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Trevor saß mit lang ausgestreckten Beinen im Sand, den Rücken an die Wand dessen gelehnt, was er in der Zwischenzeit den Wachraum getauft hatte. Da sie keine Fenster und ein Wellblechdach hatte, verströmte die aus Schlackenbeton gebaute Hütte Hitze wie ein Pizzaofen. Im Verlauf der letzten paar Stunden war die Sonne zentimeterweise aus dem Zenit gewandert, sodass sich inzwischen entlang der staubigen Wand ein schmales Band aus Schatten gebildet hatte, das ihm einen gewissen Schutz bot. Auf der anderen Seite der drei versandeten Treppenstufen faulenzte ein bewaffneter Wachmann vor der gleichen Wand und tat so, als sei Trevor überhaupt nicht da — zumindest, solange der nicht versuchte, das Gebäude zu betreten. Trevor hatte den Mann »G.I. Joe« getauft nach den Spielsoldaten, die Brent nach Hause geschmuggelt hatte, ohne dass ihre Vormunde etwas davon mitbekamen. An Samstagnachmittagen verwandelten die beiden Jungen das leere Grundstück neben dem Haus in Regina in ein Kriegsgebiet mit Schützengräben und Bunkern für ihre bewegungsunfähige und unzureichend große Armee.

»Weißt du, Joe«, sagte Trevor, »ich könnte ein Bier vertragen. Wie steht es mit dir? Eiskalt, frisch aus dem Kühlschrank. Ich habe eine Vorliebe für helles Bier. Gibt es hier in Ägypten helles Bier?«

Joe antwortete nicht. Er saß in buckliger Haltung an der Wand, der Kolben seines Gewehrs ruhte im Dreck. Gelegentlich zog er ein Päckchen türkischer Zigaretten aus seiner Brusttasche. In den letzten zwei Stunden hatte sich zwischen den beiden Männern eine angenehme Koexistenz entwickelt. Trevor fand ihre einseitige Konversation hilfreich, um sich die Zeit zu vertreiben.

»Kennst du den von dem Mann, der mit einem Pinguin den Zoo besuchen will, als sein Truck liegen bleibt?« Trevor bezweifelte, dass Joe überhaupt irgendetwas über Pinguine wusste, doch was machte das schon, der Knabe sprach ja auch kein Wort Englisch. »Naja, ein anderer Mann fährt vorbei und sieht den Mann und den Pinguin. Also...«

Die Tür ging auf. Joe ließ seine Zigarette fallen, sprang auf und nahm Habachtstellung ein. Trevor wand sich aus dem Staub auf die Füße. Ein großer, dünner Mann mit Schnurrbart rannte die Treppe hinunter, seine Stiefel klapperten auf jeder Stufe. Als Trevor versuchte, ihm um die Ecke des Gebäudes herum zu folgen, griff Joe nach seinem Arm.

»Was tut ihr der Frau da drinnen an?«, brüllte Trevor.

Minuten später kehrte der Mann zurück und balancierte dabei ein Tablett auf den Händen, auf dem eine Teekanne und eine Teetasse aus Porzellan standen und ein Keramikschälchen mit honigfarbenen Vierecken. Klappernd eilte er die Treppenstufen wieder hinauf und trat mit der Stiefelspitze die Tür auf. Als die Tür aufschwang, strengte Trevor sich an, in die dunkle Öffnung hineinzusehen, aber bevor sich seine Augen den veränderten Lichtverhältnissen anpassen konnten, wurde sie ihm auch schon wieder vor der Nase zugeschlagen. Joe ließ seinen Arm los, und Trevor sank zurück in den Dreck an der Wand.

»Tee, Joe. Sie trinkt mit deinen Kumpanen Tee. Quatscht ihnen die Ohren voll mit wilden Geschichten, und ich sitze hier draußen in der heißen Sonne und mache mir Sorgen über... über Folter.«

Verhör, das war das Wort, nach dem er gesucht hatte. Im wolkenlosen Himmel über ihnen bildete sich in weitem Bogen der Kondensstreifen eines Jets. »Ich wette, das ist mein Flugzeug. Auf dem Weg nach Nairobi. Eine simple Geschäftsreise. Falls dir jemals eine alte Frau mit einer rosafarbenen Perücke begegnen sollte, Joe, meide sie, meide sie wie die Pest.«

