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Als ich nach der Grippe merke, dass ich immer noch nicht richtig schlucken kann, bekommt Dad Panik und besteht darauf, mich wieder zum Arzt zu bringen. Mom meint zwar, Miss T. könne das auch behandeln, aber er gibt nicht nach, also verbringe ich zwei Nächte im MCV, dem Medical College von Virginia. Es ist wie im Zoo.
Das MCV ist wie ein Krankenhaus, aber mit einer Medizin-Uni und mitten in der Innenstadt von Richmond, sodass ständig alle möglichen Patienten in die Notaufnahme strömen. Ein Kind mit Leukämie sitzt dann neben einem Zweijährigen mit Verbrennungen dritten Grades, weil es in kochend heißes Badewasser getaucht wurde, oder neben einem Ehemann, dessen Frau ihm gerade mit der Bratpfanne eins übergezogen hat. Richmond ist eine Großstadt. Und es heißt, sie sei die Stadt mit der höchsten Mordrate in den USA.
Trotzdem ist das MCV ein Krankenhaus, mit dem sogar Mom leben kann. Wie die Freiheitsstatue heißt es jeden willkommen. Sehr demokratisch, meint sie. Die Ärzte, die uns behandeln, absolvieren ihre Facharztausbildung. Sie sagen den richtigen Ärzten, was Sache ist, und nicht andersrum. Das ist okay für mich, weil ich die ganzen Internetartikel über AML gelesen habe und es so aussieht, als ob sich niemand wirklich damit auskennt. Ich hab sowieso nicht viel Hoffnung.
Sobald ich mit der Untersuchung durch bin, warten wir auf die Ergebnisse. Und warten. Und warten. Es ist unglaublich, dass es bei einer lebensbedrohlichen Krankheit eine Woche oder länger dauert, bis die Laborergebnisse da sind. Ich kann immer noch nicht schlucken, was bedeutet, dass ich nicht essen kann, was bedeutet, dass ich nicht alle Vitamine und Mineralstoffe kriege, die die Knochen stark machen und die Gehirnzellen versorgen. Mom ist sauer und hinterlässt dem Arzt jeden Tag böse Nachrichten. Ich träume von der Ernährungpyramide aus dem Kindergarten, von fester Nahrung aus allen Nahrungsmittelgruppen – von rotem Fleisch, Orangen, Käse, sogar Rosenkohl. Nur wenn ich an einen weiteren Milchshake denke, wird mir allmählich übel.
Nach einem übermäßig stürmischen Thanksgiving auf dem Hausboot, das dabei so sehr schwankt, dass keiner etwas essen kann, ziehen wir alle in eine Dreizimmerwohnung gegenüber dem Postamt, als Untermieter eines Professors vom Rappahannock Community College, der ein Sabbatjahr in Nairobi verbringt. Ich schlage im Lexikon nach. Nairobi ist die Hauptstadt von Kenia.
Dad versucht, ein Buch fertig zu bekommen, dessen Abgabetermin bereits verstrichen ist. Selbst ich merke, dass er langsamer ist als sonst.
»Sollten die ihn nicht an den Tropf hängen?«, fragt Mom, als sie denkt, ich wäre bei Die Geister, die ich rief vorm Fernseher eingeschlafen. Bill Murray ist wirklich ein lustiger hässlicher Kerl!
Früher hat er mir immer Hoffnung gemacht, dass sich eines Tages ein richtig nettes Mädchen in mich verlieben würde, so wie diese Claire, die in dem Film das Obdachlosenheim leitet. Jetzt, wo ich Meredith kenne, finde ich, Murray hat Claire nicht verdient, aber was bedeutet das für mich?
»Red, ich rede mit dir«, flüstert Mom.
Ich öffne die Augen nur zu schmalen Schlitzen, damit sie nicht merken, dass ich wach bin, und sehe, wie Dad das Manuskript beiseitelegt. Er versucht angestrengt zu lächeln, aber es funktioniert nicht.
»Wie war deine Frage, Sylvie?«
»Das war keine Frage«, erwidert Mom. »Ich finde, sie sollten Daniel künstlich ernähren. Wie lange kann er ohne Essen überleben?«
»Es sind jetzt vier Tage«, sagt Dad. »Er trinkt Milchshakes. Ich glaube, er ist okay.«
»Im Krankenhaus«, sagt Mom, »haben sie ihn auch an den Tropf gehängt. Ich rufe den Arzt an.«
»Welchen Arzt?«, fragt Dad. »Doktor Morley wird dir nichts sagen. Der verweist dich nur an das Team aus der Notaufnahme, die Daniel untersucht haben, als er da war. Und von denen wirst du keinen ans Telefon kriegen. Die arbeiten in Vierundzwanzig-Stunden-Schichten, brechen zusammen und arbeiten dann wieder vierundzwanzig Stunden.«
»Vielleicht kann mir eine Krankenschwester etwas sagen.«
»Vielleicht.« Er blättert in den Seiten auf dem Sofa. Ich stelle mir vor, wie im Hintergrund ein Zähler läuft. Solange er redet, verliert er Geld. Und wenn Mom aufhört, mit ihm zu reden, wird sie irgendwelche Ärzte anrufen, und dann schicken die wieder Rechnungen, und er verliert auch Geld. Ich frage mich, ob alle Väter, selbst Väter ohne todkranke Söhne, nachts wach liegen vor Sorge, woher sie das Geld für ihre Familien nehmen sollen.
»Hat Walker schon wegen des neuen Anhörungstermins Bescheid gesagt?«, will Mom wissen.
