auto fährst oder so etwas. Vielleicht musst du auch über Nacht bleiben, wenn es zu heftig wird. Oder wenn die Werte der weißen Blutkörperchen schlecht sind.«

»Werde ich kotzen und meine Haare verlieren?«

»Die Haare, ja, das passiert in etwa neunundneunzig Prozent der Fälle. Die meisten Leute vertragen die Medikamente aber ganz gut, also geht es vielleicht ohne das Kotzen.«

Ich muss lachen, weil der sonst so ernste Arzt diesen unmedizinischen Ausdruck verwendet. »Sonst noch was? Ich komme besser damit klar, wenn ich vorbereitet bin. Meine ... äh ... Fantasie ist manchmal schwer zu kontrollieren.« Ich zucke mit den Schultern, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich es verkrafte. Trotzdem ist hier etwas nicht okay. Er gibt mir viel zu wenig Informationen für eine so komplizierte medizinische Therapie. Bestimmt sagt er nicht die ganze Wahrheit.

Doktor Morley wartet nicht auf meine nächste Frage. Er scheint im Kopf eine Liste durchzugehen. »Manche Leute kriegen Migräne. Hast du das schon mal gehabt?«

»Nein.«

»Wahrscheinlich wird dir vor allem übel sein«, sagt der Doc. »Aber die Chemo kann auch Ohnmacht hervorrufen oder Bewusstlosigkeit, Blackouts.«

»Gibt es da einen Unterschied?«

»Ja, Tiefe und Dauer sind verschieden«, sagt er. »Und der Gedächtnisverlust. Eine Ohnmacht ist normalerweise ein kurzer Zwischenfall, ohne dass sich dein allgemeiner Gesundheitszustand großartig verschlechtert. Blackouts sind ernster, schwerer.«

»Und die kann man nicht verhindern?«

»Das werden dir die Schwestern näher erklären«, will er mich beruhigen. »Falls du tatsächlich bewusstlos wirst, werden wir dich über Nacht zur Beobachtung dabehalten. Wenn deine Blutwerte schlecht sind, werden wir dich auch dabehalten.«

»Sind Sie der Arzt, der vor Gericht gegen meine Eltern ausgesagt hat?«, frage ich.

Wie ich an seinem Gesicht sehe, wird ihm in diesem Moment klar, dass ich die ganze Zeit auf diese eine Frage hinauswollte. Er setzt sich hinter seinen Schreibtisch, als wollte er sich schützen. Vielleicht will er auch nur seiner Position mehr Gewicht verleihen, so wie ein Richter eine Robe trägt, damit der Kriminelle bei der Urteilsverkündung seine Autorität bei Gericht eher anerkennt. Bei Tieren: männliche Prachtfarben-Dominanz-Reaktion. Bio, sechste Klasse.

»Ich wurde vorgeladen, Daniel«, sagt der Doc. »Ich hatte keine andere Wahl als auszusagen. Es geht einfach darum, wie wir dein Leben am besten retten können. Das ist es, was das Gericht will. Das ist es, was alle wollen.«

»Aber es gibt keine Garantie, richtig?«

»Nein, keine Garantie«, antwortet er. »Trotzdem haben wir keinen Grund, nicht davon auszugehen, dass die Standardtherapie bei einem aktiven und ansonsten gesunden Teenager wie dir nicht anschlägt. In vielen Fällen führt Chemotherapie nach kurzer Zeit schon zu Erfolgen. Und wenn nicht, können wir noch andere Verfahren testen. Dein Leben zu retten, ist das Ziel.«

»Falls das möglich ist.«

»Natürlich, falls. Wir sind keine Wunderheiler.«

Mom kommt rein, ohne anzuklopfen. »Er ist minderjährig, Doktor Morley. Sie haben kein Recht, in unserer Abwesenheit mit ihm zu sprechen, gerichtliche Anordnung hin oder her.«

»Er hat darum gebeten.«

Sie sieht geschockt aus und plötzlich sehr zerbrechlich, ganz und gar nicht die eigensinnige, taffe Person, die ich kenne.

