25
»Mister Wallace? Mister Trevor Wallace?« Die Frau, die im Türrahmen seiner Wohnung stand, begutachtete ihn vom Scheitel bis zur Sohle.
»Ja?«, erwiderte er und kickte die Tür mit dem Fuß auf, da er die Arme voller Bettwäsche hatte.
»Aber Sie sind ja noch so jung«, stellte sie mit gedämpfter Stimme fest.
Trevor trat erstaunt zurück, nicht, weil die Frau über sein Alter überrascht zu sein schien — sie war nicht viel älter als er — , wohl aber, weil sie die jüngere Ausgabe einer alten Freundin war. Die gleichen ernsten Augen, die zierliche Gestalt, die Gesichtsform, die Aura warmherzigen Vertrauens. Constance vor vierzig Jahren, ohne die Zuckerwatte-Perücke, das Puppengesicht und das Zittern in den Händen. Diese Frau war... hübsch. Ihre schlanken, manikürten Finger umklammerten eine nur zu vertraute Tasche: die Tasche aus Segeltuch, die mit den hellen Sonnenblumen bestickt war.
»Entschuldigen Sie bitte.« Die Frau streckte ihm ihre Hand entgegen. »Mein Name ist Susan Arnold. Ich glaube, Sie kannten meine Mutter, Constance Ebenezer.«
»Constance?« Trevor starrte immer noch auf die Tasche, die, wie ihm auffiel, verschlissener und verblichener aussah als zu dem Zeitpunkt, da er sie das letzte Mal gesehen hatte. »Ja... ich kenne sie.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich für ein paar Minuten hereinkäme?«, fragte sie.
»Oh, klar.« Trevor rückte zur Seite, damit sie an ihm vorbeikam. »Kommen Sie herein. Entschuldigen Sie bitte das Durcheinander. Ich ziehe um.«
Die Wohnung war in einem untypisch chaotischen Zustand: halb gepackte Kartons an ungünstigen Stellen überall im Wohnzimmer, in altes Zeitungspapier eingewickelte Teller auf dem Tisch. Er ließ die Bettwäsche von seinen Armen auf den Küchentisch fallen, räumte dann einen Stapel Handtücher weg, um auf dem Sofa Platz für sie zu schaffen. Jenseits des Panoramafensters rauschte der Bow River an ihnen vorüber, angeschwollen vom Frühlingsregen.
»Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Tee? Kaffee?«, fragte Trevor, wobei er sich nicht einmal sicher war, ob es in seinem Haushalt schon jemals Tee gegeben hatte. Er war gestern kurz losgelaufen, um frische Kaffeebohnen einzukaufen.
»Nein, vielen Dank. Ich hoffe, dass es nicht lange dauern wird.«
»Wie geht es Constance?«, fragte Trevor. »Ich habe seit einigen Monaten nichts mehr von ihr gehört. Ich nehme an, Sie wissen, dass Sie ihr ähnlich sehen.«
Die Frau zog ein Papiertaschentuch aus der Jackentasche und tupfte sich damit über die Augen. »Mister Wallace. Meine Mutter ist vor vier Monaten gestorben — an Weihnachten.«
»Oh.« Trevor brachte nur dieses eine Wort heraus. Als seine Eltern gestorben waren, hatte die Neuigkeit ihn überwältigt, wie der Tornado, der in dem einen Sommer durch ihre Farm getost war und alles aufgesaugt hatte, das ungesichert herumlag: Erde und Äste, Spielsachen und Arbeitsgeräte. Der Wind hatte auch aus ihm alles herausgesaugt, bis er nichts mehr fühlen konnte. Bjornes Tod hatte sein Herz umklammert wie ein Schraubstock. Aber diese Neuigkeit hier traf ihn wie eine gewaltige große Puderquaste, schüttete Wogen von nach Rosen duftendem Staub über sein Gesicht und seinen Nacken. »Oh«, sagte er noch einmal. »Das... tut mir leid.«
Gefühlswogen — Schmerz, Misstrauen, Widerwille — spülten nacheinander über das Gesicht der Frau und stauten sich schließlich zu einem ruhigen Bild der Selbstbeherrschung. »Ich werde gleich auf den Punkt kommen. Meine Mutter... sie... nun ja, sie hat in ihrem Testament eine merkwürdige Bitte geäußert«, sagte sie. »Sie bat uns — meine Brüder und mich — , Ihnen ihre Asche auszuhändigen.«
Trevor blinzelte. »Das hat sie getan?«
»Ja, und sie wollte, dass wir Ihnen diesen Brief geben.« Susan zog einen Umschlag aus der geblümten Tasche und hielt ihn ihm entgegen. »Keiner von uns hat ihn gelesen. Ich muss Sie aber darüber in Kenntnis setzen, dass meine Brüder und ich das Ganze eingehend besprochen haben. Ob wir ihren Wünschen entsprechen sollten. Wir hatten nie von Ihnen gehört. Und na ja, meine Mutter hat sich mehrere Jahre ganz irrational verhalten. Wir haben sie kaum zu Gesicht bekommen. Sie war für fast ein Jahr verschwunden. Meine Brüder und ich waren fürchterlich besorgt. Wir haben sie durch die Polizei suchen lassen... und es stellte sich schließlich heraus, dass sie auf Reisen gegangen war, ganz allein, um die ganze Welt.«
»Ja, ich weiß«, sagte Trevor.