»Irgendwann im Februar, hat er gesagt.«
»Wann hat er angerufen?«
»Hat er nicht«, erwidert Dad. »Er hatte das vorher mal gesagt. Weißt du nicht mehr?«
»Nein ... aber ich glaube dir«, sagt Mom. »Wenn das Gericht im Februar die Aussagen hört, wann werden wir dann eine Entscheidung kriegen?«
»Ich hab keine Ahnung. Da musst du Walker fragen.«
»Das kann ich nicht«, sagt Mom. »Jede Frage, die ich ihm stelle, kostet uns Geld.«
Dad nimmt das Manuskript wieder auf und legt es sich auf den Schoß. Schweigen.
Zwei Wochen noch bis Weihnachten. Obwohl die anderen Zehntklässler ihre Prüfungen nach den Weihnachtsferien schreiben, lässt mich das Schulamt frei entscheiden, wann ich schreiben möchte. Deshalb zieh ich’s jetzt durch, damit ich’s hinter mir habe. Denn ich weiß, dass Mom immer noch an der Möglichkeit bastelt, mich nach Mexiko zu bringen, und zum anderen, weil Joe über Weihnachten nach Hause kommt. Aber der Hauptgrund ist, dass Meredith zehn ganze Tage schulfrei haben wird und ihre Mutter tagsüber arbeitet.
Vier Prüfungsarbeiten in einer Woche sind eine irre Plackerei. Vor allem nach zwei Bluttransfusionen am Monatsanfang. Die Leute in der Schule unterstützen mich aber, so gut sie können. Sie legen die Termine auf den frühen Morgen, weil ich am Nachmittag immer schon müde bin. Wie sich herausstellt, führt Stepford-Hanes bei zwei meiner Prüfungen Aufsicht, Englisch 10 und Weltgeschichte bis 1600. Sie blinzelt nicht mal, als ich in Weltgeschichte schon früher abgebe.
»Und? War das Lernen dieses Halbjahr für dich einfach, ohne Lehrer?«, fragt sie hinterher. Wir unterhalten uns noch ein bisschen, während ich auf Mom warte, die mich abholt.
»Geschichte ist doch fast nur reines Auswendiglernen.«
»Im College wird das aber anders. Da musst du Schlussfolgerungen ziehen und sie auf andere historische Ereignisse anwenden. Sie wollen deine Meinung hören, nicht nur gelernte Daten und Orte.«
»Glauben Sie, es würde mir auf dem College gefallen?«
»Aber natürlich«, sagt Stepford-Hanes. »Das ist die Zeit in deinem Leben, wo du erkennst, inwieweit du dich von deinen Eltern unterscheidest und worin du gut bist. Wie du die Meinung anderer durch deine Ideen verändern kannst, und nicht nur dadurch, was du anhast oder wie viele Tore du schießt oder mit welchen Freunden du abhängst.«
»Ich gehe nicht zum College.« Ich habe das noch nie laut ausgesprochen, und es ist schwerer, als ich dachte, die Worte so laut zu sagen, dass sie sie hören kann.
»Es gibt Stipendien.«
Sie meint es gut, sie ist es einfach nicht gewohnt, mit Jugendlichen in meiner Situation zu sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch nichts von der KRANKHEIT gehört hat.
»Ein Stipendium ist nicht das Einzige, was ich brauche.«
»Daniel, ich ... ich verstehe nicht«, sagt Stepford-Hanes. »Deine Eltern haben beide studiert. Joe ist auf der Uni. Warum solltest du nicht zum College gehen? Willst du denn nicht?«
»Das ist ungefähr Nummer dreißig auf meiner Liste.« So, wie sie mich ansieht, hätte ich das wohl lieber nicht sagen sollen. Vielleicht ändert es ihre Meinung über mich als ernst zu nehmenden Schüler. Meredith für immer und ewig zu lieben, steht auf Platz eins. Das habe ich niemandem gesagt außer Meredith. Um ehrlich zu sein, war auf Platz zwei bisher immer, nach New York zu fahren, aber jetzt ist es, Kinder mit Meredith zu haben. Ich weiß, ich weiß, ein Sechzehnjähriger denkt normalerweise noch nicht an eigene Kinder. Aber die Vorstellung, dass Meredith und ich etwas erschaffen, das länger da sein wird als ich, in für mich unbekannter Zukunft, finde ich einfach gigantisch, fast Science-Fiction-mäßig, wenn ich weiß, dass ich nächsten Juni nicht mal mehr schwimmen kann und es in meiner Zukunft kein Englisch 11 geben wird.
Meredith wäre die coolste Mutter der Welt. Ich seh sie direkt vor mir, wie sie drei oder vier kleine Blondschöpfe auf Skiern am Bergkamm aufreiht und sie »Das Leben ist himmlisch« brüllen lässt, bevor sie den Abhang runtersausen. Es geht nicht um einen Stammhalter für die Landons oder so etwas. Ich weiß, dass Nick den Familiennamen weitergeben kann, aber eigene Kinder zu haben, die wie Meredith aussehen und reden, wäre unendlich viel cooler. Es wäre das, was Altwerden am Nächsten käme. Aber es ist nur ein Traum. Ich kann Merediths Leben nicht noch mehr versauen, als ich es schon versaut habe.
Stepford-Hanes ist offenbar noch nicht bereit, das Thema zu wechseln. »Tja, ich wage zu behaupten, dass deine Liste sich bis zu deinem Abschluss noch einige Male ändern wird.«
Mom sieht vom Gang aus ins Zimmer, winkt und verschwindet gleich wieder. Seit Thanksgiving bemüht sie sich redlich (und deutlich sichtbar), mir meine eigenen Kontakte und Gespräche zu lassen, ohne alles zu hinterfragen. Dad muss ihr die Leviten gelesen haben, anders ist das nicht zu erklären.