»Ist schon gut, Mom, ich wollte nur wissen, wie das funktioniert«, versuche ich sie zu beruhigen. »Was ich zu erwarten habe.«

Sie will mein Gesicht zwischen ihre Hände nehmen, stoppt das aber in letzter Sekunde, weil ihr, glaube ich, einfällt, dass ich kein kleiner Junge mehr bin. Stattdessen formt sie mit den Lippen ein stummes Sorry. Aber sie weigert sich, Doktor Morley die ausgestreckte Hand zu schütteln. Als sie zum Fenster geht, ohne uns anzusehen, weiß er, dass die Sitzung vorbei ist, und verabschiedet sich mit einer Handbewegung Richtung Tür.

In der Zwischenzeit hat Dad den Papierkram mit der Arzthelferin erledigt. Sie hat Anweisungen für das Krankenhaus ausgedruckt, eine Terminbestätigung, dann die Arzneimittelhinweise aller Medikamente der Chemo (die Warnungen in Fettdruck) sowie ein Rezept für weitere Medikamente gegen Übelkeit für zu Hause. Dad zeigt mir alles, während Mom zur Toilette geht.

»Deine Mutter fährt, bevor deine erste Behandlung losgeht, wieder nach Hause«, sagt er, während er die Papiere zusammenfaltet und versucht, sie in seine Hemdtasche zu stecken. Natürlich ist der Stapel viel zu dick, und es sieht bescheuert aus, wie ihm das Ganze aus der Tasche ragt. »Um bei Nick zu sein. Das mit der Chemo könnte sich nämlich ganz schön hinziehen.«

Er sagt mir auch nicht die ganze Wahrheit, aber ich weiß jetzt besser Bescheid. Danke, Meredith.

Wie sich herausstellt, liegt er mit seiner Vermutung richtiger, als er dachte. Nachdem wir eine Stunde in Doktor Morleys Wartezimmer herumgesessen haben, sind die Laborergebnisse da, und mein Blut ist so vermurkst, dass der erste Chemo-Termin gar nicht stattfinden kann. Wir fahren in Dads Wagen nach Hause, Sheriff Jessups Polizeiwagen als Schatten hinter uns. Wahrscheinlich muss er dem Gericht melden, dass wir die Anordnung befolgt haben.

Bevor meine Blutwerte sich erholen, kriegt dieser Vollspacko Walker tatsächlich noch die Kurve. Seine Berufung hat Erfolg, und der Gerichtsbeschluss zur Chemotherapie wird ausgesetzt. Für den Augenblick können sie uns also nicht dazu zwingen. Besser gesagt: mich.

Trotz Moms geheimer Pläne gehen wir im Oktober doch nicht nach Mexiko. Walker sagt, sie würde sich strafbar machen, wenn sie während des ausgesetzten Vernachlässigungsverfahrens das Land verließe. Sie könnten sie per Gerichtsbeschluss zurückholen. Auslieferungsvertrag. Ich muss im Lexikon nachschlagen, was das bedeutet.

Während meine Eltern und Walker verhandeln, wie sie die Verzögerung der Chemotherapie während der Berufung weiter verlängern können, kriege ich eine Grippe. Weil der Wert meiner weißen Blutkörperchen so miserabel ist, komme ich ins Krankenhaus, damit sie ausreichend Antibiotika in mich reinpumpen können, um eine weitere Infektion zu vermeiden. Obwohl meine Eltern sich gar nicht wieder einkriegen mit gegenseitigen Vorwürfen, wer Schuld hat, kümmert mich das herzlich wenig, weil ich weiß, woher ich sie hab. Von Meredith natürlich.

