18
Den Flughafen von Washington finde ich großartig. So viele verschiedene Gesichter: weiße, schwarze, asiatische, slawische. Falls ich überlebe, werd ich nie wieder nach Mexiko gehen.
Aus den Grüppchen von Familien, die hinter der Absperrung am Ankunftsterminal warten, läuft ein Mädchen in blauer Jacke direkt auf mich in meinem Rollstuhl zu. Die Fluggesellschaft hat auf den Rollstuhl bestanden, weil eine der Flugbegleiterinnen hörte, wie Mom von meinem Besuch bei Dr Jenkins redete. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, hat Meredith mich schon umklammert und sitzt mir praktisch auf dem Schoß.
Joe reckt hinter der Absperrung den Daumen hoch. Nick beobachtet uns mit großen Augen. Dad zwinkert Mom zu, die das vielleicht verpasst, weil sie auf Meredith starrt. Ich schaffe es nicht, sie nicht zu küssen. Als ich es tue, applaudiert die ganze Halle. Es ist ziemlich peinlich, aber auch irgendwie okay. Meredith flüstert mir ins Ohr: »Du wirst keinen von denen je wiedersehen. Also hör nicht auf, du Idiot.«
Im Auto erzählt Mom alles, und Dad hört ohne Unterbrechung zu. Nick und Joe spielen Fingerhakeln, und Meredith klärt mich darüber auf, was zurzeit in der Schule so läuft.
»Was ist mit Mack?«, frage ich, als wir durch Fredericksburg gefahren sind.
Als niemand antwortet, spüre ich, wie sich alles in mir plötzlich anspannt. »Was ist los? Ist ihm was passiert?«
Joe nickt Meredith zu, ein vielsagendes Zeichen, das mich beunruhigen könnte, aber Meredith ist eindeutig auf meiner Seite.
»Mom, Dad. Nun sagt mir doch, was mit Mack passiert ist.«
Meredith sieht mich an. »Es geht ihm gut, einigermaßen. Aber er hatte einen Unfall. Mit dem Truck seines Dads.«
»Was ist passiert?«
»Eine Steinmauer ist ihm reingefahren«, sagt Nick.
»O Gott, ist er verletzt?«
»Arm gebrochen«, antwortet er.
»Ist das alles?«
»Das Auto sieht nicht so gut aus«, meint Joe.
»Was noch? Ihr tut so, als wär hier ’ne Beerdigung.«
»Trunkenheit am Steuer«, sagt Dad mit gefährlich leiser Stimme.
»Mack hütet sich davor, betrunken Auto zu fahren«, protestiere ich.
»Bei Drogen sieht er das anscheinend anders.« Dad ist so sauer, dass er nicht mal versucht, Macks Verhalten zu entschuldigen oder für mich zu beschönigen.
Überdeutlich habe ich das Bild von Mack in Handschellen auf Brewers Rücksitz vor Augen.
Fast tonlos spricht Dad weiter: »Mack ist jetzt tabu, Daniel. Wir können nicht zulassen, dass du in so was mit reingezogen wirst.«
»Vielleicht kann ich ihm helfen.«
»Ich habe dir schon oft genug erklärt«, sagt Dad, »dass es so nicht funktioniert. Er muss sich selbst helfen.«
Meredith rutscht näher. Niemand sagt mehr was, und den Rest der Fahrt verbringe ich damit, mir mein Leben ohne Mack vorzustellen. Dann fällt mir ein, dass wegen der vielen Zeit mit Meredith und der KRANKHEIT Mack vielleicht genau das aus umgekehrter Sicht gemacht hat – sich ein Leben ohne mich vorgestellt.
Am ersten April ziehen wir aufs Hausboot zurück, allerdings erst nach einem großen Streit. Mom sagt, es sei zu früh. Dad sagt, wir brauchen einen Tapetenwechsel. Ich habe das Gefühl, dass sie nachgiebiger wird. Statt die triumphierende Mutter eines fast geheilten Sohnes zu sein, verliert sie die Hoffnung. Ich schlafe wieder den halben Tag und kotze. Irgendwann hört sie auf, das Wetter gegen den Umzug ins Feld zu führen, und beendet den Streit mit einem Unentschieden. Als Dad anfängt zu packen, macht sie mit.
Wir finden Mäusekot in der Kombüse und unter der Gummimatte am Fahrstand. Während die anderen alles mit Lysol reinigen, hole ich mein Biobuch aus der Kabine und ziehe mich mit einem Schlafsack und einer Schachtel Cracker aufs Oberdeck zurück. Cracker sind im Moment fast das Einzige, das ich bei mir behalten kann. Als die Sonne hinter der dicken Kumuluswolke auftaucht, lege ich mich mit nackten Beinen auf den Schlafsack. Es erinnert mich an die Terrasse in Mexiko und meine trockene gespannte Gesichtshaut, wenn ich auf dem Liegestuhl lag und Mom mir die E-Mails von Dad vorlas, die man uns im Büro des Direktors ausgedruckt hatte. Als hätten wir alle Zeit der Welt und keinen Ort, an dem wir sonst sein müssten, lagen wir da in der Sonne, ganz bewusst und vollauf überzeugt, dass sie die Kraft hätte, mich zu heilen.