»Mrs Landon?« Stepford-Hanes ruft sie zurück. Sie steht auf und legt mir kurz eine Hand auf die Schulter, bevor Mom wieder reinkommt.
»Wie ist es gelaufen?«, erkundigt Mom sich bei mir, während sich die Frauen die Hände schütteln. Sie macht auf tapfere Mutter, was ein todsicheres Zeichen ist, dass Stepford-Hanes Bescheid weiß. Unser Gespräch irritiert mich jetzt im Nachhinein. Wenn sie von der Leukämie weiß, warum spricht sie dann über Dinge, von denen sie weiß, dass sie offenkundig unmöglich sind?
»Daniel und ich haben gerade darüber gesprochen, wie anders es auf dem College laufen wird«, sagt Stepford-Hanes. »Haben Sie sich schon ein paar Hochschulen überlegt, die infrage kommen?«
Mom sieht sie entgeistert an. Sie befühlt den Autoschlüssel in ihrer Hand wie eine Blinde, die sich etwas Neues einprägen muss. Stepford-Hanes wartet noch ein oder zwei Sekunden auf eine Antwort und runzelt erwartungsvoll die Stirn.
»Na ja, das ist eine schwerwiegende Entscheidung. Wenn Sie anfangen, sich Gedanken zu machen, und ein paar Vorschläge wollen ... Ich glaube, ich könnte ein paar Schulen nennen, die gut zu Daniels Interessen und Begabungen passen würden.«
»Danke. Danke vielmals.« Ich schnapp mir meine Tasche, geh zur Tür und hoffe, dass ich Mom hier rauskriege, bevor sie zusammenbricht.
»Lass dich mal wieder blicken«, sagt Stepford-Hanes, und ihr Gesicht zeigt zigtausend Falten wegen unseres Gesprächs.
Im Gang hebt Mom die Hand und signalisiert: keine Fragen. Wir gehen an offenen Klassenzimmertüren vorbei, und als ich all die blauen Hosenbeine in Jeansstoff sehe und zwischen Stuhlreihen gestreckte Flip-Flops und Lacrosse-Schuhe, die an Stuhllehnen baumeln, kann ich Mom nur zustimmen: Schweigen ist sicherer.
Noch vier Tage bis Weihnachten. Als Joe kommt, rieseln Schneeflocken, die kaum mehr sind als weiß umhüllte Regentropfen. Mom klappert in der Küche rum, als wäre sie gehetzt oder genervt. Es duftet aber süß und weihnachtlich. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Kekse gebacken hat. Als wir in der Grundschule waren vielleicht. Sie muss ein Rezept gefunden haben, bei dem man Honig statt raffinierten Zucker nehmen kann, weil Letzterer ihrer Meinung nach nämlich ein weiterer Serienkiller der Menschheit ist. Nick hilft Joe, seine Sachen reinzutragen. Viel mehr Bücher als sonst.
»Ey, Alter«, klatscht Joe Nick ab. Nick sieht seine Chance gekommen und versucht, Joe zum Besuch des neuen Batman-Films zu überreden. Sie verhandeln per Bühnenflüstern, die Münder zur Seite gezogen wie Comic-Gangster. Als wär ich schon gar nicht mehr da. Ich werde mächtig sauer, und das, wo ich gerade zur Abwechslung mal guter Laune war. Meredith ist vor wenigen Minuten nach Hause gegangen.
»Hallo? Ich freu mich auch, dich zu sehen.« Okay, das ist kindisch und unreif, aber ich kann nicht anders.
»Daniel. Du siehst scheiße aus.«
Große Brüder sind echt Idioten!
»Du siehst aber auch ganz fertig aus. Zu wenig Schlaf?«
»Das sagt der Richtige!« Joe schmeißt seine Tasche hinters Sofa, das mit seinem abgewetztem Karostoff und den hölzernen Armlehnen aussieht, als würden wir eine dieser alten Sitcoms nachspielen, eine von den unlustigen. »Willst du mit Nick und mir ins Kino, Batman sehen?«
»O ja, das ist genau das, was ich gerne hätte. Einen Hauch Unsterblichkeit. Und wenn’s nur auf der Leinwand ist.«
Joe nimmt Nick in den Schwitzkasten und klopft ihm auf den Kopf. Seine Zähne blitzen, als er lacht. »Hat Danny-Boy mich nicht vermisst? Nick hat mich vermisst. Was ist los, Danny-Boy? Hat Meredith ’nen Neuen?«
»Halt Meredith da raus.«
Sogar Nick, die Augen auf mich gerichtet, fängt an, sich von dieser Naturkatastrophe von Bruder zu befreien. Er schiebt einen Fuß in den Flur und hält sich mit einer Hand am Türrahmen fest, was als Hebelwirkung ausreicht, um sich loszureißen. Das Geräusch meiner knirschenden Zähne hallt so laut durchs Wohnzimmer, dass ich nicht fassen kann, dass es außer mir niemand hört.
Joe senkt die Stimme, aber unerheblich. »Leute, Leute. Können wir nicht alle ein bisschen entspannen? Ist doch Weihnachten! Ich bin hergekommen, um zu feiern.«
»Tut mir leid.« Ich stehe auf und ramme die Hände in die Taschen meiner Fleecejacke. »Mir ist in letzter Zeit nicht unbedingt nach Feiern zumute.«
Zu meiner großen Überraschung kommt Nick wieder aus seinem Versteck. »Lass ihn in Ruhe, Joe. Du hast keine Ahnung.«
Den traurigen Rest will ich gar nicht mehr hören. Menschen können durch Ersticken sterben, und ich brauche Luft. Viel davon. Wenn ich Mack von der Reinigung aus anrufe, kann er kommen und mich holen. Das haben wir schon mal durchexerziert – öfter, als ich zugeben will.