Leonard Yowell beschließt, eine Halloween-Party zu schmeißen. Mack ist furchtbar angepisst. Wahrscheinlich wollte er der König aller Halloween-Partys werden. Er sagt, er habe in der Schule viel um die Ohren wegen eines neuen Wahlfachs und weil der Unterricht in der Zehnten härter sei. Außerdem haben wir uns ja gestritten, weil er nicht gut genug auf Meredith aufgepasst hat, also haben wir in letzter Zeit nicht viel gesprochen.

Ich weigere mich, um Freundschaft zu betteln. Ich könnte sowieso nicht sagen, wer dann nur Mitleid mit mir hat. Selbst Leute wie Holden, die gut darin sind, den Charakter von Leuten einzuschätzen, hätten da Probleme.

Also, zur Party: Die Yowells haben weitaus mehr Geld als die Petrianos – oder sonst jemand in der Stadt, wenn man’s genau nimmt –, was bedeutet, dass das Essen viel besser sein wird. Und sie haben mehr Platz für mehr Leute. Das könnte interessant werden oder Zoff geben, je nachdem, welche Leute Leonard einlädt. Wenn er die ganze Sache als Vorwand nimmt, all seinen Schnöselfreunden zu imponieren, könnte es mehr als heikel werden.

Schnösel sind auf jeder Highschool die gefährlichste Gruppe. Erwachsene verstehen das nicht. Es ist wie Tarnung. Schnösel haben gute Manieren gelernt, aber sie lassen den Abscheu vor ihrer eigenen Klasse so sehr raushängen, dass du fälschlicherweise annimmst, sie wären auf deiner Seite, während sie sich eigentlich nur auf deine Kosten amüsieren wollen. Die sind wie Barrakudas. Wie Stradlater, Holdens Zimmergenosse an der Pencey, der beim Haarekämmen seine ganzen Haare auf dich runterrieseln lässt, als wärst du der letzte Dreck, obwohl er so tut, als würde er gerne mit dir rumhängen. Der sich dein Jackett ausborgt und es dann mit seinen muskulösen Schultern ausleiert, nur um ein Mädchen zu beeindrucken, mit dem er eigentlich gar nicht rummachen sollte. Wenn solche Leute – oder welche, die es gewohnt sind, Anführer zu sein – spendabel und gut drauf sind, dann planen sie eigentlich nur ihre nächste Mahlzeit. Und wenn die richtigen Freunde auftauchen, wirst du im Handumdrehen zum Appetithappen.

Was mich an Yowells Party beschäftigt – abgesehen von Macks Gefühlszustand –, ist, dass Meredith hoffentlich nicht zu sehr von all dem Glamourscheiß beeindruckt ist. Es würde zwar nicht zu ihr passen, aber es sind schon seltsamere Dinge passiert. Ich kann bestimmt nicht behaupten, ich wüsste, wie Mädchen ticken.

Meine Rettung ist Joe, der am Wochenende vor der Party auftaucht. Perfektes Timing, wie immer. Als er unangekündigt reinschneit, fängt Mom an zu heulen. Würd ich sie nicht besser kennen, würd ich denken, dass sie Medikamente einwirft, wenn er nicht da ist. Nachdem Joe uns alle umarmt hat, fragt Nick, ob wir Pizza essen können. Das ist echt komisch bei Nick. Er muss einen Käsemangel haben oder so etwas. Joe erklärt sich bereit, die Pizzen abzuholen. Wie praktisch das sein muss, wenn du deinen Führerschein hast und jederzeit einfach ins Auto springen und Pizza holen kannst!

»Komm mit, Alter«, sagt Joe zu mir.

Nick ruft: »Ja, Familienausflug!«

So, wie alle lachen, weiß ich jetzt schon, dass das von nun an ein geflügeltes Wort in der Familie sein wird. Dad sagt Nein, Nick müsse dableiben und den Tisch decken. Woraufhin er ausrastet. Er tritt gegen einen Stuhl und hechtet davon, bevor sie ihn bestrafen können. Hausbootkabinen sind gut für so was. Du tauchst in irgendeiner Öffnung ab und könntest dann überall sein. Keine langen hallenden Gänge, wo dir wütende Schreie hinterhergellen, während du wegläufst.

