12
Die Uhr am Gerichtsgebäude zeigt kurz nach zehn. Dad ist mit Nick und ein paar seiner fußballverrückten Freunde im State Park am anderen Flussufer zelten gegangen. Ein richtiges Halloween-Zelten mit öligen Weintrauben als Augäpfeln, Murmeln in Götterspeise als Nierensteine und einer Schüssel gekochter Spaghetti als Gehirn. Ihr wisst schon. Dad liebt so was. Da kann er seine ganzen Pfadfinderkenntnisse einsetzen. Und es lindert den Schmerz, dass keiner seiner Söhne in seine Pfadfinderfußstapfen getreten ist.
Mom ist zu Besuch bei einer College-Freundin jenseits von Charlottesville. Sie und Dad haben wegen des Benzins gestritten, aber am Ende hat er sich entschuldigt und gesagt, sie soll fahren. Jeder kann sehen, wie sehr sie mit den Nerven runter ist vom ständigen Hin- und Hergerenne zum Anwalt. Walker treibt sie in den Wahnsinn. Irgendwann ist sie zu Senator Yowell gegangen und hat ihn zum Thema Anwalt um Rat gefragt. Sie haben dann zwar keinen neuen genommen, aber Yowell muss ihr irgendetwas Positives gesagt haben, denn an dem Abend sind sie und Dad allein zum Essen gegangen und lachend zurückgekommen, mit lauter Witzen übers College und ihre alten Aktivistenfreunde. Wenn sie wenigstens ab und zu normal sind, spüre ich nicht ganz so viel Druck auf mir.
Jedenfalls konnte selbst Dad trotz all der Arbeit mit seinen Manuskripten einsehen, dass sie eine Auszeit braucht. Fazit ist, dass – von der astrologischen Seite mal abgesehen – die Sterne günstig für mich stehen. Das Hausboot ist leer.
Meredith und ich laufen die Route 17 entlang wie tolle Hunde. Die Band bei Ferebees’s spielt sehr laut, sehr trashig und sehr falsch. Aber niemand steht draußen auf dem Bürgersteig, also kann sie nicht so schlecht sein. Vor uns kurvt Officer Brewer mit ungefähr zehn Stundenkilometern durch die Gegend. Seine breite Silhouette ist leicht zu erkennen und füllt die ganze Heckscheibe des Polizeiwagens aus. Alle in Tappahannock, sogar die Verbrecher, wissen, dass Sheriff Jessup nachts meist zu Hause ist. Ich hab mal gehört, wie Dad sagte, seine sehr viel jüngere Frau hielte ihn auf Trab. Die meisten hiesigen Polizisten sind sowieso Verkehrspolizisten. In diesem Loch passieren nicht viele Verbrechen.
Ich hebe meinen Piratenhaken zum Gruß. Joe hat mal gesagt, es sei immer besser, Kontakt zu Erwachsenen aufzunehmen, vor allem zu Polizisten, damit sie sich nicht fragen, ob du was zu verbergen hast.
»Kennst du ihn?«, will Meredith wissen. Das graue Laken schleift hinter ihr her wie die Schmusedecke eines kleinen Mädchens.
»Wenn du dein ganzes Leben in einer so kleinen Stadt wohnst«, antworte ich ihr, »kennst du jeden.«
Brewer hält an und wartet, bis wir auf Höhe seines Fensters sind, das trotz der Oktoberfrische runtergekurbelt ist. »Wart ihr zwei auf der Party beim jungen Yowell?«
»Ja, Sir.«
Der Polizist fragt: »Du gehst jetzt aber direkt nach Hause und nicht mehr auf die Brücke, oder, Captain?«
»Nein, Sir.« Mein Tauchabenteuer hat sich anscheinend rumgesprochen.
»Willst du mich nicht vorstellen?«
Dieser Typ hat in seinem ganzen traurigen Leben bestimmt noch nie einen romantischen Spaziergang mit einem Mädchen unternommen. Sonst würde er hier nicht die gute Stimmung gefährden.
