9
»Ich kann sie nicht hier zurücklassen«, lamentierte Constance, als die Ägypter sie und Trevor zu ihrem Taxi eskortierten. Sie hatte sich solche Mühe gegeben, und nun sollten ihre Reise und ihre Pläne ruiniert werden. »Ich werde hier nicht Weggehen«, beharrte sie. Doch sie hatte keine Chance gegen zwei große, schwere Männer mit Waffen, und Trevor war ihr keinerlei Hilfe.
»Die haben Ihnen nicht wehgetan?«, fragte er zum dritten Mal. »Sie sind sicher, dass die Ihnen nicht wehgetan haben?«
Als das Taxi vom Parkplatz fuhr, fing sie an zu weinen und dachte an die Asche von Martin und Donald. Sie waren verloren, als Müll entsorgt auf einer Schutthalde oder hinausgestreut in die Sahara, wo sie nirgends ihre ewige Ruhe finden konnten. Die ägyptische Wüste war für Thomas ein passendes Endziel gewesen, für ihn war es angemessen und gebührlich, ein Reisender auf den Schwingen des Windes zu bleiben. Aber die beiden anderen waren so ganz anders veranlagt gewesen, beide Männer Gewohnheitstiere, die Sicherheit schätzten.
»Wohin fahren wir?«, fragte Trevor die Männer auf den Vordersitzen — den Fahrer und einen der Wachposten der Pyramiden-Anlage, dem man unerwartet befohlen hatte, sie zu begleiten. Keiner der beiden Männer antwortete. Aus dem Radio dröhnte Arabisch in der Geschwindigkeit einer Maschinengewehrsalve, untermalt von lauter, schriller Musik.
Sie ergriff das Papiertaschentuch, das Trevor ihr reichte. Er verhielt sich wie ein wahrer Gentleman, seit er sie in der Hütte vom Fußboden aufgelesen hatte. Sie war dankbar dafür, gleichzeitig versetzte sein Unwillen, die Männer wegen der Jungs zur Rede zu stellen, sie in Wut. »Was ist mit meinen Ehemännern?« Sie schnäuzte sich die Nase mit dem steifen, grauen Papiertaschentuch.
»Machen Sie sich keine Sorgen.« Er trommelte mit den Fingern auf die Armstütze. Jenseits des Wagenfensters wurde die dunkle Straße vom uringelben Glanz der Laternen erhellt. »Ich frage mich, wo — wie heißt er doch gleich, Abdul? — uns hinbringt.«
»Er heißt Haji«, blaffte Constance, verärgert über Trevors mangelnden Respekt. Haji und der andere Mann hatten sie gedrängt, ihnen zu erklären, was sich auf der Pyramide zugetragen hatte. Sie drohten ihr damit, Anzeige gegen sie zu erstatten, weil sie gegen die Bestimmungen verstoßen hatte, aber sie hatte sich nicht beirren lassen und sie abgespeist mit Geschichten über ihre Kinder und Kanada. Sie war stolz auf ihre Ausweichtaktik, fühlte sich wie eine Scheherazade der Neuzeit. Im Verlauf des Nachmittags hatte sie angefangen, Haji zu mögen. Er hatte ihr Tee und die honigfarbenen Vierecke gebracht, und sie hatten miteinander Karten gespielt. Sein Englisch, das er in der Schule gelernt hatte, war recht gut.
»Dann eben Haji«, blaffte Trevor zurück.
Für den Rest der Fahrt versank Constance in brütendes Schweigen, denn sie zerbrach sich den Kopf, um eine Lösung für ihre Situation zu finden. Vielleicht würde die Polizei ihr am Morgen helfen, die Jungs zu suchen. Es musste in Kairo eine kanadische Botschaft geben. Fünfundzwanzig Minuten später, als das Taxi vor dem Flughafen vorfuhr, stockte ihr das Herz.
»Das sieht vielversprechend aus.« Trevor öffnete auf seiner Seite die Tür. Haji drehte sich auf dem Vordersitz herum und hielt ihnen seine Hand entgegen. »Reisepass? Ticket?« Constance und Trevor sahen einander kurz an, dann händigten sie ihm widerwillig ihre Dokumente aus. Haji blätterte kurz darin und führte sie dann, ohne ein Wort zu sagen, vom Taxi in die Abflughalle und zum Schalter der East Africa Air, wo er sich mit dem Herrn am Abflugschalter beriet.
»Was macht der da?«, fragte Constance, während sie im Kreis um Trevor herummarschierte.
»Wenn wir Glück haben, schickt er uns nach Nairobi.«
»Ich kann die Jungs nicht hier zurücklassen«, jammerte sie und fühlte sich dabei wie ein ungebärdiges kleines Kind. Es kümmerte sie nicht. Ohne die Asche ihrer verbliebenen Ehemänner weiterzureisen, ergab überhaupt keinen Sinn.
