11
Mom und Dad sind beim Abendessen gut drauf. Joe erzählt eine Geschichte nach der anderen über seine Kollegen im Wohnheim und die Professoren. Ein alter Typ schlurft rein, bleibt vor der Tafel stehen, grüßt den Kurs und stellt ein paar Fragen. Niemand antwortet. Die Studenten sehen sich verwirrt an. Der Professor wiederholt die Frage. Er mustert die Studenten Reihe um Reihe. Niemand sagt was. Er verlässt den Raum. Als er wiederkommt, hat er eine andere Mappe dabei. »Falscher Kurs«, sagt er.
Dad wiederholt die Pointe ungefähr sechs Mal, und wir lachen uns alle mehr kaputt, als dieser Witz es verdient, aber ich sehe diesen trotteligen Professor direkt vor mir, wie er sich fragt, was los ist, weil keiner die Antwort weiß. Dabei haben sie noch nicht mal das Buch gelesen.
Nick meldet sich nach dem Essen freiwillig zum Spülen. Erstaunlich. Joe schleppt seinen Rucksack in die Hauptkabine, schaltet alle Lichter ein und macht es sich auf dem Sofa gemütlich. Er packt sich ein Kissen auf den Schoß und legt ein Buch drauf.
»Darf ich Mack anrufen?«, frage ich Dad.
Als ich wieder zurückkomme, ist die ganze Sache mit der Halloween-Party und den Zwillingen geklärt. Aber Mom geht mit großen Schritten auf und ab, und Joe hat sein Buch zugeklappt.
Er runzelt die Stirn genau wie Dad, was mir vorher noch nie aufgefallen ist. Er ist ganz in das Gespräch vertieft und bemerkt mich gar nicht. »Ich versteh nicht, warum der Anwalt sie nicht stoppen kann«, sagt er zu Mom.
Moms Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. »Anscheinend ist das ein besonderes Gesetz. Um Kinder zu schützen. Als Eltern haben wir keine Rechte. Sie haben uns schon für schuldig befunden. Vernachlässigung und Misshandlung. Es stand in allen Zeitungen. Sie haben diesen besonderen Antrag eingereicht, der besagt, dass Daniel ein Kind mit Pflegebedarf sei. Sie haben beantragt, dass das Gericht die Behandlung ohne unsere Einwilligung anordnet.«
Jetzt sieht Joe mich fragend an.
»Ich kann nichts dazu sagen«, sage ich. »Die lassen mich nicht mal zu den Anhörungen gehen.«
»Aber willst du denn diese Behandlung – Chemo, Bestrahlung oder was auch immer?«, fragt er nach.
Es entsteht eine spannungsgeladene Stille, als ob gleich ein Luftballon platzt, wenn du weißt, dass du mit ihm an was Scharfes oder Heißes gestoßen bist.
Mom schlägt die Hände zusammen und hält sie vor den Mund, schockiert darüber, dass diese Frage überhaupt gestellt wird. »Natürlich will er die Chemo nicht. Misty behandelt ihn mit Kräutern und Vitaminen, und ihm war schon seit Tagen nicht mehr schlecht. Es geht ihm besser. Er hat auch wieder mehr Farbe bekommen.«
Um die Wahrheit zu sagen, hab ich keine Ahnung, wo an mir irgendwelche Farbe sein soll, ganz zu schweigen davon, was sich verändert hat. Von sechs Stunden schlafe ich zwei. Meine Knie und Ellbogen tun weh, als wär ich hundert Jahre alt. In meinem Gesicht ist kein einziger Pickel mehr, als ob sogar Fett und Schmutz sich aus Angst vor dem heranschleichenden Krebs zurückziehen würden. Wenn ihr mich fragt ... aber noch während Joe die Frage ausspricht, die sonst noch niemand gestellt hat, wird mir klar, dass mich bei dieser ganzen Chaos-Nummer von Anfang an keiner gefragt hat, was ich will. Und jetzt, wo das Gericht und der Bezirk und meine Eltern sich im Krieg befinden, sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Schutzwälle hochzuziehen.
Nick liegt in seiner Koje, als ich in die Kabine gehe, um einen Pulli zu holen.
»Hat Joe seine Hausaufgaben fertig?«, will er wissen.
Ich zucke mit den Schultern.
»Er hat gesagt, wir könnten dann Risiko spielen.«
Ich bleibe im Pulli stecken, weil ein Arm falsch herum hängt, und ringe darum, freizukommen, ohne das dumme Ding noch mal ganz ausziehen zu müssen.
Ich stecke also halb drinnen und halb draußen, als ich sage: »Könnte ist das zentrale Wort, Nick. Er meinte, wir könnten spielen.«
»Willst du denn nicht spielen?«
»Werd erwachsen.«
»Warum willst du nicht spielen?«, fragt mich Nick. »Joe will doch auch.«
»Du und deine Spiele«, mach ich ihn an. »Herrgott, Nick, ständig musst du andere bashen! Was ist das nur mit dir und deiner Gewinnsucht?«
»Du hast doch das letzte Mal beim Scrabble gewonnen!«, verteidigt sich Nick. »Früher hast du immer gerne gespielt. Bevor du ...«
»Ja, bevor ich wusste, dass ich in einem Jahr vielleicht nicht mehr da bin«, mache ich ihm klar. »Sondern tot. Das ist eine winzig kleine Sache, die deine Perspektive nun mal verändert.«
Nick wirft seinen Gameboy nach mir. Zum Glück für ihn fang ich ihn auf.
»Wirf das nicht weg, Kleiner«, ziehe ich ihn auf. »Damit kannst du spielen, wenn sonst keiner Zeit für dich hat. Wenn ich tot und begraben bin.«
Ich werfe das Ding wieder zurück, aber er ist schon halb aus seiner Koje und geht mit eingezogenem Kopf auf mich los. Alles passiert in Zeitlupe. Um mich herum ist Stille, und dann ist da Nick. Kompakt und muskulös schlingt er sich wie ein Anker um meine Beine, reißt mich herum und bringt mich zu Fall. Mit einem Arm immer noch im Sweatshirt gefangen, bin ich bewegungsunfähig und hilflos. Dann erscheint Joe im Türrahmen. Im Bruchteil einer Sekunde erfasst er die Situation, greift in unser Knäuel und packt Nick um die Taille. Er drückt mir einen Fuß auf die Brust, sodass ich nicht mehr an Nick rankomme.