Bevor er den Subaru startet, stellt Joe alles neu ein, die Spiegel, den Sitz, den Radiosender. Aus dem Armaturenbrett explodiert Reggae-musik.

»Huh.« Ich drehe den Regler zurück. »’N bisschen laut, was?«

»Mann, hast du auch so ’ne Pisslaune«, regt sich Joe gleich auf. »Ich komm nicht mehr her, wenn alle so pissig sind.«

Ich will nicht streiten. Bin froh, ihn zu sehen – ziemlich erleichtert sogar, um ehrlich zu sein –, weil ich zigtausend Fragen habe wegen Meredith. Aber es ist schwierig, wenn jemand immer einfach nur in dein Leben reinschneit, wenn es ihm gerade so passt.

»Ich hab keine schlechte Laune«, verteidige ich mich. »Das war nur scheißlaut, sonst nichts.«

»Das tut mir aber leid«, sagt er und dreht den Regler wieder hoch.

Ich traue mich nicht, noch mal was zu sagen. Wenn er ein Arschloch geworden ist, dann ist das eben so. Er ist derjenige, der mit diesem Arschloch leben muss, nicht ich.

In der Pizzeria ist unsere Bestellung noch nicht fertig, also setzen wir uns an einen freien Tisch. Gegenüber, wie bei einem Anstarr-Wettbewerb, nur dass wir uns überhaupt nicht ansehen. Wir warten. Und warten. Normalerweise ist Joe wie Dad, ganz geduldig. Aber sein Knie wippt, und er zappelt rum, was ein sicheres Zeichen ist, dass ihn irgendwas beschäftigt.

Er entschuldigt sich als Erster. »Hör zu, tut mir leid, dass ich gleich so ausgerastet bin. Musik ist auch nur Musik. Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Dir geht’s bestimmt furchtbar, und ich blaff dich auch noch an.« Er runzelt die Stirn, als würde er angestrengt nachdenken, und legt den Kopf schief. »Wie geht’s dir denn?«

»Ich bin die ganze Zeit müde«, sage ich. »Mir ist oft schlecht. Aber jetzt gerade, in dieser Minute, bin ich einfach nur froh, hier zu sein.«

»Du bist in Ordnung, Kleiner. Total in Ordnung.« Er legt die beiden Zwanziger, die Dad ihm gegeben hat, auf den Tisch und streicht sie glatt. »Und? Was passiert so an der Essex High? Wer ist in diesem Halbjahr schwanger?«

»Ich geh nicht hin.«

»Scheiße, hab ich vergessen«, sagt Joe. »Wahrscheinlich hast du jetzt überall Einsen ohne den ganzen Unterricht und die Lehrer, die dich nur kirre machen.«

Ich muss grinsen, weil er ja so recht hat.

»Wie ist es mit dem Fänger im Roggen gelaufen?«

»Eins.«

Er boxt mich auf den Arm. Ich zucke zusammen und fahre zurück, die andere Hand um den Arm gelegt.

»O Gott, Daniel.« Er steht auf und kommt zu mir rüber. »Ich bin so ein Arschloch.«

Ich lache wie eine Hyäne. Als er merkt, dass ich ihn nur verarscht hab, knurrt er und macht auf dem Absatz kehrt, als hätte ich die Krätze.