Sie lauschte, als Trevor sich an den Schalter heranschlich und fragte: »Checken Sie uns ein nach Nairobi?«
Der Mann am Abflugschalter nickte und stempelte ihre Tickets.
»Wie viele Flüge nach Kenia gibt es eigentlich in der Woche?«, wollte Trevor wissen.
»Drei pro Tag«, antwortete der Mann und gab Haji die Dokumente zurück.
»Diese gottverdammten Lügner!«, sprudelte es aus Trevor heraus.
Haji reichte ihnen ihre Dokumente. »Sie verlassen Ägypten jetzt. Besuchen Sie uns wieder.« Er grinste und warf Constance’ Koffer auf das Gepäckband. Als er nach Trevors Handgepäck greifen wollte, kam Trevor ihm zuvor.
»Ich behalten.« Trevor klemmte sich sein Köfferchen vor die Brust.
Constance fand es empörend, dass er auf einmal auf dieses primitive Pidgin-Englisch zurückgriff. Unter anderen Umständen hätte sie ihm etwas über Manieren erzählt und über Respekt für andere Kulturen, aber jetzt hatte sie anderes im Kopf. Sie griff nach Hajis Arm. »Sie haben meine Behälter, eine Erdnussbut...«
»Lassen Sie uns gehen, Constance.« Trevor zog sie weg. »Unsere Maschine steht bereit. Lassen Sie uns gehen, bevor der seine Meinung ändert und uns ins Gefängnis steckt.«
Constance protestierte die ganze Zeit, während sie durch die Sicherheitskontrolle und durch die Transithalle gingen, wo sich eine Gruppe von Touristen mit Angestellten der Cairo Air zankte und sich auf einem Schreibtisch Reisepässe und Flugtickets häuften. Sie hörte, wie Trevor irgendetwas von Tourismus nach ägyptischer Art murmelte.
»Was haben Sie gesagt?« Constance hatte Mühe, sich aus seinem Griff zu befreien. »Und lassen Sie mich los. Ich kann hier nicht wegfliegen.«
Trevor nickte mit dem Kopf in Richtung Haji, der ihnen wie ein Schatten folgte. »Ich glaube nicht, dass wir eine andere Wahl haben.« Bestimmt führte er sie am Arm durch die doppelten Glastüren und über das Rollfeld zu ihrer Maschine. Haji folgte ihnen bis zum Fuß der Gangway und wartete, bis die Türen geschlossen waren und das Flugzeug anrollte, erst dann machte er sich auf den Rückweg zum Gebäude. Constance konnte ihn durch das Fenster sehen, konnte verfolgen, wie er in der Dunkelheit auf den Terminal zulief, eine einsame Gestalt, ihre letzte Verbindung zu Ägypten. Der Stein in ihrer Brust war so schwer, als habe der Tod ihr neuerlich einen geliebten Menschen genommen. Ein Gefühl, das mit keinem anderen zu vergleichen war.
Ihre Plätze waren in der Economy, und jeder Scotch kostete Trevor fünf Dollar, war das Geld aber wert; Constance hatte aufgehört zu weinen und presste die Stirn gegen das Fenster.
»Darf ich mir Ihre kleine weiche Bürste ausborgen?«, fragte er. »Meine Sachen sind voller Sand.«
Ohne ein Wort warf sie ihm die leere Tasche auf den Schoß, dann schmollte sie weiter. Er steckte die Bürste in die Sitztasche vor sich und schob die Segeltuchtasche mit dem Fuß unter den Sitz. Dann stand er auf, holte seinen Koffer aus dem Gepäckfach und platzierte ihn in dem engen Spalt zwischen seinem Magen und dem Vordersitz. Er zog den Reißverschluss auf. Leise summte er vor sich hin und bürstete dabei Sand und Staub von den beiden Plastikdosen, die in seinem Handgepäck gesteckt hatten, neben seiner Unterwäsche zum Wechseln. Constance starrte weiterhin aus dem Fenster, doch als Trevor begann, lauter vor sich hin zu summen, geschah, was er erwartet hatte: Ihr Atem wurde schneller, dann vernahm er einen quietschenden Laut, und im nächsten Moment schlang sie ihm die Arme um den Hals.
»Ein Dankeschön reicht völlig«, frotzelte er und war darauf vorbereitet, mit Lob überschüttet zu werden, aber stattdessen schlug sie ihm mit der Hand auf den Arm. »Autsch!« Er zuckte zusammen. »Wofür war das denn?«
»Das hätten Sie mir sofort sagen müssen, gleich bei den Pyramiden«, schimpfte sie, und ihre Lippen waren vor lauter Anspannung ganz dünn und weiß. »Ich habe mich fast zu Tode gesorgt, weil ich dachte, Donald und Martin verloren zu haben. Ich dachte, sie hätten sie gestohlen. Dass ich jetzt kehrtmachen und nach Hause fliegen müsste.«
»Passen Sie auf«, protestierte Trevor. »Ich wollte nicht, dass der alte Abdul und seine Kumpanen irgendetwas über die Asche erfahren. Wer weiß, sie hätten annehmen können, dass das Drogen sind, und Sie ins Gefängnis stecken können. Ich habe sie aus der Tasche herausgenommen und im Taxi gelassen.«
»Hmpf.« Sie ließ sich in ihren Sitz zurückfallen, die Arme vor der Brust verschränkt.