Als ich durch den Garten die Abkürzung zur Washington Street nehme, sehe ich durchs Küchenfenster, wie Joe unsere Mom in den Arm nimmt. Ich kann mir gut vorstellen, wie er zuerst eine kurze Zusammenfassung seiner Prüfungen gibt und dann ihrer Frage ausweicht, wann er wieder zur Uni zurückmuss. Wir haben uns alle daran gewöhnt, Moms Gefühle zu schonen. Das passiert schon rein instinktiv.
Als ich Mack anrufe, ist er nicht da. Mrs Petriano schwelgt in weihnachtlichen Gefühlen.
»Wie geht’s dir, Daniel? Frohe Weihnachten. Gut, dass uns dieser Schneesturm nicht erwischt hat, wie? Wir haben an dich gedacht. Deine Mutter hat gesagt, du hast die Prüfungen schon hinter dir. Ich wette, das war ein gutes Gefühl.« Ich sehe förmlich vor mir, wie sie verschreckt umherschaut wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Was zum Teufel redet man mit dem todgeweihten Sohn einer Freundin?
»Yeah – ich meine, ja, Ma’am. Es ist schön, dass das schon geschafft ist.«
»Du musst nicht so förmlich mit mir reden, Junge. Ich kenne dich, seit du Windeln getragen hast.«
»Yeah.« Ich werde mich hüten, das jetzt wieder zu korrigieren, nachdem sie es geschafft hat, dass ich mich klein fühle. »Wissen Sie, wann Mack wieder nach Hause kommt? Ich muss dringend mit ihm sprechen.«
»Ich glaube, er hat das Handy seines Dads dabei. Er wollte ein paar Freunde treffen. Ich dachte, du wärst vielleicht auch dabei.«
Was soll ich darauf antworten, wo ich doch weiß, dass Mack mir seit unserem letzten Gespräch aus dem Weg geht? Also frage ich: »Können Sie ihm sagen, dass ich angerufen hab?«
»Natürlich kann ich das«, antwortet Mrs Petriano. »Ich schreibe es auf, damit ich es nicht vergesse. In letzter Zeit bin ich ziemlich vergesslich. Früher Alzheimer.«
Sie kichert tatsächlich, und ich krieg die Panik und frage mich, ob ich dieses Gespräch jemals beenden kann.
»Willst du die Handynummer?«
»Nein, ich will ihn nicht stören«, antworte ich. »Sagen Sie nur, dass ich angerufen habe.«
Als ich mich verabschiede, redet sie immer noch.
Mack ruft nicht zurück, aber als ich einmal Meredith anrufen will, lässt Juliann am Telefon durchsickern, dass Mack auch ihr aus dem Weg geht. Das macht mir Sorgen. Mack mit Hass auf die ganze Welt ist nicht der Mack, den ich kenne und liebe. Irgendwas ist passiert, oder er hat sich mit dem weißen Zeug vollkommen verstrahlt. Ich beschließe, Kraft zu sammeln und ihn in den Ferien zur Rede zu stellen. Er kann sich nicht ewig vor mir verstecken
Ich schließe das erste Halbjahr der Zehnten ab, ohne jemals in der Schule gewesen zu sein. Drei Einsen – Biologie, Weltgeschichte und Englisch – könnten mich an die Spitze der Klasse bringen, aber dann versaut mir Algebra II mit meiner Dauerlieblingsmathenote Zwei plus den Schnitt. Ich kann mich nicht erinnern, in Mathe jemals eine bessere Note als Zwei Plus bekommen zu haben. Wie kann das sein, dass ich so nah rankomme, aber es nie schaffe, egal, wie sehr ich mich bemühe?
Ihr denkt wahrscheinlich, genau wie mein Dad, dass die Bionote ein Schwindel war. Bio und Chemie und so waren noch nie meine Favoriten. Das Abmessen und Aufschreiben dieser ganzen Details, der ständige Vergleich von Sachen, das sind alles Kinkerlitzchen ohne große Bedeutung. Tatsache ist jedoch, dass es für mich jetzt viel wichtiger ist, Biologie zu verstehen als Geschichte. Ich bin anders motiviert. Und Meredith paukt mit mir. Sie ist ein Ass in Naturwissenschaften.
Zwei Tage vor Weihnachten schickt Mom Nick in die Bücherei, um im Internet nach Flugpreisen für Mexiko zu sehen. Sollte wohl ein Geheimnis sein, aber sie reden allesamt laut im Wohnzimmer darüber, als sie denken, ich schlafe. Dad krallt sich das Handy, um seine Verlagsleute anzurufen, damit sie mehr Arbeit auftreiben. Er drängt mich zu philosophischen Auseinandersetzungen und zu Diskussionen über fast jede Schlagzeile in der Zeitung, damit ich mich auf zentrale Themen konzentriere, aber er ist mit diesen Ablenkungsmanövern nicht besser als ich. Was kümmert es mich, ob die amerikanische Botschaft in Nairobi wieder angegriffen wird? Ich werde da sowieso nie hinreisen.
Obwohl Holden nicht viel über seinen Vater sagt, hab ich sofort gemerkt, dass der in seinem Leben so was wie ein Schwarzes Loch ist, verglichen mit meinem Dad, der in meinem mittendrin ist. Holden sagt, er wolle seinen Vater nicht schimpfen hören, weil er schon wieder ein Internat geschmissen hat, aber es steckt mehr dahinter. Als ich die Szene mit seinem heimlichen Besuch bei Phoebe noch mal lese, höre ich panische Angst heraus, die nicht ins Bild passt. Du hast den Eindruck, sein Vater wär ein großer Unternehmer. HC redet nicht wirklich schlecht über ihn. Wie ich das sehe, haben Holden und Leonard und Meredith – also Jugendliche, deren Väter kaum da sind, weil sie zu wichtig und zu beschäftigt sind, um sich zu kümmern – ein viel größeres Problem, als man denkt.