»Landon«, ruft das Mädchen an der Kasse durch den ganzen Laden. »Landon, Ihre Bestellung ist fertig.«

Joe fällt in mein Lachen ein. »Immer noch derselbe. Alter Scheißkerl.«

Auf dem Weg nach Hause schaltet er das Radio ganz aus. »Erzähl mir von dieser Brückentante aus Ohio. Hast du sie schon geküsst?«

Ich nicke und grinse. »Tatsächlich ist sie aus Charlottesville.«

»Weiter so! Sonst noch was, das du mir sagen willst?«

»Also ... Ich seh sie nächsten Samstag auf Leonards Halloween-Party.«

»Oho, Senator Yowell lässt ein paar Kröten für einen nicht republikanischen Event springen?«

»Ja, krass, oder?«, sage ich. »Und Mom lässt mich hin. Aber das ist eine von den Dingen, die ich dich fragen wollte. Was, wenn Meredith von den Yowells beeindruckt ist? Das große Haus, der Pool, du weißt schon.«

»Wenn sie so oberflächlich ist, lass sie ziehen, Mann.«

»Ich sag ja nicht, dass sie so ist«, erkläre ich Joe. »Ich versuche nur, mich darauf einzustellen, mehr nicht.«

»Wie auch immer«, sagt mein Bruder. »Es ist doch so: Wenn sie blaue Augen hat und du braune magst, sie aber sonst die perfekte Frau für dich ist – lässt du sie dann gehn?« Er hält an einer roten Ampel und biegt in eine Seitenstraße ab, als wäre er nicht sicher, wo er langfahren muss. »Auf keinen Fall. Kein Mädchen wird je perfekt sein, aber manche Dinge sind eben wichtiger als andere. Und nur du kannst sagen, welche.«

Der Subaru kriecht die Straße entlang. Joe lehnt sich von mir weg, um irgendwas im Seitenspiegel zu beobachten.

»Was?«, will ich wissen. »Was ist los?«

Er antwortet nicht, sondern legt nur die Zunge über die Oberlippe und schaut so konzentriert wie beim Schach, wenn er überlegt, wie er seine Dame retten kann.

»Joe? Was zum Teufel ist da los?«

»Ich glaube«, antwortet er, »hinter uns sind zwei junge Damen, die du kennen könntest.«

Ich dreh mich um und sehe durch die Heckscheibe. Tatsächlich sind es die Zwillinge in Sportsachen, die joggen. Meredith winkt wie wild.

»Stopp.«

Joe gibt Gas.

»Scheiße noch mal, Joe«, schreie ich. »Hör auf damit und halt den verfluchten Wagen an!«

Er tritt fest auf die Bremse, legt dann mitten auf der Water Lane den Rückwärtsgang ein und setzt zurück. Hey, wow, mein Bruder ist – der Marlboro Mann!

»Das reicht, sonst überfährst du noch was.«

Das eine Hinterrad gerät quietschend an die Bordsteinkante, und er stellt den Motor ab. »Kommst du?« Er lässt die Fahrertür offen.

Und er hat recht. Die Chancen, dass hier am hinteren Ende der Water Lane ein anderer Wagen vorbeikommt, stehen eins zu eintausend. Die meisten biegen an der Straße zum Postamt ab.

Nachdem alle sich vorgestellt haben, überlässt Joe das Reden mir. Er hat einen Fuß auf den Feuerhydranten gestellt und blickt über den Hoskins Creek, als hätte er nichts Besseres zu tun, einfach mir zuliebe. Juliann ist sichtbar beeindruckt. Richtig sprachlos sogar, und sie kriegt wieder diesen Jane-Austen-Blick. Mädchen sind komisch.

Merediths T-Shirt ist hellgrün, wie Apfelbaumblätter im Frühling. Dazu sieht ihre braune Haut zum Anbeißen aus. Wenn ein Mädchen so gut aussieht, ist es schwer, sich zu konzentrieren.

Sie riecht auch gut. »Daniel, hast du immer noch vor, am Samstag zu Leonards Halloween-Party zu gehen?«

Wenn die Mädchen zu mir sehen, steht Joe außerhalb ihres Blickfelds. Er presst die Lippen zusammen, grinst wissend und nickt. Wenn ich darauf reagiere und die Mädchen sich umdrehen, dann merken sie, dass er Grimassen schneidet, also darf ich keine Regung zeigen. Ich sehe Meredith in die Augen.