»Hast dir ’nen Schwächeren zum Verprügeln gesucht, hm?«, spricht Joe.
Wen von uns beiden er meint, bleibt unklar. Aber wen interessiert das schon? Wir veranstalten ein typisches Gerangel, so wie früher, bevor Joe aufs College ging. Nick quietscht, ich grunze, Joe zieht. Ich schiebe, Nick kreischt. Das Bett bekommt wahrscheinlich das meiste ab. Und als wir alle erledigt sind, kann keiner aufstehen, weil wir so sehr lachen müssen wie Clown-Schimpansen im Zirkus.
Obwohl Dad und Mom uns bestimmt aus dem Wohnzimmer hören können, lassen sie uns in Ruhe. Und das ist es, was mich am meisten an früher erinnert. Zur Abwechslung macht sich mal keiner Sorgen um den armen kranken Daniel.
»Und? Was hat Mack gesagt?«, fragt Joe beim Frühstück, während er Dads berühmtes Veggie-Omelette verschlingt wie ein Flüchtling aus dem Sudan, der seit einem Monat nichts gegessen hat.
»Saft?«, fragt Mom in die Runde.
»Ich«, sagen Dad, Joe und Nick gleichzeitig.
Mom schenkt vier Gläser ein und gibt mir das erste.
»Ich wollte keinen«, sage ich.
»Du bist derjenige, der ihn wirklich nötig hat.«
Joe sieht mich an, als würde er in diesem Moment erst begreifen, womit ich da eigentlich konfrontiert bin. »Mack?«, wiederholt er.
»Er holt die Zwillinge ab und kommt dann zur öffentlichen Bootsrampe, um mich einzusammeln«, erkläre ich ihm. »Nick kann mich im Motorboot hinfahren.«
»Vielleicht kann ich das nicht«, sagt Nick.
»Warum kannst du nicht?« Mom spielt schon wieder Schiedsrichter. So viel zur Normalität des Jungsgerangels.
»Egal.« Ich werde nicht auf die gönnerhafte Einwilligung eines dreizehnjährigen Wurms warten. »Ich nehm das Ruderboot.«
»Ich halte das für keine gute ...«, beginnt Mom.
Dad unterbricht sie. »Wann findet dieses gesellschaftliche Ereignis überhaupt statt?«
Als Mom sich umdreht, greift Joe mein Glas. Er trinkt mit einem großen Schluck alles aus und grinst. »Samstagabend, Halloween-Party bei den Yowells. Daniel ist mit einem tollen Mädchen verabredet.«
Dad grinst, als würde er sich wirklich für mich freuen. Ich bin so sehr damit beschäftigt, mich halbwegs normal in dieser Szenerie zu fühlen, dass ich Moms Stirnrunzeln erst bemerke, als sie sich hinsetzt.
»Werden da nicht auch viele andere Jugendliche sein?«, fragt sie nach.
»Na, das hoffe ich. Nur mit Leonard, Mack und Meredith würde es keinen großen Spaß machen.«
»Daniel.« Auch Dad ist jetzt irritiert. Das ganze gute Gefühl ist ruck, zuck verschwunden, und ich befinde mich wieder im Goldfischglasmodus.
»Ich glaube, ich geh mal ’ne Runde rudern.« Ich stelle meinen Teller mit dem halb gegessenen Omelett in die Spüle. Wenn wir einen Hund hätten, gäbe es nicht so viel Verschwendung. Aber ich kann direkt hören, was Mom zum Thema Hund als Keimfabrik erzählen würde. »Wann fährst du wieder zur Uni, Joe?«
»Bald. Ich muss bis Dienstag eine Seminararbeit abgeben und sollte mal langsam mit der Recherche anfangen.«
Als Mom und Dad loslegen, dass man sich immer gut vorbereiten und alles im Blick haben muss, schlüpfe ich nach draußen. Joe ist okay.
Der Creek sieht wie eine große braune, unbedruckte Papiertüte aus, kein Fleck, kein Knick, nicht mal ein Otter, der im Schlamm beim Riedgras sonnenbadet. Wäre jetzt Juli, wäre es viel zu heiß, um hier im Ruderboot zu sitzen, doch Oktober ist perfekt. Mein Kopf wird gegrillt, aber an meinem Hals und an den Armen, wo ich die Ärmel hochgekrempelt habe, ist die Luft kühl. Ich hab’s nicht eilig, will nirgendwohin, kein Plan. Das Boot ist uralt, der Rumpf aus Metall mit ein paar Dellen, die bestimmt Geschichten erzählen könnten. Dad hat Holzbänke eingesetzt, nachdem er es im Schilf gestrandet fand. Mit seinen vierzig unterschiedlichen, an verschiedenen Stellen abgeblätterten Farben sieht der Bootsrumpf aus wie moderne Kunst.
Wenn ich wie jetzt allein bin, weg von meiner Familie, kann ich viel besser denken. Ich weiß nicht, wie Holden es so lange an der Pencey oder den anderen Internaten, auf die seine Eltern ihn geschickten hatten, ausgehalten hat. Mit Typen wie Ackley und Stradlater, die ständig einfach so in sein Zimmer kommen und gehen, sein Zeug benutzen und ihn stören, selbst wenn er auf dem Klo ist. Privatsphäre ist mir sehr wichtig. Wenn der einzige Weg da raus gewesen wäre, die Hausarbeiten nicht zu schreiben und die Tests nicht zu bestehen, hätte ich wohl dasselbe gemacht.
Nicht, dass ihr denkt, ich wär ein Spinner oder so was, aber ganz allein draußen auf dem Fluss führe ich mit Holden die besten Gespräche. Er weiß, wie es sich anfühlt, bei allem außen vor zu sein. Als er dieses Buch von Tania Blixen alias Isak Dinesen über Afrika gelesen hatte, Afrika – dunkel lockende Welt, wollte er die Autorin am liebsten anrufen und mit ihr reden. Das kann ich voll verstehen. Ich wünschte auch, ich könnte Holden jetzt anrufen.
Mack ist ein prima Freund, aber er liest nicht gerne, und er sagt nicht immer die Wahrheit. Er übertreibt, damit das, was er erzählt, interessanter klingt. Nicht, dass mir das viel ausmacht. Auch wenn er es nicht zugibt, weiß ich, wann er anfängt, nicht echt zu sein. Aber ich finde das nicht okay. Es ist eine Charakterschwäche, die er dauerhaft canceln muss. Immerhin hab ich aufgehört, meinen Kaugummi an den Bettpfosten zu kleben, als ich neun war. Ha-ha!