Im Biobuch steht tatsächlich etwas über Leukämie. Dass Lavendel bei der Heilbehandlung helfen kann, ist nicht komplett aus der Luft gegriffen. Ich versuche, den Text im Buch mit den halb spanischen, halb englischen Erklärungen der Pfleger aus Guadalajara zusammenzubringen. Doch die medizinischen Fachbegriffe machen mich müde. Als ich wieder aufwache, ist mein Magen okay, mein Kopf leicht, und ich spüre kein Pochen hinter den Augen. Ich fühle mich großartig.
»Mom!«
Sie kommt so schnell aus der Kabine, dass sie an der Leiter mit mir zusammenstößt. Ihre Füße rutschen weg, ich packe ihre Arme, und sie richtet sich wieder auf.
»Was ist los?« Sie macht ein ernstes Gesicht. Anscheinend rechnet sie ständig mit schlechten Nachrichten. Das ist alles meine Schuld.
»Es funktioniert. Ich fühle mich klar im Kopf. Fast schmerzfrei.«
Sie lächelt, aber es wirkt gezwungen. Ich weiß, was sie denkt. Es ist noch zu früh für Euphorie. Sie haben uns kritisch mitgeteilt, dass ich mich vorübergehend sehr viel besser fühlen würde, die Behandlung sich jedoch erst durch das gesamte System arbeiten müsse, sodass es auch wieder schlechte Tage gebe.
»Darf ich schwimmen?«
»Ach, Daniel«, sagt Mom. »Es ist April. Das Wasser ist zu kalt.«
»Ich war seit Monten nicht mehr schwimmen«, stöhne ich. »Und ich fühle mich kräftiger. Ich will auch keine große Runde ziehen. Ich hör auf, bevor ich müde werde. Bitte.«
»Vielleicht lassen die dich ins Bad vom Sportverein«, schlägt Mom vor. »Auch wenn wir nicht Mitglied sind, weil das eine besondere Situation ist.«
»Ach, dann vergiss es.«
»Du hast doch gesagt, du willst schwimmen.«
»Ja, aber schwimmen wie früher«, sage ich ungeduldig. »Im Fluss, nicht in einem gechlorten Becken mit Dach drüber und ohne blauen Himmel, wo alle mich beobachten, als wär ich ein Freak. Wahrscheinlich machen sie sogar Fotos und nehmen das für eine verdammte PR-Kampagne, um mehr Mitglieder anzuwerben.«
Ich lasse sie an Deck stehen und hole Riemen, Schwimmweste und Sitzkissen für das Ruderboot. Während ich alles vorbereite, sehe ich ihr Gesicht am Fenster der hinteren Kabine, aber es verschwindet sofort wieder. Das kleine Boot gleitet den Strom flussaufwärts. Als ich an dem aufgelösten Yachthafen vorbei bin, sehe ich zurück, und da steht sie auf dem oberen Deck, eine Hand über den Augen, und starrt in meine Richtung. Sie winkt nicht. Ich winke auch nicht.
Aus der Garage der Petrianos dröhnt Musik von Nine Inch Nails. Das ist bestimmt nicht Macks Vater. Ich spähe unter der Garagentür hindurch, die etwa dreißig Zentimeter hochgeklappt ist, und tatsächlich steht da Mack in Trainingsklamotten und poliert einen kleinen leuchtend blauen Nissan Pick-up, den ich noch nie gesehen habe. Seine Haare sind zottelig und unregelmäßig geschnitten, und er wippt im Takt der Musik, während er den Putzlappen in großen Kreisen über das Auto reibt.
»Hey«, brülle ich über die Musik hinweg. »Wem gehört der?«
Er richtet sich auf und neigt den Kopf zur Seite, um zu sehen, wer da spricht. »Dan-Man, ey, Mann. Komm rein.«
Ich ziehe am Türgriff, aber da bewegt sich nichts. Ich versuche es erneut. Nichts.
»Sie klemmt«, rufe ich durch das Holz.
»Tut sie nicht.«
Ich trete dagegen und zerre noch mal mit ganzer Kraft. Sie klemmt. Aber bevor ich wieder losschreien kann, gleitet die Tür nach oben, und Mack steht zwanzig Zentimeter von mir entfernt. Ich lege eine Hand auf meine pochende Schulter und trete in die mit Neonlicht beleuchtete Zelle. Mack schwingt den Arm wieder runter, und die Tür schließt sich mit einer sanft gleitenden Bewegung. Ich fühle mich zwar kräftiger, aber hier in der Muskelabteilung hab ich trotzdem nichts zu melden. Ich kann noch nicht mal eine Garagentür aufschwingen. Mack sagt nichts, sondern setzt nur die Massagebehandlung des Wagens fort.