Susan öffnete den Mund um weiterzusprechen, schloss ihn dann aber wieder. Sie stellte die Tasche mit den Sonnenblumen auf den Fußboden und räusperte sich. »Mister Wallace. Waren Sie und meine...« Eine leichte Röte legte sich auf ihre Wangen. »Welcher Art war die Beziehung zwischen Ihnen und meiner Mutter?«
Trevor brauchte einen Moment, um in vollem Ausmaß zu erfassen, welche Befürchtungen mit Susans Frage verbunden waren. Erinnerungen an Constance kamen ihm ins Gedächtnis: ihr Geplapper, ihre Flirterei, wie sie die Pyramide erklettert hatte und ihre Kleider dabei im Wind flatterten. Ihre zarten Finger, als sie die Deckel der Dosen öffnete, in denen ihre Jungs waren. Er lachte. Susan war schon halb aufgestanden, als sei sie bereit, jeden Moment zur Tür zu rennen.
»Ich... wir... Sie glauben, Ihre Mutter und ich seien ein Liebespaar gewesen?«, brach es aus ihm heraus.
»Wir hatten nicht die geringste Vorstellung, wer Sie waren«, wehrte sie sich. »Und sie hat Ihnen ihre sterblichen Überreste hinterlassen. Was sollten wir da denken?« Sie spitzte die Lippen und fummelte am Griff der geblümten Tasche herum.
»Ich denke mal, das ergibt Sinn.« Wie intensiv Susan ihn begutachtet hatte, als sie schockiert feststellte, dass er Jahrzehnte jünger war als ihre Mutter, ergab Sinn. »Seien Sie unbesorgt. Ich kannte Ihre Mutter nur ein paar Tage lang. Wir saßen zusammen in Kairo fest.«
»Das ist alles? Ein paar Tage in Kairo, und sie hinterlässt Ihnen ihre Asche?« Susan runzelte die Stirn und hatte ganz offensichtlich ihre Zweifel.
»Das ist alles. Und die Briefe. Sie hat mir Briefe geschrieben. Ich nehme an, dass sie mich gut leiden konnte.«
»Briefe?«
»Ja, ich hole sie. Sie können sie lesen, wenn Sie möchten.« Trevor holte das Bündel aus der Schreibtischschublade und gab die sechzehn Briefe Susan, die das Päckchen widerwillig anstarrte, bevor sie es sich auf den Schoß legte. »Sie sind nach Datum geordnet«, erklärte er. Sie zögerte immer noch, blickte zu ihm auf und dann nieder auf den Stapel, bevor sie das Gummiband entfernte. Sie öffnete den ersten Umschlag und fing an zu lesen.
Trevor machte mit dem Packen weiter, mit einem Ohr bei etwaigen Geräuschen von der Couch. Doch abgesehen davon, dass Papier raschelte, wenn sie Seiten umdrehte, las Susan schweigend und mit gesenktem Kopf. Trevor stellte Sachen heraus, die er auf der Farm nicht brauchen würde. Er dachte an seine Hanteln, die hinten im Schrank standen, und stellte sie zu dem Stapel der Dinge, die er verkaufen wollte, weil er nicht davon ausging, dass er ohne sie an einem Mangel an körperlicher Ertüchtigung leiden würde. Er und Angela hatten Nancy Bjornes Haus abgekauft; Angela hatte ihn davon überzeugt, dass die Blockhütte ihr Sommerhäuschen werden könnte oder — mit einem schelmischen Lächeln — ein Spielhaus für die Kinder. Er hatte den Vorschlag akzeptiert wie all die anderen, die sie ihm in den vergangenen zwei Monaten unterbreitet hatte, mit einem Sinn für Humor, der zwar neu für ihn war, ihm aber unerwartet leichtfiel.
Nach einer halben Stunde stellte er ein Glas Wasser auf den Beistelltisch, aber Susan las weiter, ohne eine Pause zu machen. Er war im Schlafzimmer und packte seinen Koffer mit zusammengefalteter Unterwäsche, als er einen Seufzer vernahm, der viel zu tief war für die zierliche Frau.
»Ich hatte keine Ahnung«, sagte sie.
Trevor kehrte zurück ins Wohnzimmer und setzte sich gegenüber von ihr nieder. Susan tupfte sich das Gesicht mit einem frischen Papiertaschentuch ab, die Briefe lagen über die Kissen verteilt.
»Wir hätten sie zurückgehalten«, sagte sie. »Und Vater war ein Ungeheuer.«
Trevor umschlang Susans Hand mit seiner. »Sie war eine tolle Frau«, sagte er.