Dad sagt, normalerweise wachsen Menschen aus ihren schlechten Angewohnheiten raus wie aus Kleidern. Es passieren Dinge, an denen sie erkennen, wie zerstörerisch die Angewohnheit ist. Aber wie auch immer – schlechte Angewohnheiten stehen den wichtigen Dingen im Leben auf jeden Fall im Weg. Sie halten dich zurück. Sagt Dad. Ich bin der Erste, der zugibt, dass er ein paar schlechte Angewohnheiten hat. Ich bin ganz bestimmt besessen von Meredith, aber zumindest gilt das nicht mehr für Mädchen im Allgemeinen. Ich bin ungesellig. Nicht, dass ich nicht gerne mit anderen zusammen bin. Aber es gibt gewisse Menschen, mit denen ich nicht in einem Raum sein möchte. Man sollte meinen, ich könnte mich auf ihre guten Eigenschaften konzentrieren und die schlechten einfach nicht so wichtig nehmen. Das hab ich auch versucht, aber diesen Menschen was vorzumachen, wäre meiner Ansicht nach noch uncooler.
Holden hat jede Menge schlechte Angewohnheiten, und das weiß er auch. Er will so sehr ein ganz normaler Typ sein, dass er sich auch mit Trotteln abgibt. Er will nicht, dass ihm irgendjemand sagt, was er tun soll. Er hat Probleme, Prioritäten zu setzen. Das Problem hatte ich auch mal, aber jetzt nicht mehr. Mit der KRANKHEIT kommt man besser schnell zur Sache.
Er spricht es zwar nicht an, aber Ehrlichkeit ist für Holden auch ein Thema. Ich persönlich glaube, er hat es fast geschnallt. Andern gegenüber so ehrlich zu sein, dass du sie verletzt, ist nicht unbedingt nötig, aber bei manchen Dingen ist es ganz entscheidend, ehrlich zu sein. Wenn Meredith zum Beispiel nicht wüsste, dass ich krank bin, müsste ich es ihr sagen, bevor wir zusammen schlafen. Das ist jetzt natürlich rein hypothetisch. Ich spreche das nur mit mir selbst durch. Jedenfalls wäre es ihr gegenüber nicht fair. Sie sollte sich entscheiden dürfen, bevor sie sich fest mit einem Typen einlässt, der vielleicht nicht mehr da ist, um mit ihr zum Abschlussball zu gehen und solche Dinge.
Unter der Brücke muss ich mich beim Rudern anstrengen, um das Boot von den Betonpfählen fernzuhalten. Meine Ellbogen tun weh, und meine Knie tun weh. Die Sonne gleißt über das Boot wie bei der Szene in Apokalypse Now, wo sich der Deckenventilator dreht und der Typ, den Martin Sheen spielt, völlig fertig ist von Drogen oder von der Hitze. Die Brücke hier finde ich immer genauso gruselig wie diese Szene. Irgendetwas stimmt nicht, aber du kannst nichts sehen, du fühlst es nur.
Wahrscheinlich liegt das an diesem unheimlichen, halb verfallenen alten Steg, an dem dieses Fischerboot vertäut ist. Das Boot ist zu neu und zu gut erhalten für das Alter und den Zustand des Docks. Fast so, als hätte der Besitzer es für eine Flucht versteckt. Außer, dass es für jeden, der hier unter der Brücke durchfährt, gut sichtbar im Creek liegt. Allerdings kommen nicht besonders viele den ganzen Weg hier rauf. Wer das nicht schon mal in einem kleinen Boot gemacht hat, kann nicht wissen, ob das Wasser tief genug ist und er nicht riskiert, mit einem großen Boot im Schlamm stecken zu bleiben. Man kann nirgendwo wenden.
Auf der anderen Seite der Brücke stehen die Schilfrohre und warten. Mitten im Creek. Mit ihren komischen blonden Köpfen sehen sie aus wie die Flimmerhaare um das Pantoffeltierchen in meinem Biobuch. Auch ohne Windhauch neigen und biegen sie sich wie Paare beim Eiskunstlauf. Hier oben ist es besser – weiter draußen und weit weg von dem komischen Boot am verfallenen Steg. Es ist nicht mehr gruselig.
Schilfrohr gibt es nicht nur in Virginia, weil es tatsächlich wie Unkraut ist. Und Unkraut wächst überall. Miss T. Undertaker und ihr Umweltschützerclan sammeln jedes Jahr Geld für zigtausend Liter unbedenkliches Unkrautvernichtungsmittel, um das Schilfrohr wegzukriegen, weil es anscheinend das Wachstum guter Pflanzen verhindert. Ich weiß, es ist blöd, aber mir gefällt es irgendwie. Es hat einen Weg gefunden, trotzdem zu wachsen. Es mutiert oder so etwas. Jedes Jahr sieht es ein bisschen anders aus und erhebt sich wieder aus dem Schlamm, zur Hölle mit der Unkrautvernichtungstruppe!
Während ich gegen den Strom rudere, denke ich wieder an Meredith. Also, ich bin nicht sicher, dass sie Ja dazu sagt, mit mir zu schlafen. O Gott, ich kann mir kaum vorstellen, wie das passieren soll. Wann könnte ich schon mal mit ihr allein sein? Entweder ist Mom zu Hause oder Dad ... oder beide. Oder Nick springt rein und raus. Ich werde nicht lang genug leben, um aufs College zu gehen, wo fast alles möglich ist, wie Joe sagt. In den Wohnheimen gibt’s auch Einzelzimmer, oder dein Zimmerkollege ist mal übers Wochenende weg.
Außerdem, wie spricht man das Thema Sex überhaupt an? Besonders bei einem Mädchen wie Meredith. Allerdings gibt sie so Signale, als wär sie vielleicht interessiert. Und sie wird gerne geküsst. Laut Dad reden Erwachsene vorher über alles. Und ich kann mir denken, dass sie nicht der Typ Mädchen ist, der im Dunkeln einfach überrumpelt werden möchte. Mack meint: Sag doch einfach, dass du nächstes Jahr tot bist, dann lässt dich jedes Mädchen ran ... aus Mitleid.