»Meredith, das ist Officer Brewer von der Polizeistation Tappahannock«, stelle ich die beiden einander vor. »Officer Brewer, Meredith Rilke.«
Brewer nickt. Meredith lächelt. Ich ziehe sie wieder in den Schatten. Unsere Kleider sind nass von Leonards Pool, und Brewer ist darauf trainiert, solche Dinge zu bemerken. Egal, wie sauer ich bin, dass Leonard mir mein Mädchen wegschnappen wollte, so will ich doch nicht, dass Brewer auf die Idee kommt, seiner Party einen Besuch abzustatten. Ich überlege schon, ob ich Yowell anrufen und ihn warnen soll, aber da setzt sich der Polizeiwagen schon Richtung Wal-Mart in Bewegung. Brewer weiß, wo an einem Samstagabend in Tappahannock der Bär steigt. Ich höre auf, die Luft anzuhalten.
Wir gehen am Gebäude des früheren Stadtschreibers vorbei, aus dem 18. Jahrhundert oder so. Ich glaube, Jefferson und seine Unabhängigkeitskumpanen waren auch mal da. Es ist ein kleines Haus aus Ziegelsteinen und verlockt zum Reinsehen. Meredith reckt sich zum kleinen Fenster hoch und stolpert über ihr Laken. Ich fange sie auf, bevor sie hinfällt. Sie sinkt gegen mich, ohne dass einer von uns Zeit hat, darüber nachzudenken.
»Vorsicht«, sage ich, aber ich will nicht, dass es aufhört. Sie braucht mich. Das ist ein Megagefühl.
Als sie sich wieder gefangen hat, stehen wir immer noch ganz dicht voreinander. Und ganz allein. Endlich. Sie sieht zu mir hoch, und ich küsse sie, ein richtiger Hollywoodkuss, weil ich sie diesmal ganz festhalte. Sie schmeckt süß, ein bisschen nach der Cola, die sie bei Leonard getrunken hat.
»Sieh mal«, sagt sie.
Als der Polizeiwagen wieder auf die Route 17 abbiegt, schaltet Brewer die Scheinwerfer ein paar Mal an und aus. Wie daneben ist das denn? Aber er hat mein Gefühl genau gepeilt.
Während Meredith und ich die Straße hinter der Water Lane zur aufgelösten Marina entlanggehen, erzähle ich ihr ein paar der berüchtigten Landon-Geschichten, und vielleicht findet sie mich mittlerweile ja ganz charmant. Die Kondome in meiner Tasche fühlen sich so groß und auffällig an wie ein Jojo. Ich helfe ihr ins Ruderboot. Das Einzige, was fehlt, ist ein voller Mond. Aber dann könnte uns vom Ufer aus vielleicht jemand erkennen. Wahrscheinlich ist es im Dunkeln besser. Von weiter flussabwärts her dringt Partylärm zu uns rüber. Eine Band spielt, bricht ab, spielt erneut. Über das dumpfe Klatschen der Ruderriemen hinweg frage ich sie nach ihrer Kindheit.
»Juliann war immer schon sportlicher und geselliger«, antwortet sie. »Man sollte meinen, mit den gleichen Genen wär ich auch so. Ich hab’s auch versucht. Aber wenn ich mit zehn Leuten meines Alters in einen Raum bin, krampft sich mein Magen zusammen wie ein ... ich weiß nicht, wie ein fester Klumpen, und ich kriege kein Wort raus.«
»Heute Abend war doch alles okay.«
»Weil du da warst«, sagt Meredith. »Ich weiß, wenn irgendwas passiert wäre, wenn Leonard mich bedrängt hätte, wärst du da gewesen.«
»Leonard bedrängt dich?«
»Die ganze Zeit. Er nennt dich den Todgeweihten. Sagt, mit dir gäbe es keine Zukunft, warum also die Gegenwart verschwenden?« In ihrem Gesicht kleben noch immer Reste der grauen Farbe und der schwarzen Augenringe. Wenn ich nicht wüsste, dass es Schminke ist, würd ich denken, jemand hätte sie geschlagen. In diesem Moment hätte ich sofort zurückschlagen können.
Sie legt ihre Hand auf meinen Oberschenkel, da meine Hände mit Rudern beschäftigt sind. Während sie ihre Finger nach oben wandern lässt und zurück, schweige ich. »Vielleicht hätte ich dir das nicht sagen sollen.« Meredith flüstert beinahe. »Aber ich finde es nicht fair, dass er dich in dem Glauben lässt, er wäre dein Freund. Es ist verlogen.« Sie weint, aber so leise, dass ich es kaum hören kann.