Eltern sind von Anfang an neugierig, oder? Das kommt automatisch, per Definition. Sie wollen wissen, was ihre Kinder tun, essen, denken. Das mag ganz natürlich sein, aber zu viel Neugier ist nicht gesund. Vor allem, sobald ein Kind eigenständig ist. Das ist bei Jungen so mit sechzehn, siebzehn der Fall, bei Mädchen vielleicht ein bisschen später wegen dieser ganzen Beschützerei des schwachen Geschlechts und so. Wie bei diesen Studien mit Schimpansen auf Discovery Channel zu sehen, muss sich analog auch ein menschliches Kind von seinen Eltern lösen. Man sollte meinen, wenn Erwachsene schlau sind, dann sorgen sie dafür, dass einem in der Schule was Vernünftiges beigebracht wird – zum Beispiel, wie man Vorräte anlegt und kocht und eine Wohnung mietet –, statt dass man mathematische Formeln lernen muss oder wann die Mongolen die Weltherrschaft übernehmen wollten. Solches Wissen nützt einem rein gar nichts, seinen Weg in der Welt des neuen Milleniums zu finden.
Das Ziel aller Eltern, vom ersten Schritt übers Auf-den-Topf-Gehen bis hin zum Führerschein, ist doch, dass das Kind allein überleben kann. Bücher aus der Bücherei ausleihen zu können, ist nicht überlebenswichtig. Fußball spielen zu können, ist definitiv nicht überlebenswichtig.
Aber jetzt kommt das eigentliche Problem. Wenn es nur einen Elternteil gibt, kann er oder sie entweder alles zu eng sehen oder zu locker. Ohne den anderen gibt es kein Gegengewicht. Das schwere Ende der Waage rummst nach unten. Das Kind fuchtelt mit den Armen und geht unter. Sicher, man kann argumentieren, dass manche Kinder gut mit nur einem Elternteil zurechtkommen. Ja, und es gibt auch blinde Menschen, die eine Arbeit finden – aber manche müssen ihr Leben lang betreut werden. Nehmt meine Mutter. Wenn Dad nicht da wäre, damit sie mit beiden Beinen auf der Erde bleibt, in der Realität, dann würden wir jetzt wahrscheinlich in irgendeinem gottverlassenen Bergdorf wohnen und Pilze essen. Und vielleicht Kaffeeblätter als Lendenschurz tragen. Aber sie meint es natürlich gut.
Versteht mich nicht falsch. Ich liebe meine Mutter. Aber sie ist in gewisser Weise unfähig. Sie liebt mich. Sie will nicht, dass ich Schmerzen habe. Sie könnte nie die schwere Entscheidung treffen zu amputieren. Aber Dad hat einen anderen Blickwinkel. Das bedeutet, dass sie gemeinsam verschiedene Möglichkeiten erwägen und Entscheidungen treffen können, ohne dass das Gewicht der Entscheidung auf einem allein lastet. Wenn Mom austickt, übernimmt Dad. Wenn Dad ein Thema unter den Tisch kehren will, bringt Mom es immer wieder hervor. Es ist ein gutes System, das mir vorher nie so aufgefallen ist, wenn beide mich anschnauzen, weil ich Nick geärgert oder vergessen habe, Grandma einen Dankesbrief zu schreiben.
Was uns wieder zu der nicht unerheblichen Gefahr bringt, die durch einen abwesenden Elternteil entsteht. Nicht, dass ich auch nur irgendetwas an der einen perfekten Nacht meines Lebens ändern wollte – meine Nacht mit Meredith –, aber irgendjemand hat da nicht aufgepasst. Ich habe Mr Rilke nie kennengelernt. Aus Merediths Erzählungen über den Besuch zu Thanksgiving liebt er sie. Auch wenn er Mrs Rilke nicht treu sein konnte. Aber was, wenn das nicht ich gewesen wäre, sondern Leonard oder irgendein blöder Footballspieler, der Meredith nach der Halloween-Party mit nach Hause genommen und einfach nur ausgenutzt hätte? Mr Rilke hat es vermasselt. Er war nicht da, um Meredith oder ihre Mutter zu erinnern, dass Jugendliche nicht ohne Grund zu einer bestimmten Uhrzeit zu Hause sein müssen. Und dass hübsche Mädchen wie Meredith beschützt werden müssen.
Versteht mich nicht falsch. Ich will nicht den Moralapostel spielen und Sex vor der Ehe verdammen. Ich habe Meredith nicht ausgenutzt. Wir wollten es beide. Das ist der zentrale Punkt. Aber wenn ihr Vater wüsste, wie beschissen sie dran sein wird, wenn der Junge, den sie liebt, vor seinem siebzehnten Geburtstag stirbt, dann hätte er hier sein müssen, um auf das Zeitlimit beim Ausgehen zu bestehen. Und er sollte verdammt noch mal hier sein, wenn ich gestorben bin und sie zusammenbricht.
Woher ich so sicher bin, dass sie zusammenbrechen wird? Ich meine, ich will niemandem was vormachen. Daniel Solstice Landon ist nicht der tollste Sechzehnjährige der Welt. Meine Haare sind zu lang und strähnig. Ich bin ein Gerippe. Ich kann nicht mehr rennen. Ich kriege Angst unter dunklen Brücken. Ich finde, mit Schilfrohr und einer Schwester wie Phoebe reden zu können, interessanter als Flaschendrehen oder Fußballspielen. Ich falle von Brücken, Herrgott noch mal!