Versteht ihr, was ich in puncto Mack meine? Ist nicht gerade edel, wie er denkt. Und selbst wenn ich nur soundso viele Gelegenheiten habe, will ich nicht, dass irgendein Mädchen mich ranlässt. Ich will, dass sie sich wirklich innerlich darauf einstellt und es ebenso sehr will wie ich.
Falls Meredith überhaupt darüber nachdenkt – ich meine, nicht mit mir, sondern ganz allgemein, mit ihrem Traumtypen –, dann wette ich, sie will es perfekt haben, keinen Fast-Food-Sex und nicht asselig auf dem Rücksitz eines Wagens. Als Mack mir von seinem ersten Mal erzählte, war ich echt geschockt. Im Wald, in irgend so einem Ferienzeltlager der Kirche, mit einem Mädchen, das er nie zuvor gesehen hatte. Und nie mehr danach. Letztes Jahr hätt ich so was vielleicht noch gemacht, aber wenn du weißt, dass du möglicherweise nur einen Versuch hast, ist das anders.
Ein Mädchen, das sich auf eine Brücke stellt und aus Leibeskräften in die Welt hinausschreit, hat sicher eine genaue Vorstellung vom perfekten ersten Mal. Ich hab nicht mal ’ne Schwester und weiß das trotzdem im Voraus. Holden spricht mit Phoebe zwar nie über Sex – sie ist noch zu jung, um über so was Bescheid zu wissen –, aber er weiß, dass ein Mädchen wie Jane eine andere Vorstellung vom ersten Mal hat als ein Mädchen wie Sunny. Du musst dir Gedanken machen, wie dieses Mädchen überhaupt ist. Ich meine, wenn du dabei fair sein willst. Um ehrlich zu sein – sorry, guter Holden –, wissen Mädchen heute jede Menge mehr. Sie haben alles schon im Fernsehen gesehen, und auch Kinofilme sind voll davon. Vielleicht machen die das nur wegen der höheren Altersbeschränkung, um dann die Einspielergebnisse zu verbessern, aber vielleicht sind Mädchen heute einfach anders, sehr viel weiter. Mit der ganzen Wäschewerbung und überhaupt viel nackter Haut in der Öffentlichkeit würde es mich nicht wundern, wenn sogar Nicks Freunde schon irgendwelche Mädchen hinter den Fußballtribünen poppen.
Ich würde gerne jemanden fragen, Joe, denk ich, oder Dad, ob er sich noch an sein erstes Mal erinnert. Ich will keine Details hören – o Gott, nein, bloß keine Details –, sondern nur, ob du es vergisst oder ob es es wert ist, sich daran zu erinnern. Ob es schrecklich war oder schön, etwas, an das er sich gerne erinnert. Nur um zu wissen, ob ich auf der richtigen Spur bin.
Meine Überlegung ist, wenn Dad oder Joe sagen würden, das erste Mal ist immer chaotisch, und niemand erinnert sich wirklich daran, weil du viel zu viel Angst hast und alles neu ist, dann wär ich deswegen nicht mehr so nervös. Das Problem ist nur, wenn ich Dad so eine Frage stelle, wird er wissen, was ich vorhabe, und möglicherweise draufkommen, dass ich an Meredith denke, da dieses Thema gerade jetzt akut wird, nachdem ich sie kennengelernt hab. Das wäre das Ende. Er würde es Mom erzählen. Und dann würden sie uns nie mehr zusammen allein lassen.
Das Ruderboot gleitet jetzt gut dahin. Flussaufwärts gibt es weniger Sandbänke, und der Creek windet sich. Die Strömung ist schwächer, sodass ich weniger rudern muss und mehr treiben kann. Er ist auch schmaler hier. Und es gibt zigtausend mehr Vögel. Denen gefällt es bestimmt, weil nicht so viele Boote vorbeikommen. Die Vögel können im Röhricht oder Schilfrohr sitzen und rausgucken, ohne gestört zu werden. Und es ist wärmer, weil die Uferböschung den Wind bricht.
Da hab ich plötzlich die Idee. Ich sollte Meredith vor dem Winter noch mal hierhin mitnehmen. Mit dem Fernglas könnte sie alle Vogelarten sehen, die es in diesem Teil von Virginia gibt. Das sind doch bestimmt andere als in den Bergen. Kein Platz im Boot für Juliann. Oder Mack. Je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass es Meredith gefallen würde. Es gibt für alles ein erstes Mal.
Als ich längsseits vom Hausboot anlege, ist Joes Mitfahrgelegenheit aus Warsaw schon da. Joe sitzt im Motorboot, und Nick ist kurz davor, den Choke zu ziehen und den Motor zu starten. Großes Hallo, als Joe mich sieht.
»Hey, Dan! Wo hast du dich versteckt? Hör zu, komm doch mal für ein Wochenende nach Charlottesville und sieh dir an, wie das auf dem College so läuft.«
»Ich werd Mom fragen.«
»Ach, was«, sagt Joe. »Such dir einfach einen Termin aus. Rustys Freundin fährt fast jedes Wochenende von Warsaw aus hin.«
Rusty winkt am Ufer, damit Joe sich beeilt.
»Komm schon, Daniel, sag, dass du’s machst.«
»Ich muss fragen.«
»Wieso das denn?«, meint Joe. »Du bist doch kein Kind mehr. Es wär was anderes, wenn sie dich fahren müssten, aber Jessica kann dich mitnehmen. An irgendeinem Freitag. Und am Sonntag bringt sie dich zurück. Sag Ja.«
»Okay, ja«, sage ich zu. »Ja, ich komme, aber ich kann dir das Datum erst sagen, wenn ich mit Mom gesprochen hab.«
»Also gut, kleiner Bruder, wie du meinst«, tönt Joe. »Aber ich an deiner Stelle würd mal anfangen, das zu tun, was ich will. Ich würde ...«
Nick mischt sich ein. »Ganz cool, Joe. Er hat Ja gesagt, also lass ihn in Ruhe.«
»Was ist nur mit euch los?« Ich ertrage das nicht länger. »Vergessen wir’s doch einfach.«
Aber Nick kann nicht aufhören. »Er ist nicht oft genug hier, um zu wissen, wie schnell du müde wirst.«
»Scheiße, Nick«, fahre ich ihn an, »ich denke, das kann ich regeln, ohne dass mein kleiner Bruder für mich einspringen muss.«
Joe will was sagen, greift dann aber nur über die Reling und drückt mich ganz fest. Vielleicht versteht er es ja. Auf halbem Weg zum aufgelösten Yachthafen ruft er zurück.