»Ja, klar. Hat Mack schon was gesagt, wie wir da hinkommen?«

»Meine Mom meinte erst, sie würde uns fahren«, anwortet sie. »Aber jetzt soll sie ein paar Freunde treffen, aus der Arbeit, und sie wollen essen gehen, irgendwo hinter Warsaw. Im Good Eats?«

Joe bewegt den Kopf auf und ab, dass er aussieht wie ’ne alte Omi bei ’ner Teeparty. Meine Lippe fängt gleich an zu bluten, wenn ich das noch länger aushalten muss.

Das Fahrproblem kann ich lösen. »Zu Leonard ist es nicht weit, er wohnt gleich hinter der katholischen Kirche, an einer Seitenstraße der Route 17. Vielleicht kann Mack uns alle hinfahren.«

Joe schmunzelt und wackelt mit dem Kopf hin und her wie Mister Glücklich aus den Kinderbüchern. Es ist fast unmöglich, nicht zu lachen.

»Okay«, sagt Juliann, als wäre der Plan genehmigt, aber sie sagt es ohne den üblichen Enthusiasmus, wenn Macks Name fällt.

»Ich frage ihn und ruf dich an«, sage ich zu Meredith. »Ich bin sicher, das geht.«

Als Joe wieder zum Wagen schlendert, überlege ich, ob ich noch mehr sagen soll. Über die Schule. Oder Halloween. Oder dass ich sie irgendwann anrufe, um zu quatschen. Es ist nicht so leicht, von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu reden, wie am Telefon. Woher kommt das?

Juliann streckt die Arme in die Luft und fängt an, auf der Stelle zu laufen. Meredith schüttelt den Kopf, als wollte sie sagen: Nicht zu fassen!

Juliann wirft ihr einen bösen Blick zu, dann wendet sie sich an mich. »Ist dein Bruder auf der Uni?«

Als ich von Meredith zu Juliann sehe, wird sie rot. In ihrem Gesicht kann man ablesen, dass sie sich gerade Hals über Kopf in ihn verliebt hat. Mannomann, jetzt steck ich aber in Schwierigkeiten! Mack wird ausrasten. Es gibt keinen anständigen Weg, einem sechzehnjährigen Mädchen zu sagen, dass ein einundzwanzigjähriger Student zu alt für sie ist. Das sollte sie eigentlich selbst wissen. Meredith sieht es auch, das merke ich.

»Ich sage Mack, er soll Juliann direkt anrufen, was meinst du?«, flüstere ich Meredith zu.

Sie nickt. »Ja, tu das. Das wäre gut.«

Und lauter, zu beiden Mädchen: »Ich ruf euch morgen an. Oder heute noch ...«

Als Joe hupt, renne ich zum Wagen, weil er schon anfährt.

»Mann!« Joe will mich wieder auf den Arm boxen, hält aber im letzten Moment inne. »Das sind ja zwei süße Schnecken. Habt ihr gut hingekriegt, Mack und du.«

Ich werde ihm auf keinen Fall die ganze Wahrheit sagen. Dass ich überhaupt nichts Besonderes gemacht hab, um Eindruck zu machen. Ich bin von einer Brücke gefallen. Einfach ein dummer Zufall! Da zieht ein Paar Zwillinge zufällig neben meinem besten Freund ein, zufällig stellt er mich ihnen vor, wir gehen ganz zufällig angeln und dann endet es zufällig damit, dass sie uns mögen. Bis Joe McCollege nach Hause kommt. Ich kann mich nur freuen, dass er die meiste Zeit woanders wohnt.

»Und?«, fängt er wieder an. »Wolltest du mich noch was fragen? Brauchst du Kondome?«