In einer Stunde würde die Sonne am Horizont versinken. Trevor überlegte, was für Möglichkeiten ihm blieben, falls Constance vor Sonnenuntergang nicht wieder auftauchte. Zwei Wildhunde, die Ähnlichkeit hatten mit den Kojoten, die er gelegentlich beim Joggen am Bow River sah, allerdings größere Ohren hatten, schlichen jenseits der Pyramiden am Rand der Wüste herum. Die Aasfresser beäugten ihn mit wachen Augen und offenkundiger Intelligenz. Gruselig. Möglicherweise Schakale. Wie der Mann mit dem Hundekopf im Museum. Auf der Suche nach einer freien Mahlzeit, einer herumliegenden Leiche. Ihm behagte die Vorstellung nicht, in der Dunkelheit mit ihnen zu tun zu bekommen, außerdem hatte er gehört, dass es nachts in der Wüste sehr kalt wurde. Ganz anders als in der Prärie im Sommer, wo die Quecksilbersäule des Thermometers zur Mittagszeit oben anschlug und nur ein Geisteskranker versuchte, in der Nacht mit mehr als einem dünnen Laken zu schlafen. Er und Brent hatten immer wach gelegen in der stickigen Hitze von Tante Gladys’ Dachzimmer und nicht gewagt, sich zu rühren oder etwas zu berühren unter dem Gewicht der schwülen Luft. Oder sie waren aus dem Fenster nach draußen geklettert, hatten sich aufs Dach gehievt und hastig die Dachspitze erklommen, weil sie wussten, dass es eine Tracht Prügel geben würde, wenn Onkel Pat sie erwischte. Die Dächer von Regina hatten ihnen zu Füßen gelegen, die Innenstadt in der Ferne ein funkelndes Lichtermeer. Sie hatten sich nach einer Brise, nach einem Windhauch gesehnt, der ihren schweißnassen jungen Körpern etwas Abkühlung verschaffen würde. In klaren Nächten, wenn das Sternenzelt in pulsierendem Licht über ihnen erstrahlt war, hatten sie auf dem Rücken gelegen und Namen erfunden für die einzelnen Konstellationen, Sternschnuppen gezählt und sich Geschichten über Außerirdische ausgedacht. Trevor hatte im Flüsterton gesprochen, aus Angst vor Onkel Pats Wut und Tante Gladys’ unvermeidlichem »Was würde deine arme, tote Mutter bloß dazu sagen?«. Brent hatte leichtsinnig laut geredet. Er hatte das Schicksal herausgefordert, hatte Onkel Pat provoziert, ihn zu finden, ihn vom Dach herunterzuzerren und zu verprügeln. Brent hatte immer gelacht, wenn Onkel Pat ihn schlug. Dessen Gesicht war von der Anstrengung und Wut immer ganz rot geworden. Am Ende hatte er den Stock hingeworfen, war aus dem Raum gestakst und hatte nach seiner Frau gebrüllt, damit die versuchte, irgendwie mit dem Jungen fertig zu werden. Sie waren aber nie erwischt worden, zumindest nicht, wenn sie nachts auf dem Dach gelegen hatten. Trevor fragte sich, ob die Sterne in der Wüste in einer anderen Farbe erstrahlten und ob er Orion würde sehen können.

Die Tür öffnete sich wieder. Ein anderer Wachmann, klein und von stämmiger Statur, klapperte die Treppenstufen herunter und baute sich vor Trevor auf. Wild gestikulierte er mit den Händen in Richtung der Segeltuchtasche, die neben Trevors Bein im Dreck lag, dabei quasselte er stakkatohaft auf Arabisch. Als Trevor die Tasche hochhob, riss der Mann sie ihm aus der Hand, drehte sich auf dem Absatz um und donnerte die Treppe wieder hinauf, die Tür hinter sich zuschlagend. Der Lärm verhallte in der Weite der Wüste. Die Touristen waren schon vor langer Zeit in ihrem voll klimatisierten Autobus davongefahren, der Wolken von Abgasen in die sengende Wüstenluft gespien hatte. Trevors Taxi war der einzige Wagen, der noch auf dem Parkplatz stand. Er hatte dem Fahrer zwanzig amerikanische Dollar dafür versprochen, im Notfall die ganze Nacht zu warten. Der Gauner hatte ihn auf vierzig hochgehandelt.

Zum dritten Mal wurde die Tür geöffnet. Einer der Männer trat nach draußen und bedeutete Trevor mit einer Gebärde hereinzukommen.