»Danny-Boy, an einem der nächsten Freitage kommst du besser mal vorbei. Ich mein’s ernst.«
Nick reißt das Boot scharf herum, und die Gischt spritzt in hohem Bogen auf und regnet auf Joe runter, der ihm den Vogel zeigt.
Nachdem Rusty weggefahren ist, wobei Joe die ganze Zeit wie ein Schwachkopf aus dem Beifahrerfenster gewinkt hat, geh ich rein, um meine verschwitzen Ruderklamotten auszuziehen. Joe hat mir auf der oberen Koje ein Geschenk dagelassen. Ein Umschlag mit meinem Namen in seinen perfekten Bauzeichnerbuchstaben, mit extra Klebstreifen auf der Lasche. Innen drin sind zwei Kondome.
Am Samstagabend fährt Mack uns vier zur Party bei den Yowells an der Goldküste, wo auch die anderen Nobelvillen mit Flussblick stehen. Mack bildet sich mächtig was ein, aber ich mache ihm keinen Vorwurf. Er ist als Johnny Cash verkleidet: trägt diesen Gürtel meines Vaters aus den Sechzigern, mit der Riesenschnalle, dazu schwarze Jeans und ein schwarzes Hemd mit kleinen weißen Metallschließen anstelle von Knöpfen. Megacool.
Nachdem er den Wagen in Leonards Hof geparkt hat, neben dem gut ein Dutzend anderer Autos, geht Juliann einmal im Kreis um ihn herum. »Wo hast du bloß dieses Hemd aufgetrieben? Es ist perfekt für den guten alten Mann in Schwarz. Sind das echte Strasssteine?« Sie betrachtet Macks Oberkörper aus der Nähe, woraufhin er – vollkommen in seiner Rolle aufgegangen – umherstolziert wie ein Gockel.
»Nicht sehr furchteinflößend«, sage ich. »Bei Halloween geht’s doch um Geister und Gnome, nicht um Rockstars.«
Die Zwillinge kommen quasi als Gesamtkunstwerk, als Doppelgänger. Sie haben große schwarze Ringe um die Augen, damit sie wie Leidende aus dem Jenseits aussehen, und tragen beide die gleichen grauen Bettlaken. An den Seiten sind Löcher drin für die Arme, die in schwarzem Stretchstoff stecken, aus dem diese schwarzen Anzüge von Tänzerinnen gemacht sind. Meine Mutter hätte uns niemals so gute Laken zerschneiden lassen. Die Mädchen haben Baseballkappen mit Farbe besprüht, und das D für Doppelgänger vorne auf Merediths Laken ist so herum geschrieben, dass es wie das Spiegelbild von Juliann aussieht. Einfach, aber effektiv. Leider funktioniert die Verkleidung nur, wenn die beiden zusammenbleiben – und das ist genau das Gegenteil von dem, worauf Mack und ich gehofft haben.
Mack versucht, die richtige Stimmung aufzubauen, und reagiert auf das Kompliment über sein Kostüm. »Weißt du, ein Doppelgänger ist vielleicht gar nicht so glücklich darüber, dass sein Schatten ihm, äh ... ihr immer folgt. Da kann sie gar keinen richtigen Spaß haben.«
Obwohl Juliann erst kichert, hört sie sofort wieder auf, als ihr einfällt, wer sie sein soll. »Nicht Schatten. Spiegelbild. Ihre fehlende Hälfte.«
»Doppelgänger wollen gar keinen Spaß haben«, provoziere ich Mack.
»Du weißt doch: geteiltes Leid ist halbes Leid«, fällt auch Meredith ein.
Als ich weitermache, sehe ich, dass Mack die Stirn runzelt, als wollte er sagen: Warum hältst du nicht einfach die Klappe? Ich stelle meine Stimme ganz tief. »Doppelgänger gehen für alle Ewigkeit auf dieser Erde umher. Sie gehören weder ins Diesseits noch ins Jenseits. Sie sind dazu verdammt, sich elend zu fühlen.«
»Was, wenn ...« Mack hakt die Daumen hinter den Gürtel und brabbelt Blödsinn, hin- und hergerissen zwischen seiner Rolle und damit, einigermaßen glaubwürdig rüberzubringen, warum die eine Hälfte der Doppelgänger mit dem Mann in Schwarz gehen sollte und die andere mit Captain Hook. »Was, wenn sie eigentlich zwei unabhängige Menschen sind und der Doppelgänger nur Besitz von ihnen ergriffen hat? Von ihren Seelen, meine ich. June Cash, zum Beispiel. Und ...«
Jetzt kommt er nicht weiter. Captain Hook hat nun mal keine weiblichen Anhänger. Wir stehen seit gefühlten zehn Minuten in Leonards Vorgarten, und alle möglichen Geister und Gespenster sind schon, angemessen ehrfürchtig pfeifend wegen ihm und übertrieben schaudernd wegen der Mädchen und mir, an uns vorbeigezogen. Meredith zupft sich die Kappe vom Kopf und setzt sie verkehrt rum wieder auf.
»Diese Doppelgängerhälfte fühlt sich elend, weil sie nicht tanzen kann.« Sie fasst meine Hand, und weg sind wir. Ich höre, wie Mack und Juliann sich angestrengt überlegen, was für sie passen könnte. Und dann sind wir drinnen, und ich stelle Meredith dem Senator und seiner Frau vor.
Senator Yowell trägt ein gestärktes Hemd, der Kragen ragt wie eine starre Burgmauer aus dem Ausschnitt seines V-Pullovers. Kein Sakko oder Blazer. Es passiert sicher selten, dass der Senator sich keine Gedanken darüber machen muss, Leute zu beeindrucken. Dass der Umkehrschluss – dass die Freunde seines Sohnes es nicht wert sind, beeindruckt zu werden –, im Grunde eine Beleidigung ist, trifft mich erst Minuten später, als ich Meredith nach unserem ersten Tanz eine Cola einschenke und mich beschissen fühle, weil Leonard sie abgeklatscht hat und mir nicht schnell genug was einfiel, weshalb ich es ihm hätte verweigern können. Verdammt, sie hätte doch Nein sagen können!