»Schöner Truck«, sage ich. »Stimmt es, dass du den alten geschrottet hast?«
»Dad hat den hier vom Schrottplatz«, klärt mich Mack auf. »Braucht ’n neues Getriebe. Aber er sagt, wenn ich die Hälfte erarbeite, zahlt er die andere.«
»Der ist für Doppelverabredungen aber nicht so geeignet.« Ich setze ein Lächeln auf.
»Du kannst ihn dir ausleihen«, sagt Mack. »Ist Merediths Lieblingsfarbe.«
Ich muss mich sehr unter Kontrolle halten, um nicht zu fragen, woher er das weiß.
Wir setzen uns rein, und er berichtet die neuesten Schulereignisse. Beverly ist von einem der Söhne der Wanderarbeiter schwanger. Der Freund mit dem Motorrad ist passé. Es geht das Gerücht, dass der Kindsvater Geld für eine Abtreibung zusammenkratzt, aber Beverly weiß noch nicht, ob sie das überhaupt will. Leonard ist in ein Mädchen aus Heathsville verknallt, das einen silbernen BMW fährt. Christie ist Geschichte. Der Quarterback des Footballteams wurde mit Kokain erwischt.
»Wer erzählt dir all solchen Kram?«
»Ach, du weißt schon. Man hört so dies und das.«
»Wir waren früher nie in den richtigen Kreisen«, sage ich. »Um so was mitzukriegen. Du musst neue Freunde haben.«
»Vielleicht.« Er springt aus dem Wagen.
Die geöffnete Motorhaube versperrt mir die Sicht. Ich steige ebenfalls aus und gehe nach vorn. Er hält die Augen geschlossen und klopft sich im Takt der Musik mit einer Hand auf den Oberschenkel. Plötzlich fährt er herum und trommelt ein unglaubliches Solo auf die Werkbank. Er hält den Kopf gebeugt, seine Haare fliegen, und die Schultern zucken im selben Rhythmus.
»Wow! Wo hast du Schlagzeug gelernt?«
»Cal.«
»Cal Miles aus der Siebtklässlerband?«
Mack nickt und trommelt weiter.
»Cal ist ein Kiffer, Mack.«
»Aber ein toller Schlagzeuger.« Er zuckt mit den Schultern und geht auf die andere Seite der offenen Motorhaube.
»Du bist high.«
»Was interessiert dich das?«
Als ich vorn um die Stoßstange gehe, damit ich ihm in die Augen sehen kann, steigt er wieder in den Wagen und schlägt die Tür zu.
»Was zum Teufel tust du da, Mack?«, frage ich. »Das ist doch Wahnsinn.«
»Es hilft mir, die Dinge klarer zu sehen«, antwortet er. »Ich muss mich im Moment mit so vielem rumschlagen.«
»Ja, Mann.« Ich werd jetzt ziemlich wütend. »Das müssen andere auch, einschließlich meiner Wenigkeit, aber wir setzen nicht alles aufs Spiel für Kokain.«
»Cal hatte ein bisschen was übrig«, erzählt Mack. »Ich hatte ein bisschen Geld.« Die Worte klingen durch die Scheibe gedämpft. »Wie ich schon sagte, ich arbeite für den Truck.«
»Wie?«, frage ich. »Er dealt jetzt, und du bist seine Hure?«
Mack schlägt in meine Richtung und hält kurz vor der Scheibe inne. Er wedelt mit der Hand, damit ich weggehe.
»Scheiße, Mack«, sage ich. »Du bist echt ein Idiot. Juliann wird da nie drauf stehen. Und Cal und seine Freunde sind echte Schwachköpfe, falls du das noch nicht bemerkt hast.«
»Verurteile es nicht, bevor du’s nicht selbst probiert hast.« Seine Stimme klingt hart. »Du warst nicht gerade häufig da.«
»Was ist nur mit dir los?«, frage ich. »Du bist doch eigentlich zu schlau für so was.«
Aber er ist schon auf der anderen Seite ausgestiegen, schwingt die Garagentür nach oben und steht mit ausgestrecktem Arm wie eine dieser berühmten Jockey-Statuen da, die Augen halb geschlossen. Schisser.
Bei den Zwillingen ist niemand zu Hause. Ich hinterlasse eine Nachricht auf einem alten Zettel aus meiner Hosentasche, dass Meredith mich anrufen soll. Auf halbem Weg nach Hause muss ich mich hinsetzen, um wieder Luft zu kriegen. Vom Creek bis zu Mack und zurück sind es eineinhalb Kilometer, und eigentlich bin ich den ganzen Weg umsonst gegangen. Die Friedhofsmauer von St. John’s ist warm in der Sonne. Als Yowell mit einem Mädchen, das ich nicht kenne, in einem glänzend neuen Kabrio vorbeifährt, bin ich immer noch sauer auf Mack und frage mich, ob Joe wohl irgendwelche Ideen hat, wie man ihn von den Drogen wegbekommt. Yowell winkt, hält aber nicht an.
Neben meinen Schuhen lugen vier kleine grüne Spitzen aus dem Boden. Narzissen. Ich frage mich, ob Bethany wohl bemerkt hat, dass Frühling ist, da, wo sie ist. Oder Mr Hovenfelt.