Abgesehen davon, dass ich es liebe, wie Meredith das letzte Wort eines Absatzes in die Stille fallen lässt ... und wie sie mit ihren nackten Füßen über den Teppich reibt, wenn sie scharf nachdenkt ... und abgesehen davon, dass ich sicher bin, dass sie mich liebt, weil sie, obwohl sie weiß, was mein liebstes Weihnachtslied ist – das Kirchenlied Brightest and Best of the Sons of the Morning –, es nie im Leben jemandem verraten würde ... also abgesehen von alledem weiß ich, dass sie zusammenbrechen wird, wenn ich sterbe, weil unsere gemeinsame Nacht das erste Mal war. Es gibt für alles nur ein erstes Mal. Und wenn es mit sechzehn passiert und dann einer von beiden stirbt, ist das traumatisch. Für beide.
Heiligabend ruft Meredith an, aber sie will nicht mit mir sprechen. Mom kommt in die Küche, wo ich das Geschirr abtrockne, das Joe spült. Der Truthahnkadaver steht klaffend auf der Arbeitsplatte. Der Geruch von Zwiebeln und Gewürzen aus der übrig gebliebenen Füllung schafft traute Behaglichkeit.
Joe erzählt: »In meinem Erdkunde-Seminar über Kolonialismus sagt Professor Abelard, es geht einzig und allein um wirtschaftliche Interessen. Der würde dir gefallen, Daniel. Er benutzt Romane, um Geschichte zu lehren.«
Mom stupst Joe an, Ellbogen an Ellbogen. Er bricht ab, als hätten sie das so geplant. Verräterische Stille.
Nachdem Joe einmal nickt, spricht Mom. »Das war gerade Meredith am Telefon.« Sie sehen überallhin, nur nicht zueinander, was wiederum verräterisch ist.
»Warum hast du mich nicht gerufen?«, will ich wissen.
»Joe kann dich zu ihr rüberfahren. Ich mache das hier fertig.«
Er nimmt mir das Handtuch ab, trocknet sich die Hände und ist schon halb an der Tür, als er sich umdreht und es im eleganten Bogen Richtung Spüle wirft. Ich fange das Handtuch auf, bevor es auf den Boden fällt.
»Was, wenn ich nicht hinwill?«
Joe schnaubt. »Sei kein Idiot. Sie wartet auf dich.«
»Wie zum Teufel willst du das wissen? Was geht hier vor?«
Mom reibt sich die Augen und lacht. Es klingt gezwungen – mir macht sie nichts vor.
»Okay, okay. Ich fahre zu Meredith, aber ich kapier nicht, wieso sich alle in mein Leben einmischen müssen.« Ich wische mir den Schweiß vom Gesicht, aber als ich das Handtuch runternehme, ist da überall rotes Zeug drauf. Ich seh auf meine Hände. Auch rot.
»Was zum ...«
Mom fängt an zu schreien. Ich versuche, mich zu erinnern, was ich mit Kirschen oder Tomaten darin gegessen haben könnte. Als ich mich umdrehe, um den Schwamm zu nehmen, kommt Joe in die Küche zurück. Sein Kopf taucht gerade aus dem oberen Ende seines Fleecepullovers auf, als er ihn sich zurechtzieht.
»Hast du dich geschnitten?«
»Ich habe Teller und Tassen abgetrocknet wie schon hundert Mal zuvor«, mache ich ihm klar. »Ich hab mich nicht geschnitten.«
Auftritt Dad. »Ach, du liebe Zeit! Setz dich, Daniel.« Mit ausgebreiteten Armen, die Handflächen nach oben, tritt er auf mich zu, drückt meinen Kopf nach hinten, begutachtet mein Gesicht, legt dann beide Hände auf mein armes Haupt und presst es zwischen die Knie. »Okay, okay, alles wird gut. Er hat nur Nasenbluten, Leute, das ist alles. Sylvie, beruhige dich.«
»Nasenbluten? Seit wann krieg ich Nasenbluten?« Es gurgelt beim Sprechen, und ich sehe Tropfen im Stakkato auf den abgewetzten Linoleumboden fallen.
Nicks Sportschuhspitzen ragen in mein Blickfeld, dann wird mir von unten ein Handtuch vors Gesicht gehalten.
»Danke«, murmele ich. Ich hab Schleim im Hals und muss husten, wobei rote Pünktchen auf meine Haus- und Nicks Sportschuhe sprühen.
Zu Moms Schluchzen im Hintergrund warte ich auf Nicks diesbezüglichen Kommentar: Ekelig!, aber nichts kommt.
»Sylvie, ruf Misty an. Sie weiß, was wir tun müssen«, bellt Dad. »Joe, Eis im Plastikbeutel. Nick, noch ein Handtuch.«
Standardversorgung bei Nasenbluten. Ich wusste gar nicht, dass Dad medizinische Kenntnisse hat, die über die Behandlung von Giftefeu-Verletzungen bei Pfadfindern hinausgehen. Als Joe zurückkommt, zeigt Dad ihm, wo er den Eisbeutel hinhalten soll, und geht raus, um nach Mom zu sehen.
Joe raunt mir ins Ohr: »Dein Timing ist beschissen. Mom wollte dir einen perfekten Heiligabend bescheren. Sie und Meredith haben alles geplant, und jetzt musst du’s versauen. Wie hält Meredith das nur mit dir aus? Fällst von Brücken und blutest alles voll!«
Die gefakte Anmache soll die Zeit vertreiben, und ich bin ihm dankbar dafür. Joe erzählt mir von einer Verabredung, bei der das Mädchen ihn zwischen Hauptgang und Nachspeise vollgekotzt hat. Als Nick von der anderen Seite des Tisches aus lacht, wird mir klar, dass alle um mich rum stehen und nur darauf warten, dass ich aufhöre zu bluten. Wie so oft in letzter Zeit warten alle darauf, dass der gute Daniel sich sortiert und anständig weitermacht.