Ich versuche, nicht dazustehen und sie anzustarren. Leonard dreht sie mehrmals hintereinander mit so viel Schwung unter dem Arm hindurch, dass Meredith gegen ihn geschleudert wird. Und dann dreht er sie wieder weg. Ich weiß, dass Leonard Tanzstunden hatte, deshalb weiß ich auch, dass diese exzessiven Drehungen einen ganz anderen Grund haben. Drecksack.
Jungs haben nur ein Ziel vor Augen. Abgesehen von Holden, der Tanzstunden mit Sally oder Jane gehabt hat und durchdreht, als Stradlater so lange mit Jane ausgeht. Ein paar Kids auf Privatschulen, die ich kenne, machen diesen gesellschaftlichen Debütantenkram auch immer noch mit. Meine Eltern konnten sich keine teuren Tanzstunden leisten und würden wohl auch nicht verstehen, warum jemand das für wichtig halten könnte. Kein Wunder, dass Leonard ein viel besserer Tänzer ist als ich. Erstens hat er bestimmt schon seit drei oder vier Jahren Tanzstunden. Und zweitens hat er viel mehr Erfahrung mit Mädchen, Punkt.
Er ist so selbstbewusst, dass die Leute automatisch annehmen, er wüsste, was er tut. Um ehrlich zu sein, ist mir so was völlig egal. Ich will nicht fein und vornehm sein, ich will nur mit Meredith tanzen können, ohne dabei dämlich auszusehen.
Stepford-Hanes würde sagen, ich solle einfach den Tag nutzen. Carpe diem. Sie sieht alles so klar. Dabei wird sie nie persönlich oder macht dich runter, und zwar deshalb, weil sie dich zum Lachen bringt. Sie gehört zu den Lehrern, bei denen du vom ersten Tag an weißt, dass du sie nie vergessen wirst. Sie sieht dich, dein wahres Ich, und nicht nur fünfundzwanzig nägelkauende, vulgär textende Teenager. Ich vermisse ihren Unterricht. Ich vermisse sie.
Allein zu lernen, ist nicht dasselbe. Es gibt keine Späße, keine Witzbolde, keine Papierflieger aus der hintersten Reihe, keine anderen Idioten, zwischen denen du dich besser fühlst. Ich vermisse auch ihre Stimme. In ihr liegt etwas Drängendes, wie es für Menschen aus dem Norden typisch ist. Dieses Drängende, das keine Zeitverschwendung erlaubt. Nicht kalt oder streng, einfach nur: Lass uns zum Punkt kommen!
Ich sollte sie besuchen, mit ihr über Holden und die Hotelzimmerszene reden und darüber, wie er Phoebe austrickst, als sie mit ihrem Koffer ankommt, eins der wenigen nicht aufrichtigen Dinge, die er im ganzen Buch macht.
»Stopp, stopp, mein Junge.« Senator Yowell packt mein Handgelenk, damit die Cola nicht weiter über den Becherrand fließt. Auf dem Schrank sind schokoladenbraune Flecken, und auf dem Boden hat sich eine Pfütze gebildet.
»Ach, du Schande!«, sage ich schockiert. »Tut mir leid, Sir. Das war sehr unaufmerksam von mir. Ich hab gerade an was anderes ... Ich hab geträumt und nicht aufgepasst.«
»Na, dann hoffe ich, du hast das Rad neu erfunden.« Er lächelt breit und reicht mir einen Schwamm.
Während ich die zischende Pfütze aufwische und den Schwamm über der Spüle ausdrücke, kommt mir der Gedanke, dass er hier über seinen Besitz, sein Haus, seine Familie wachen will. Auch er ist ein Vater. Obwohl er die Tür freigibt, als Meredith aus dem zweiten Wohnzimmer kommt, bleibt er weiter im Raum. Wahrscheinlich will er sichergehen, dass ich den Schlamassel behebe und unter seiner Aufsicht keine weiteren Schäden entstehen. Auf diese Weise kontrolliert zu werden, also dass da einer hinter mir steht, bin ich nicht gewöhnt. Meine Eltern müssen kein Image aufrechterhalten, und es gibt nichts, wovor sie sich schützen müssen, außer dem, was das Leben so mit sich bringt. Ich bin nicht sicher, ob Dad überhaupt merken würde, wenn ich etwas auf den Fußboden verschütten würde.
Leonard folgt Meredith in die Küche. Er drängt sich an seinem Vater vorbei. Sein Kostüm ist echt schwach, ein Baseball-Trikot über einer Jeans. Das neuerdings unvermeidliche Button-Down-Hemd lugt unter dem Ausschnitt hervor. Als ich ihn zu Beginn der Party fragte, wer er sei, sah er Meredith direkt in die Augen und sagte: »Barry Bonds, gedopt.« Was für ein Affe! Barry Bonds galt mal als bester Baseballspieler aller Zeiten – und er ist schwarz! Aber er war auch einer der unbeliebtesten, weil arrogant und überheblich – okay, das passt zumindest. Jedenfalls tritt Leonard jetzt fast auf ihr Doppelgängerlaken, um an ihr dranzubleiben. Es wäre fast komisch, wenn es mich nicht so sauer machen würde.
Letztes Jahr hatte er eine Freundin, Sarah Messimer. Also, eigentlich hatte er schon mehrere. Sarahs Vater ist Immobilienanwalt hier in der Stadt. Leonard und Sarah waren ein perfektes Paar. Sie trug ihre Schuhe passend zum Pullover. Keine Ahnung, was Leonard angestellt hat, aber es nahm ein abruptes Ende, und er weigerte sich, darüber zu sprechen. Mack und ich denken beide, dass sie ihn vielleicht einfach durchschaut hat. Oder dass er zu schnell mehr von ihr wollte. Er hat diese Aura von forderndem Edelaufreißer, so nach dem Motto, dass kein Mädchen ihm widerstehen kann.
Nur weil Meredith neu in der Stadt ist, muss er auf Konkurrenz machen und beweisen, dass er der Bessere von uns ist. Das ist wie mit Nicks Ehrgeiz im Fußball, nur irgendwie verdreht, weil Leonard und ich eigentlich Freunde sein sollten. Freunde spannen sich nicht gegenseitig die Freundin aus.