»Nicht, Merry. Wein nicht wegen Leonard. Er ist es nicht wert.« Ich hab noch nie ein Mädchen weinen sehen, außer Mom. Und in Filmen. Aber das hier ist anders. Sie wirft sich nicht schluchzend auf eine Couch. Trotzdem ist es unheimlich. Sie weint wegen mir, und ich weiß nicht mal, was ich getan hab.
Obwohl wir nur ein paar Bootslängen vom Hausboot entfernt sind, scheint es mir kein guter Zeitpunkt zu sein, ihr mein Zuhause zu zeigen. Stattdessen rudere ich gleichmäßig den Flussarm hinauf in Richtung der Route-17-Brücke. Ich will ihr zeigen, wie cool es da oben ist, mit dem Schilf auf beiden Seiten, wenn man den Rest der Welt nicht mehr sieht. Und dann lade ich sie ein anderes Mal zu mir ein, wenn es hell ist. Aber auf Höhe der Bootsrampe weint sie immer noch, und ihre Schultern heben und senken sich, wenn sie atmet. Auch wenn sie nur vor sich hin weint, das Kinn gegen die Brust gedrückt, damit ich ihr Gesicht nicht sehen kann, ist es, als hätte sie es die ganze Zeit zurückgehalten, und nun ist der Damm gebrochen.
»Vergiss Leonard, Meredith.«
»Er ist derjenige, der Mack zum Koksen gebracht hat.«
Ich halte die Riemen über dem Wasser in der Luft. Ich bin wie erstarrt. Sie sagt es so, als müsste ich es wissen, doch es ist das erste Mal, dass ich das höre. Aber es passt zusammen, und das macht mir Angst.
»Das hätte ich dir nicht sagen sollen. Jetzt hab ich alles verdorben.«
»Ach, das ist mir scheißegal. Wenn er Koksbrüder zu seiner Party einlädt, ist er nicht der, für den ich ihn gehalten hab.« Was ich wirklich denke, ist, wie ich Mack morgen früh die Meinung geigen werde. Was zum Teufel denkt er sich nur? Bei all dem Kram, den er von mir über meinen Vater gehört hat – denkt er da etwa, er könnte mit diesem Dreck rummachen und keinen Zoff kriegen?
Mittlerweile werden die Riemen schwer. Und ich denke, vielleicht hätte ich nur einmal ums Hausboot rudern sollen anstatt den ganzen Weg hier rauf. Es wird doppelt so schwer werden, gegen den Strom zurückzurudern. Wenn meine Arme das nicht mehr schaffen und ich nicht mehr rudern kann, wird das alles kaputtmachen. Könnt ihr euch vorstellen, dass ein Mädchen – selbst so ein nettes, fürsorgliches Mädchen wie Meredith – einen Typen mag, der sie beide nach Hause rudern lässt? O Gott, ich bin so ein Idiot!
Was würde Holden tun? Er würde das Boot treiben lassen und die Arme um das Mädchen legen. Toll.
Aber das kann ich nicht, weil die Strömung in die falsche Richtung fließt und meine Gedanken die ganze Zeit um Mack kreisen. Aber ich bin nicht so fertig, dass ich vergesse, wo wir sind. Wenn man am Wasser aufwächst, lernt man, den nötigen Respekt davor zu haben. Obwohl ich weiterrudere, drehe ich das Boot allmählich um, sodass Meredith stromaufwärts sehen kann, während ich mit der Strömung kämpfe. Sie ist still und hat den Kopf immer noch zur Seite gedreht.
»Hey, alles in Ordnung?«, frage ich sie. »Hier ist die Brücke, von der ich dir erzählt hab. Siehst du, wie der Flussarm einfach weitergeht?« Ich warte darauf, dass sie was sagt, irgendwas. »Kannst du’s sehen? Ist es zu dunkel?«
Natürlich ist es zu dunkel, verdammt. »Egal. Das war ’ne Schnapsidee.« Ich weiß, dass ich nur noch hohles Zeugs quatsche, aber die ganze Situation ist ... Ich bin ein absoluter Loser. Wer rudert schon ein Mädchen in nassen Kleidern zu einer Brücke, wenn es dunkel ist? Nur ein Spacko wie ich.