Die Blutung stoppt, und Joe und Dad bringen mich ins Schlafzimmer, wo sie aus mit Handtüchern umwickelten Kissen einen Sultansthron aufgeschichtet haben. Ich schlafe schon halb, während sie mich in die richtige Position drapiert haben.
Merediths Stimme dringt aus dem Wohnzimmer in mein Bewusstsein. Ich hoffe, das ist nicht nur ein Traum.
»Kann ich reinkommen?«, fragt sie von der Tür aus.
»Frag lieber die Grenzpatrouille, ob du die grippefreie Zone betreten darfst«, antworte ich. »Ich bin im Moment nicht ansteckend.«
»Deine Mom meint, es wäre okay.«
»Wie ich höre, seid ihr jetzt beste Freundinnen.«
Sie zieht den Schreibtischstuhl ran, damit sie mich angucken kann. »Frohe Weihnachten – Merry Christmas.« Sie kämpft mit den Tränen.
»Meredith Christmas, meinst du wohl.« Ich will, dass sie lacht. »Das war doch nur Nasenbluten.«
»Tut mir leid.«
»Tutmirleid ist wieder da?«, erinnere ich sie. »Und keine Brücke in der Nähe, tz-tz!«
Diesmal lacht sie tatsächlich, wenn auch nur, um mir einen Gefallen zu tun. Ich versuche, mich munter zu geben, obwohl diese Art von Rückschlag unsere Pläne für zehn kontrollfreie Ferientage in ihrem Haus wahrscheinlich zunichtemacht.
»So viel zu Fernsehen und Popcorn in eurem Keller, während deine Mutter arbeitet.«
Sie antwortet nicht gleich, und ich denke, dass sie vielleicht denkt, ich würde mich wirklich nur für Fernsehen und Popcorn interessieren. Was weiß ich schon, wie man einem Mädchen, na ja, ein eindeutiges Angebot macht. Es ist zwei Monate her. Sie muss doch wissen, wie sehr ich sie will. Krampfhaft überlege ich, ob ich ihr direkt etwas in der Art gesagt oder mich unbewusst so verhalten habe, dass sie denken könnte, ich würde keine Wiederholung wollen.
Als sie dann endlich spricht, ist ihre Stimme ganz leise. »Wegen der Ferien wollte ich dich schon anrufen.«
Nach dieser Einführung rutscht meine Laune in den Keller. Auf solche Worte kann nichts Gutes folgen.
»Daniel, es tut mir wirklich leid. Ich werde nun doch nicht hier sein. Dad hat angerufen, und Juliann und ich müssen nach Colorado und ihn in den Ferien besuchen.«
Ich bin so erleichtert, dass ich loslache. »Er muss gehört haben, mit wem du zusammen bist.«
»Ja, genau. Daniel Solstice Landon, Superclown, definitiv nicht der richtige Umgang für mich. Mein Dad macht sich Sorgen.« Sie massiert meine Füße, drückt mit den Fingern jeden einzelnen Zeh, streicht unter die Fußwölbung und wieder zurück.
Das fühlt sich unglaublich an. Ich lege den Kopf auf die Kissen und stelle mir vor, was passieren könnte, wenn wir allein wären, richtig allein. Ich sehe mich im Bett liegen und Meredith vor mir auf den Knien, die Hände auf meinem Körper, und wenn sie mit meinen Füßen fertig ist, streicht sie an den Beinen nach oben. Es ist erstaunlich, dass ich mich so gut fühlen kann, nachdem es mir vor einer Stunde noch dermaßen beschissen ging. Das hier könnte sehr schnell außer Kontrolle geraten.
»He, lass das. Ich bin kein Krüppel.«
Sie zieht die Hände zurück und erstarrt.
»Wie lange?«, will ich wissen.
»Neun Tage.«
»Tja, dann ...«, stöhne ich. »Die ganzen verdammten Ferien! Er hat mich wirklich auf dem Kieker. Frohe Weihnachten, Daniel.«
»Das hat doch nichts mit dir zu tun. Wahrscheinlich hat er gedacht, es ist das, was von einem geschiedenen Vater in den Weihnachtsferien erwartet wird. Das sind die ersten Ferien seit der ...«
»Und was war mit Thanksgiving?«
»Da hat Mom uns hingeschickt wegen ihres Jobs.«
»Ach, das spielt jetzt auch keine Rolle mehr«, sage ich zu ihr. »Wie es aussieht, stecke ich sowieso die ganze Zeit hier fest. Auch ohne dass Eltern dabei mitmischen.«
Von irgendwoher zieht sie einen samtenen Beutel hervor und legt ihn wie ein Hündchen in ihren Schoß. Eine Minute lang beobachte ich, wie sie ihn streichelt, und das Kribbeln steigt mir wieder die Beine hoch. Dann steckt sie eine Hand in den Beutel und zieht ein flaches Päckchen mit einer kleinen Schleife raus. Sie legt es mir in die Hand.
»Mach’s auf.«
Ich fummele mit einer Hand am Geschenkband herum, mit der anderen halte ich den Eisbeutel auf meiner Nase fest. Ich komme nicht weit, also lege ich den Beutel weg und sehe mir erst einmal lange dieses Mädchen an, das mich noch nicht aufgegeben hat. Was für ein verqueres Glück! Es ist ein Holden-artiger Moment. Wie gerne würd ich jetzt die Tür zustoßen und Meredith in die Arme nehmen! Ihr jedes einzelne Kleidungsstück ausziehen und sie für immer in mein Gedächtnis brennen. Wenn sie morgen abreist, hab ich Angst, dass sie nie mehr zurückkommt oder ich in der Zwischenzeit sterbe und nie wieder die Gelegenheit bekomme.