Er dreht sich um und schenkt seinem Vater einen kritischen Blick. »Ich denke, wir haben das jetzt unter Kontrolle, Dad. Wartet Mom nicht oben auf dich, um diesen Film anzusehen?«
Als Senator Yowell irritiert den Mund aufmacht, ohne was zu sagen, muss ich sofort wegsehen. Er ist so schockiert, dass er nicht weiß, was er erwidern soll, und das ist eine für ihn als Politiker peinliche Pose. Die Macht der Jugend. Oder vielleicht geht es mehr darum, dass Leonard vor Meredith angeben will. Wie auch immer es gemeint war, es kommt als Affront gegen seinen Vater rüber. Ich mag ihn immer weniger.
Ich reiche Meredith ihr Getränk und wedele mit meinem Piratenhaken am linken Arm. »Zeit, über die Planke zu geh’n, du Schurke.«
Und obwohl ich es kaum glauben kann, versteht sie meinen Wink. Sie geht an Leonard vorbei, hängt ihren kleinen Finger in meinen Haken und zieht mich auf die Veranda.
»Alles klar bei dir?«, will sie wissen und sieht sich eingehend um, als könnten hier jede Menge Paare in den Ecken versteckt herumknutschen, auch wenn mir alles leer und verlassen vorkommt.
»Ich hab die blöde Cola verschüttet wie ein Fünfjähriger.«
»Warum hast du mich dem Doping-King überlassen?«
»Er ist doch überall.«
»Ja, überall, wo er sein will«, sagt sie.
»Und das ist nicht da, wo ich sein will.«
»Willst du denn nicht mit mir tanzen?« Sie klingt echt verletzt, und das macht mich fertig.
»Nein, so meinte ich das nicht«, sage ich zu ihr. »Natürlich will ich mit dir tanzen. Ich fand es toll, mit dir zu tanzen ... das eine Mal, als wir’s gemacht haben. Tanzen, meine ich. Ich würde ewig mit dir tanzen.«
Ich plappere wie ein Idiot, aber als ich sehe, dass sie irgendwie gerührt ist, merke ich, dass es wohl keine schlimme Art von Idiot ist. Als ich den Arm hebe, um sie zum Tanzen aufzufordern, kracht mein Haken in die Fliegentür, die zum Pool führt. Zum Glück ist sie aus Plastik, sonst würde bestimmt gleich wieder Senator Yowell ankommen, mit einer Rolle Fliegengaze und einer Wegbeschreibung zu seinem Tacker.
»Fuck!«, sage ich. Dann: »Verdammt, wie vulgär. Entschuldige.«
Meredith kichert. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich hab das Wort schon mal gehört. Außerdem sind Piraten sowieso anders drauf als andere Leute.«
»O ja, ich habe dich gewarnt, dass ich anders bin.«
Sie streckt einen ihrer schwarzen Arme aus, streichelt meinen Haken und zieht am Ärmel der Schifferjacke meines Vaters, die ich anhabe, um das Klebeband zu kaschieren. Es überrascht mich immer noch, dass die Jacke gar nicht so sehr zu groß ist. Komisch, dass ich immer noch wachse, obwohl die KRANKHEIT mein Blut verseucht.
»Wie ist das Ding befestigt?« Sie zieht den Ärmel zu ihrem Gesicht hoch.
»He, streng geheim. Ich frag dich ja auch nicht, was unter deinem Doppelgängerlaken ist.«
Als sie die Treppe zur Terrasse am Swimmingpool runtergeht, bleibe ich dicht hinter ihr. Leonard, Mack und ich haben Stunden in diesem Pool verbracht. Er hat breite Stufen, die genau zum geschwungenen Betonrand und den Designerkacheln passen. Meine Mutter wollte gar nicht wissen, wie er aussieht; sie findet es grundsätzlich umweltschädigend, eine Grube auszuheben und den Lebensraum für Molche oder Regenwürmer, oder was auch immer in den Gärten der Leute haust, zu zerstören.
»Wie kommt es, dass niemand schwimmt?«, fragt Meredith.
»Falls du es noch nicht bemerkt hast: Es ist fast November. Ein bisschen kalt zum Planschen.«
»Aber Leonard hat gesagt, sie wären letzte Woche noch schwimmen gewesen«, erwidert sie. »Er hat gefragt, ob Juliann und ich rüberkommen und den Pool ausprobieren wollen.«
Ich gebe mein bestes Piratengrollen. »Darauf möcht ich wetten.«
»Wir könnten ihn jetzt ausprobieren. Du und ich.« Sie bückt sich, dippt mit einer Hand ins Wasser und sieht mich freudestrahlend an.
Ich kann direkt die Gedanken in ihrem hübschen Kopf rumoren hören. Das ist die Brückenstürmerin, die ich kenne.
Sie kommt ganz dicht an mein Ohr, dichter, als es ohne Leute drumherum nötig ist, und flüstert: »Wir hätten ihn ganz für uns allein.«
»Würde ich dann zu sehen kriegen, was unter der äußeren Doppelgängerschicht ist?«
Daraufhin zieht sie sich das Laken über den Kopf, steigt aus den schwarzen Ballerinas und schiebt die Jeans runter. Als sie auch das schwarze Gymnastikding auszieht, sehe ich kurz etwas Weißes aufblitzen, bevor sie ins Wasser gleitet und wie eine Meerjungfrau abtaucht. Das weiße Blitzen ist vorbei, noch ehe ich registriert hab, was es war.
»Meredith.«
»Schsch.« Sie taucht wieder auf. »Komm und rette mich. Hier könnten Krokodile sein.«
Mack will noch nicht gehen. Juliann und vier Typen aus dem Lacrosse-Team machen Gläserrücken auf einem Ouija-Brett. Die Typen trinken Bier aus Flaschen, die sie unter dem Tisch verstecken. Gläserrücken hab ich nicht mehr gespielt, seit ich zehn war. Und ich werd nicht wieder damit anfangen. Mack tut mir leid. Er ist kleiner als jeder dieser Typen, aber schlauer als alle zusammen. Er sollte Ring of Fire singen und Juliann in die Nacht hinaustragen. Aber er hält trinktechnisch mit den Typen mit und überrascht mich, weil er sie anscheinend überzeugt, dass er ein Profi ist.