Sobald sie das Licht am Hausboot sieht, merkt sie auf. Schnieft nur noch ab und zu. Wahrscheinlich ist es ihr peinlich. Was soll man auch sagen, wenn man wegen so was geweint hat, wegen der Blödheiten, die Jungs so anstellen? Ich warte, bis sie sich wieder besser fühlt. Und konzentriere mich derweil aufs Rudern, pfeife sogar ein bisschen, obwohl es sich hier draußen im Dunkeln ziemlich schwach anhört, verglichen mit dem Ba-bumm, Ba-bumm, Ba-bumm der Autoreifen, wenn sie über die Brückennähte bollern. Und selbst das wird bald vom sanften Wellenschlag übertönt. Mack kokst? Das bedeutet, dass ich wirklich nichts mehr mitkriege. Ich bin völlig außen vor.
In genau diesem Moment allerdings ist Meredith hier und wartet darauf, umworben zu werden. Um Mack werd ich mich morgen kümmern. Auf gar keinen Fall werde ich mir diese Nacht mit Meredith von ihm und Yowell verderben lassen!
»Da sind wir. Trautes Heim, Glück allein.« Ich lege so sanft wie möglich am Hausboot an. Nachdem ich das Halteseil mit der saubersten Achterschlinge an der Klampe festgemacht habe, die ich hinkriege, noch dazu mit nur einer Hand, schwinge ich mein Bein über die Seite. Ich knie mich auf Deck und reiche ihr die Hände, um ihr hochzuhelfen. Das Doppelgängerlaken liegt zusammengeknüllt im Bug des Ruderboots, als hätte die andere Hälfte beschlossen, lieber ein Nickerchen zu halten, als sich in die Privatsphäre der Schwester zu drängen. Auf einmal frage ich mich, ob diese besondere Verbindung zwischen Zwillingen bedeutet, dass Juliann weiß, wann ich ihre Schwester küsse. Kann Juliann genau das spüren, was Meredith spürt? Bedeutet sechster Sinn, dass ein Zwilling die Erlebnisse des anderen miterleben kann? Ich hab plötzlich diesen Film im Kopf, wo die Alienfrau irgendwie aus ihrer Haut schlüpft, um ohne Berührung Sex zu haben. Ihr wisst schon, dieser Film, in dem die Leute aus dem Seniorenheim im Nachbarpool schwimmen, ohne zu merken, dass sie die Lebenskraft der Aliens rauben. Diese Art von nicht körperlicher Verbindung meine ich.
Es ist ja nicht so, dass Meredith ein ganz normales Mädchen wäre, das einfach nach Hause und da allein ins Bett gehen kann. Sie hat Juliann, die auf sie wartet und neugierig ist und ihre Schwester bloß anzusehen braucht, um zu wissen, ob sie die Wahrheit sagt. O Gott, das ist jetzt wirklich zu kompliziert.
»Hey, Daniel.« Meredith zittert ein wenig, als wir auf dem Deck stehen. »Willst du mich nicht rumführen?«
Ich schüttele den Kopf, um ihn klarzukriegen. Mein Haar, immer noch nass vom Pool, fühlt sich an wie eine Schüssel Eis, die über meinen Kopf gestülpt ist. Ihres, so viel länger, muss sich wie der Nordpol anfühlen.
»Äh, sicher. Du bist ja noch nie hier gewesen.«
»Hm. Nö.«
Sie lächelt mich an, mich, den Clown, weil ich so einen unterirdischen Kommentar abgegeben hab. Als wüsste ich nicht, dass sie noch nie hier gewesen ist. O Gott!
»Willkommen auf unserem Hausboot Nirvana. Das hier ist das Deck.«
Sie lacht erneut. Mom sagt immer, ich kann charmant sein, wenn ich will.
Ich entriegele die Tür der Hauptkabine und stoße sie auf. »Das Wohnzimmer der Familie Landon. So, wie es normalerweise aussieht.«
Auf jeder Ablagefläche liegen Zeitungen. In der Spüle stapeln sich die Teller. Auf dem Tisch stehen drei Vogelhäuschen mit offenen Dächern und warten darauf, befüllt zu werden. Die Tüte mit dem Vogelfutter lehnt gegen ein Tischbein. Die Mitte der Tüte wölbt sich vor, als wär ein Fresssack kraftlos vom Sessel gerutscht und könnte sich keinen Millimeter mehr vom Ort seiner Exzesse entfernen.