»Das wurde ja auch langsam Zeit«, murmelte er, als er an Joe vorbei die Treppen hinauf- und durch die offen stehende Tür ging. Es dauerte einen Moment, bis seine Augen sich an das gedämpfte Licht im Raum gewöhnt hatten. Die Einrichtung war ebenso trist wie die Wüstenlandschaft: ein grauer Tisch aus Metall, vier Metallstühle und ein Aktenschrank. Feiner Sand klebte in den Ecken der mit Khakifarbe gestrichenen Wände. Ein Ventilator, der zu schwach war, um für Erleichterung sorgen zu können, quälte sich, die Luft in dem engen Raum in Bewegung zu halten. Drei Männer kauerten wie Gespenster in einer Ecke. Von Constance fehlte jede Spur. Ihre Tasche lag offen neben der Teekanne auf dem Tisch. Einer der Männer, sein olivgrünes Gesicht glänzte vor Schweiß, zeigte auf den Fußboden, und vorsichtig trat Trevor einen Schritt vor, um etwas zu sehen.

Constance lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, die Perücke war ihr quer über ein Auge gerutscht. Sie sah aus wie eine Leiche. Unerwartet schnürte sich Trevors Kehle zusammen; heiß drückte es hinter seinen Augen. »Ihr Schweine«, murmelte er und lief über den Boden, um sich neben sie zu knien. Seine Finger schwebten einige Zentimeter über ihrem Körper, während er versuchte, sich an das zu erinnern, was er im Sportunterricht in der zehnten Klasse über Wiederbelebung mittels Mund-zu-Mund-Beatmung gelernt hatte, seinerzeit ein peinlicher Witz. Puls überprüfen. Atmung. Er legte die Spitzen seiner Finger auf die Seite ihres Halses, konnte aber keinen Puls finden. Sein eigenes Herz schlug ihm wild in der Brust. Er griff nach ihrer Hand, legte zwei Finger auf die Innenseite ihres schmächtigen Handgelenks, das ihn an die zerbrechlichen Gliedmaßen eines Vögelchens erinnerte, und war erleichtert, als er ein schwaches Pochen verspürte. Der Ägypter, der neben Trevor von einem Fuß auf den anderen trat, rieb sich nervös mit seinen dunklen Fingern über die Stirn.

»Was habt ihr der Frau angetan?«, insistierte Trevor.

Der Mann zuckte mit den Achseln, zeigte auf die Tasche auf dem Tisch und brabbelte etwas auf Arabisch.

»Constance?« Mit zitternder Hand berührte Trevor ihr Gesicht in der Erwartung, dass sich die faltige Haut trocken und rau anfühlen würde, doch sie war zart wie die eines neugeborenen Kindes.

»Constance?«

Ihr Name drang wie aus weiten Fernen an ihr Ohr, wie ein Vogel, der so weit entfernt von einem selbst vorüberflog, dass man nur das Flattern der Flügel sehen konnte. Vielleicht war es einer ihrer Ehemänner, der gekommen war, um sie abzuholen, nur konnte sie nicht feststellen, um welchen es sich handelte.

»Constance!«

Dann erkannte sie die Stimme — Trevor, ihr neuer Freund vom Flughafen, und sie erinnerte sich, dass sie in Ägypten war. Zitternde Finger schoben ihr ihre Perücke aus dem Gesicht. Sie versuchte, die Augen zu öffnen. Sie hatte ihm etwas Wichtiges zu sagen, konnte sich aber nicht mehr daran erinnern, was das war.

»Constance. Ich bin’s, Trevor.«

Sie zwang sich, ein Auge einen Spaltbreit zu öffnen, vor ihr erschien sein Gesicht wie durch Nebel.

Er legte ihre Hand in seine. »Sind Sie okay?«

Sie nickte schwach, kaum in der Lage, ihren Kopf zu bewegen, wenngleich sie den Raum und sein Gesicht allmählich deutlicher erkennen konnte.

»Sind Sie verletzt?«, fragte er. »Haben die Männer Ihnen wehgetan?«

»Nein«, stöhnte sie.

Er half ihr, sich aufzusetzen, und sprach mit jemand anderem im Raum. »Holen Sie Wasser, Tee, irgendetwas, was sie trinken kann.«

Sie wandte den Kopf. Beim Anblick der drei Männer, die sich das Ganze im Hintergrund ansahen, erinnerte sie sich, was geschehen war. Ein Gefühl von Panik erfasste sie, und sie umklammerte Trevors Hand. »Die Jungs, Trevor. Meine Tasche ist leer. Sie haben die Jungs gestohlen.«