»Hab ich dir je gesagt, dass ich dich liebe?« So, mit verstopfter Nase, klingt meine Stimme fremd und eigenartig.
Ohne den Blick von mir zu lösen, holt sie neun weitere identische Päckchen aus dem Beutel und legt sie neben mir auf die Bettdecke.
»Daniel Landon, wenn du wieder Nasenbluten kriegst, bevor du meine Geschenke ausgepackt hast, werd ich dir das nie verzeihen.«
Ich beiße das Band durch. Das Einwickelpapier klappt auf. Ich sehe eine Kassette mit einem schmalen, weißen Etikett. In Merediths seltsam schnörkeliger Schrift steht dort: DOKTOR SCHIWAGO, BAND 1.
»Du hast das Buch gelesen und aufgenommen?«
»Auf Englisch.«
»Dachtest du etwa, ich kann kein Russisch?« Ich halte das nächste Päckchen hoch. »Band zwei?«
Sie nickt und lächelt und lacht, alles gleichzeitig. »Es sind zehn. Juliann sagt, sie kann nichts mehr von Schneestürmen hören. Du kennst es doch noch nicht, oder?«
»Nein«, sage ich. »Die Frage ist nur, ob das für die neun Tage reicht, die du weg bist.«
Nach einem lauten Klopfen steckt Joe seinen Kopf kurz in den Türspalt und zieht ihn wieder zurück. Durch die geschlossene Tür sagt er: »Mom und Dad sind spazieren gegangen.« Kein so schlechter großer Bruder.
Als er das nächste Mal klopft, ist Meredith neben mir eingeschlafen. »Daniel«, raunt er, ohne die Tür zu öffnen.
Meredith dreht ihren Kopf auf meiner Schulter und küsst mich auf den Hals. »Tu so, als ob du schläfst«, flüstert sie.
Joes Stimme wird lauter. »Daniel. Sie sind zurück. Und Merediths Mutter hat angerufen.«
»Mist«, sagt Meredith und küsst mich erneut.
Als sie sich hochdrückt und über mich rutschen will, halte ich sie fest. »Warte. Ich hab ein Geschenk für dich.«
»Das merke ich.« Sie lässt sich passend auf mich absinken, ihre Zehen berühren meine nackten Knöchel.
»Nicht das.« Wir kichern, prusten und lachen. Als ich Salz schmecke, schiebe ich sie weg, greife mir ein Handtuch, halte es mir an die Nase und senke den Kopf. Wieder Nasenbluten. »O Gott, mit mir ist nichts anzufangen.«
Sie nimmt mich in den Arm. »Vielleicht bin ich ein Vampir.«
»Ja, das ist endlich mal ein tröstender Gedenke. Ewigkeit in Transsylvanien.«
Auf jeden Fall besser als Weihnachtsferien in Tappahannock ohne Meredith.
Während Joe Meredith nach Hause fährt, kümmert Mom sich um das zweite Nasenbluten. Diesmal ohne Geschrei. Erstaunlich, wie schnell sich ein Mensch anpasst.
»Sie ist ein nettes Mädchen«, sagt Mom.
»Nett – soll heißen: Nutze sie nicht aus?«
»Ich meinte nur«, sagt Mom, »dass sie das Herz auf dem rechten Fleck hat. Sie hat dich wirklich gerne.«
»Du meinst, es ist schwer zu glauben, dass ein Mädchen wie Meredith einen Jungen wie mich mögen kann?«, frage ich, verwirrt, dass Mom trotz ihrer Bemühungen, mich durch Isolation zu schützen, bereit ist, jemanden in den inneren Kreis zu lassen. Wäre sie genauso großmütig, wenn Meredith eine andere Art Mädchen wäre? Ist sie so großmütig, weil sie mir auf dem Sterbebett noch Glück verschaffen will? Wäre sie genauso verständnisvoll, wenn Meredith einfach nur das erste von vielen, vielen Mädchen wäre, die meine Loyalität meinen Eltern gegenüber untergraben?
Mom drückt meinen Kopf nach unten, um den Blutfluss zu stoppen. »Hör auf, die Böse in mir zu sehen. Ich habe das Nasenbluten nicht bestellt. Ich habe auch nicht ihren Vater angerufen und gesagt, dass er sie einladen soll.«
»Deswegen kann ich doch trotzdem sauer sein.«
Sie denkt nach. »Ja, okay, das ist wohl fair.« Sie macht Kreisbewegungen mit der Hand, die mich wohl ermutigen sollen. »Dann weiter, lass los. Was ärgert dich sonst noch?«
Plötzlich bin ich wieder der kleine Junge, dem die Mutter erlaubt zu jammern und zu klagen, weil er hungrig oder müde ist. Holden wäre das unendlich peinlich. Er würde flüchten. Selbst als Antolini die Grenze überschritt, hat Holden nicht gejammert. Er hat eine Entscheidung getroffen und danach gehandelt.
Mom legt meine Hand auf den Eisbeutel und zieht die Bettdecke glatt.
»Leg dich wieder hin«, sagt sie. »Misty empfiehlt zwei Tage Bettruhe.« Sie setzt sich hin und wartet, bis ich wieder liege, dann rückt sie noch mal den Eisbeutel und das Handtuch zurecht.
»Schimpf ruhig los, Daniel, ich hör zu.«
»Egal. Es ist ja nicht so, dass sie ganz nach Colorado umzieht. Es ist nicht für immer.«
»Nein«, sagt Mom. »Das ist es nicht.«