»Wow.« Sie ist superhöflich. »Deine Familie liest wohl viel, hm?«
»Ja, nehm ich mal an.« Ich hab nie darüber nachgedacht, wie das wohl in anderen Familien ist.
Ich hole zwei Handtücher aus der Schublade unter der Sitzbank, während sie sich alles anschaut. Sie dreht sich dabei einmal um sich selbst, damit sie den ganzen Raum erfassen kann. Als ich ihr ein Handtuch wie ein Cape über die Schultern lege, zieht sie es sich auf den Kopf und beginnt zu rubbeln.
»Ich muss dazusagen, dass das der Normalzustand für uns Landons ist«, erkläre ich ihr. »Meine Eltern leben ein bisschen jenseits des Mainstreams. Sie setzen andere Prioritäten als normale Eltern. Für sie bedeutet aufgeräumt bringt nichts.«
»Es ist ja ordentlich«, meint Meredith. »Auf seine eigene Art. Ich meine, alles, was man zum Fahren braucht, ist da.« Sie zeigt auf die Geräte am Armaturenbrett.
»O ja«, sage ich. »Kompass. Tiefenmessgerät. Steuerrad. Die sind zum Glück alle festgeschraubt.«
Sie lacht. Höflich interessiert betrachtet sie die Ablagefläche hinter dem Steuerrad, wo Dad seine Schiffskarten aufbewahrt. Die breiten Fenster lassen sich nicht öffnen und bilden den Windschutz für den Steuermann auf dieser Seite der Kajüte.
»Es gibt noch ein Steuer auf dem Dach«, sage ich. »Für schönes Wetter.«
Sie begutachtet den ganzen Schnickschnack und die Bücher auf den Regalen. Allen gefällt es immer, wie clever und kompakt das Schiff eingerichtet ist.
»Die Kombüse.« Ich deute auf ein Abteil zwischen Steuer und Schlafkabine.
»Cool«, sagt sie, während ich ein paar Schränke aufmache und ihr das System mit Haken und beweglichen Ablagen zeige, damit die Sachen bei starkem Seegang nicht hin und her rutschen.
Sie lässt sich wieder aufs Deck führen. Ihre Hand ist kalt, und ich hebe sie vor meinen Mund und puste ihr auf die Finger.
»Hier Vordeck, dort Backbord.« Ich gehe rückwärts, und sie folgt mir, ohne meine Hand loszulassen. Ihre Finger sind schon ganz klamm vor Kälte. Als sie in Nicks und meine Kabine schauen will, ziehe ich sie weg.
»Tz-tz! Nicht so schnell. Erst kommt die Kabine achtern. Das Elternschlafzimmer, aber Eltern sind momentan nicht an Bord.« Ich lasse die Tür zu. Nicht nötig, sie mit dem Zustand der Kabine zu erschrecken. Sie hat ja schon einen Eindruck bekommen.
Als wir in den überdachten Durchgang treten, der die zwei Kabinen trennt, bleibt sie dicht bei mir. Ich frage mich, ob sie hier auch die plötzliche Windstille und Wärme spürt. Als ich auf der anderen Seite wieder aufs Deck rausgehen will, zieht sie mich zurück.
»Es ist also sonst niemand hier?«, fragt sie mich.
»Nein.«
Man hätte schon blöd sein müssen, um die Einladung in ihrer Stimme nicht zu hören. Ich mag wohl ein Streber sein und etwas ungesellig, aber ich bin nicht blöd. Ich drehe mich auf einem Fuß herum und seh sie an.
Ihr Lächeln leuchtet im Dunkeln fast. Ich küsse sie. Nicht nur einmal, und es ist unglaublich. Wahnsinn. Sie legt ihre Arme um meinen Nacken. Mit jeder Sekunde wird es wärmer. Ich spüre ihre Lippen auf meiner Wange, an meinem Ohr. Ich weiß gar nicht, wie ich beschreiben soll, wie das Gefühl von deinen Lippen durch den ganzen Körper zieht und dich überall wärmt. Und um wie viel schöner es ist, wenn du den Menschen wirklich magst, den du küsst.
Sie flüstert: »Sag noch mal meinen Namen, so wie du’s im Ruderboot gemacht hast.«
»Meredith.« Ich versuche, die Silben länger auszusprechen und uns in den Klang einzuhüllen.