Senator Yowell ist sichtbar abwesend, was Leonard dazu verführt, mit seiner tollen Party anzugeben. Hasst ihr das auch so wie ich – Eigenlob? Was für ein Poser! Es kann die beste Party aller Zeiten sein, aber der Gastgeber darf das nicht selbst über sie sagen. Das weiß sogar ich, obwohl wir noch nie eine Party in unserem Haus hatten. Schon gar nicht im Hauboot. Könnt ihr euch die Schlagzeilen vorstellen? Jugendliche ertrinken bei Hausbootparty.
Den Kamin dekorieren Bierflaschen, und daneben steht ein weiteres Grüppchen Gäste. Vielleicht haben die Lacrosse-Spieler das Bier mitgebracht? Ich habe das Bild in Lebensgröße vor Augen, wie Senator Yowell vor der Party das ganze Budweiser in die Vorratskammer räumt und wegschließt. Im Vergleich zu mir oder Holden leben die Yowells auf dem Präsentierteller, trotz der KRANKHEIT und des Prozesses wegen Vernachlässigung.
Die gerichtliche Anhörung muss das große Gesprächsthema der Stadt sein, da mittlerweile fast alle Erwachsenen, die wir kennen, die Straßenseite wechseln, wenn sie uns kommen sehen. Wenn meine Eltern nicht beantragt hätten, das Verfahren auszusetzen, und die Anhörung gewonnen hätten, würde ich jetzt Chemo kriegen und nicht Merediths Hand halten. Ich würde das verpassen, was schon jetzt zur besten Nacht meines Lebens geworden ist. Ohne Einschränkung.
Die Musik ist langsamer, und nur zwei Paare tanzen. Andere sitzen auf den Sofas im zweiten Wohnzimmer und im großen Wohnzimmer und sind wild am Knutschen. In der Ecke hocken zwei Typen, die ich nicht kenne, dicht über einen Beistelltisch gebeugt, und ich hab allmählich das ungute Gefühl, dass die Party außer Kontrolle gerät. Ich würde Meredith gerne die Augen zuhalten, aber dann fällt mir wieder die Hakensache in der Küche ein und dass Meredith aus der großen Stadt Charlottesville kommt, also ist sie mit so was bestimmt viel erfahrener als ich. Man sollte meinen, dass das den Druck ein bisschen verringert. Aber es ist erstaunlich, wie allein schon daran zu denken, dass ein anderer Typ sie berührt, mich fertigmacht. Ich kann kaum atmen.
Sie bleibt dicht hinter mir, das Doppelgängerlaken straff um die Schultern gespannt. Ich rieche ihr Parfüm und das Chlor in ihren Haaren. Alle zwei oder drei Schritte stößt uns jemand an, und ein Tropfen fällt aus ihrem Haar auf meinen Hals. Kalt, aber wunderbar, weil er erst ihre Haut berührt hat und dann meine. Niemand bemerkt die feuchten Stellen, die sich auf dem Laken ausbreiten.
Während ich gehe, knistern in meiner Tasche die Kondome. Es kommt mir so laut vor wie eine Trillerpfeife, aber niemand dreht sich um, also bin ich nur nervös.
Als ich das Kostüm anzog – in letzter Minute natürlich, aber Nick war sehr hilfreich –, hab ich die Kondome aus Joes Umschlag heimlich in meine Tasche geschmuggelt. Bei seinem Wer-ist-besser-schlauerschneller-Denken muss ich aufpassen, dass Nick nicht meint, er müsse ebenfalls alles ausprobieren, was ich mache, nur um mitzuhalten. Typisch für Dreizehnjährige.
Auf dem Weg zur Party bekam ich dann Angst, was passiert, wenn Meredith die Kondome sieht. Weil es zwei sind, könnte sie mich für einen Sicherheitsfreak halten. Und mich vielleicht nicht mehr mögen. Um ehrlich zu sein, hab ich auch Angst, die Dinger zu verwenden. Es gibt keine Anleitung, und ich hab so was noch nie benutzt. Es könnte eins reißen. Woran soll ich das, bitte, erkennen?
Wir stellen uns zusammen hinter Mack, der außerhalb der Gruppe der Gläserrücker sitzt, Julianns Hintern auf dem Schoß. Es sieht also nicht ganz so schlecht für ihn aus. Den Rücken hat er den Drogentypen in der Ecke zugewandt. Vielleicht ist ja doch alles okay mit ihm. Immerhin wirkt er ziemlich glücklich. Als es aus Merediths Haar auf seinen Arm tropft, fasst er erst hin, sieht dann zur Decke und danach zu mir.
»Wart ihr duschen?«
»Schwimmen«, flüstere ich. »Und wir hauen jetzt ab.«
»Wollt ihr die Autoschlüssel?«
»Ich hab keinen Führerschein, weißt du nicht mehr? Ich bin jünger als du.«
»O ja, aber nicht so high.«
»Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du mir die Schlüssel gibst«, schlage ich vor. »Wie viel Bier hast du getrunken?«
»Das ist nicht das Bier, Kleiner.«
Macks Grinsen ist horrormäßig. Meredith greift nach meinem Handgelenk, und ich will nur noch so schnell wie möglich gehen und das ganze blöde Gespräch mit Mack vergessen.
»Na, dann hör wenigstens auf zu trinken.« Ich reiß ihm die Flasche aus der Hand und drück eine Chipstüte rein. »Wenn du ein bisschen tanzt und isst, wird es hoffentlich wieder.«
»Gib mir nur eine Minute. Dann fahr ich euch.«
Ich tu so, als würd ich ihn ohrfeigen. Als meine rechte Handfläche gegen meinen linken Unterarm klatscht – ein sehr realistisches Geräusch –, fährt Juliann herum und starrt uns an. Sie und Mack flüstern etwas zwischen Küssen, und dann lächelt sie Meredith an, und Meredith lächelt mich an und zwinkert. Können die tatsächlich meine Gedanken erraten?
Mack packt mein Hemd und zieht mich runter, sodass unsere Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt sind. »Ey, Alter«, sagt er. Vielleicht hat er endlich kapiert, was ich gesagt hab. »Okay. Genau. Kein Bier mehr. Und kein anderer ... illegaler Scheiß. Ich ruf dich morgen an.« Sein Rülpsen wird von der Musik übertönt. »Pass auf.« Er lacht, als ich eine Grimasse schneide. »Und tu nichts, was ich nicht auch tun würde.«
Gott, wieso hält er sich nach nur einem Mal für einen verdammten Experten?