»Ja, das war sie.« Sie schniefte. »Wussten Sie, dass sie Krebs hatte, Mister Wallace, Gebärmutterkrebs?«
Trevor schüttelte den Kopf. »Nein, ist sie daran gestorben?«
»Ja. Sie bekam die Diagnose und wurde ein paar Monate behandelt, bevor sie verschwand.«
Trevor streckte sich durch. Bevor sie verschwand? Das bedeutete... »Das hat sie mir nie erzählt«, sagte er leise.
Susan wandte sich wieder den Briefen und den dazugehörigen Umschlägen zu, sortierte sie wieder nach Datum und legte sie, als sie damit fertig war, in einem ordentlichen Stapel mitten auf den Sofatisch. »Ich möchte ehrlich mit Ihnen sein. Meine Brüder und ich haben entschieden herzukommen, um herauszufinden wer Sie sind und welcher Art Ihre Beziehung zu unserer Mutter war, bevor wir Ihnen Ihre sterblichen Überreste überlassen. Offen gesagt, wenn Sie ein Liebhaber gewesen wären, hätten wir wegen der Asche ihr Testament angefochten. Aber... nachdem ich diese Briefe gelesen habe...« Sie steckte ihre jüngere Hand in das Gepäckstück, wie er es Constance mindestens ein Dutzend Mal hatte tun sehen, und zog einen unscheinbaren Pappkarton heraus. »Nun... wir, ich möchte, dass Sie sie haben.«
»Nein, nein.« Er hob beide Hände, die Handflächen nach außen. »Behalten Sie sie. Sie sind ihre Tochter.«
Sie stellte den Karton auf seinen Schoß. »Sie wollte es so. Sie sind ihr Freund.«
21. Dezember 1985
Mein lieber Trevor,
da Sie diesen Brief lesen, wissen Sie, dass ich mich auf den Weg in mein bislang größtes Abenteuer gemacht habe. Eines, bei dem es keinen Reiseführer gibt — und meine teuerste Reise; sie hat mich alles gekostet, was ich in meinem Leben gespart hatte. Ich kann Ihnen keine detaillierten Wegbeschreibungen geben, aber eines Tages, davon bin ich überzeugt, werden wir wieder übereinander stolpern.
Ich entschuldige mich dafür, meinen Krebs für mich behalten zu haben. Ich wollte nicht, dass Sie Mitleid für mich empfinden oder sich Sorgen machen oder mich zurückhalten. Meine Krankheit hat mir den Mut und die Kraft gegeben, Risiken einzugehen. Die meiste Zeit meines Lebens bin ich den Fußstapfen eines Mannes gefolgt. Können Sie sich das Gefühl von Freiheit vorstellen, das ich empfunden habe, als mir klar wurde, dass ich allein durch die Welt kommen kann? Und ich wusste, dass die Konsequenzen meiner Freiheit, all die Schwierigkeiten, in die ich mich möglicherweise bringen würde, nichtig und bedeutungslos waren im Verhältnis zu der Reise, die mir bevorstand und die ich inzwischen angetreten habe. Ich möchte, dass Sie eines wissen, Trevor: Obwohl ich es nicht bis zur Spitze der Pyramide geschafft habe, bin ich glücklich gestorben. Sie haben mir geholfen, so weit zu kommen. Und ich gebe zu, dass es mir gefallen hat, eine Weile einen Mann an meiner Seite zu haben, der mir Starthilfe gegeben hat. Danke!
Sie fragen sich sicher, warum ich diese letzte Bitte an Sie richte. Dafür gibt es zwei Gründe. Sie haben mir erlaubt, meine Reisen mit einem anderen menschlichen Wesen zu teilen, drei großartige Tage lang und danach durch meine Briefe. Das hat mir viel bedeutet. Ich weiß, dass Sie mich für eine törichte alte Frau gehalten haben, doch haben Sie es niemals ausgesprochen, und dafür liebe ich Sie. Zweitens weiß ich, dass meine Kinder, möge der Himmel sie schützen, mich lieben, doch würden sie sich niemals darauf einlassen, die Aufgabe zu übernehmen, die ich von Ihnen erbitte. Ich weiß, dass Sie mich nicht im Stich lassen werden. Sie sind ein feiner Mensch unter Ihrer dürftigen Rüstung.
Als Anlage zu diesem Brief finden Sie Anweisungen für das Verstreuen meiner Asche und Geld für die dadurch entstehenden Auslagen. Ich bin sicher, dass Sie, wenn Sie dort ankommen, verstehen werden, warum ich mich für diesen Ort entschieden habe. Ein Nachbar hier in Sooke hat mir davon erzählt, ein ehemaliger Fischer.
Er hat mir gesagt, es sei ein Ort, an dem alles möglich ist.
Alles Liebe,
Constance
P.S.: Passen Sie mir gut auf diese nette Angela auf, mein lieber Junge. Ja?