»Nein, den Spitznamen, den du gesagt hast.«
»Oh ... Ach, Merry?«, sage ich erstaunt. »Ich hab das gar nicht bewusst gesagt, es ist mir einfach so rausgerutscht.«
»Ich hab noch nie einen Spitznamen gehabt.«
»Es gibt für alles ein erstes Mal.«
Die Küsse werden heftiger. Ich kann sie nicht dicht genug an mich pressen. Joe wäre enttäuscht, dass ich das nicht besser geplant habe, gewartet habe, bis wir in der Kabine sind, in der Nähe einer Koje.
»Komm, der Rundgang ist noch nicht beendet.«
Mehr Küsse. Sie mag die Stelle genau vor meinem Ohr.
»Meredith, Meredith.«
Dicht an dicht gehen wir zur anderen Seite des Decks. Das Boot schwankt, und sie drückt sich noch fester an mich. Ihre Finger sind wie kleine Eisskulpturen, hart und gekrümmt in meinen Händen. Ich spüre, wie sie zittert.
»Es ist zu kalt hier draußen«, sage ich. »Lass uns reingehen.«
Da Nick, bevor ich ging, noch fürs Zelten gepackt hat, bin ich ziemlich sicher, dass unsere Kabine einigermaßen vorzeigbar aussieht. Ich krabble im Dunklen mit den Fingern über die Wand, bis ich den Lichtschalter finde. In allen vier Ecken leuchten Glühlampen mit schwacher Wattzahl auf, die von der Batterie gespeist werden. Meredith sieht sich um. Es gibt nicht genug Regale, deshalb stehen überall Bücherkisten rum. Vielleicht findet sie die Kojen doof, aber auf einem Hausboot gibt’s nun mal keine bessere Lösung.
Nicks preisträchtiger Müllhaldenfund, ein alter Fernseher, größer als ein Stuhl, steht auf dem eingebauten Kleiderschrank. Er hat ihn mit einer Decke abgefedert und mit einem Gummispanner befestigt, damit er bei Seegang nicht rutscht. Das Ding ragt fünfzehn Zentimeter über den Schrank hinaus. So haben sie Fernseher früher eben gebaut. Aber Nick muss Fußballspiele sehen können und South Park, wenn Mom und Dad nicht da sind.
Ich schalte drei der vier Lampen aus. Auch wenn die Batterie ziemlich stark ist, will ich kein Risiko eingehen. Dad hat uns den ganzen Sommer und Herbst über einem erbarmungslosen Drill in Notfallmaßnahmen und Bodenpflege unterzogen. Nicht, dass Seeleute Geizhälse wären – sie müssen nur immer in Bereitschaft sein, um sich aus einem Sturm oder sonst einer Gefahr hinausmanövrieren zu können. Eine funktionierende Batterie und ein intakter Motor sind dafür eben unerlässlich.
Da die Fenster keine Vorhänge haben, sehen wir denselben schwarzen Himmel wie vorhin. Die Klappjalousien davor rattern und erinnern daran, dass die Hurrikan-Saison noch nicht vorbei ist. Mit dem aufkommenden Wind schwankt das Boot heftiger und abrupter. Meredith greift nach dem Geländer der oberen Koje, um die Balance zu halten.
»Aber da sind nur zwei Kojen, und du hast zwei Brüder.«
»Joe«, erkläre ich ihr, »das ist der, mit dem du mich neulich im Auto gesehen hast, ist auf dem College und schläft im Schlafsack, wenn er herkommt. Seit drei Jahren sind also nur noch Nick und ich hier. Hast du Nick mal gesehen? Er ist dreizehn. Ein Fußballkönig. Was kann ich sonst noch erzählen?«
»Welches ist deine Koje?«
Ich zeige darauf und verschlucke mich fast an den Worten. »Willst du sie ausprobieren?«
»Um das richtige Gefühl dafür zu kriegen, wie es ist, auf einem Hausboot zu leben, muss ich das wohl, oder?«
Ich nicke, meine Kehle ist jetzt wie zugeschnürt. Sie ist schon hochgeklettert und hat sich hingelegt, bevor ich mir eine Antwort auf ihre Frage überlegen kann.
»Gefällt’s dir?«
»Vielleicht solltest du mir noch zeigen, wie du hier hinpasst. Du bist schließlich größer als ich.«