Trevor schnaubte vor sich hin. Sein Arm schmerzte. Sie hätte ihm zumindest danken können. Ihretwegen hatte er seine eigene Sicherheit aufs Spiel gesetzt, sie vor einer Zukunft bewahrt in einer verdreckten, von Ungeziefer verseuchten Zelle in irgendeinem gottverlassenen Gefängnis, mit ungewissem Schicksal. »Sie haben nicht das Recht, mich...«
Ein gedämpfter Laut vom Nebensitz machte seinen Einwänden ein Ende. Weitere Tränen. Die Passagiere, die auf der anderen Seite des Ganges saßen, starrten ihn an. Er schwieg; die arme Frau hatte genug durchgemacht, und er verstand ihre Seelenqualen. Ein weiterer Schluchzlaut presste sich durch ihre Lippen, dann ein dritter, und sie begann zu zittern, sacht und leise. Er fühlte sich hilfloser als in dem Augenblick, da ihr lebloser Körper vor ihm auf dem Fußboden des Wachhäuschens gelegen hatte. Er seufzte, nahm je einen Ehegatten in eine seiner Hände, blickte an die Decke und auf die ordentlich nebeneinander aufgereihten Knöpfe und Düsen und Lämpchen und sagte: »Es tut mir leid, ich...«
Sie gab abermals ein schniefendes Geräusch von sich, diesmal sogar noch lauter. Mitten im Satz hielt er inne und sah sie an. Sie hatte sich die Hand vor den Mund gelegt, und Tränen rannen über ihr Gesicht. Ein Laut, der dem Schreien eines Esels nicht ganz unähnlich war, brach zwischen ihren Fingern hervor. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass sie lachte.
»Sie hätten...«, stieß sie aus und schnappte dabei nach Luft, weil sie kaum in der Lage war, ein Wort herauszubringen, so sehr lachte sie. »Sie hätten diesen jungen Mann da oben auf der Pyramide sehen sollen. Der hat... gekeucht. Ich dachte, er würde rücklings Umfallen, als er sah, dass er eine Oma jagte.« Mit einer durchweichten Serviette tupfte sie sich das Gesicht ab. »Der arme Junge. Wussten Sie, dass kürzlich erst ein Tourist von der Pyramide gestürzt ist? Und ihr Präsident ist vor noch gar nicht langer Zeit ermordet worden. Kein Wunder, dass sie Waffen tragen.«
Trevor fing an zu verstehen, warum diese Frau so viele Ehemänner gehabt hatte. »Aber die sprachen doch gar kein Englisch. Wie haben Sie...«
»Haji schon. Er war auch ein ausgekochter Pokerspieler. Ich habe zehn Dollar an ihn verloren.«
»Sie wollen sagen, dass Sie Poker gespielt haben, während ich da draußen in dieser Hölle Panik hatte, dass Sie tot wären... oder Schlimmeres?«
»Es tut mir leid.« Sie nahm Donald und Martin aus Trevors Händen und stellte sie vor sich auf ihren Klapptisch. »Haji und seine Freunde waren bewaffnet. Das musste ich mir immer vor Augen führen.« Sie drückte seine Hand. »Ich wusste, dass Sie warten würden.«
Trevor schämte sich. Fünfzehn Minuten war das Taxi bereits auf der Straße Richtung Flughafen unterwegs gewesen, bis er den Fahrer angewiesen hatte, umzudrehen und zurückzufahren zu den Pyramiden und zu Constance. »Sie sind ziemlich fit für eine Frau Ihres...«
»Jazzercise. Jeden Dienstag und Donnerstag. Und danke, Trevor. Dafür, dass Sie die Jungs gerettet haben... und mich.«
Für einen Moment saßen sie schweigend da, das Summen der Düsenmotoren erfüllte die Stille.
»Ich hätte Sie nicht schlagen dürfen«, sagte sie.
»Kein Problem.« Trevor hob eine seiner Hände. »Das hatte ich verdient.«
»Nein«, widersprach sie. »Es tut mir leid. Ich verabscheue körperliche Gewalt.«
Aus dem Lautsprecher erklang knisternd die Stimme des Piloten, der verkündete, dass sie sich über dem Sudan befänden. Die Flugbegleiter würden gleich Snacks, Zeitschriften und Getränke austeilen.
»Donald hat mich geschlagen.«
»Wie bitte?«
»Donald. Er hat mich geschlagen«, wiederholte Constance. »Weil ich den Kindern neue Wintermäntel gekauft hatte. Können Sie sich das vorstellen?«
Dieses Geständnis machte Trevor sprachlos.
»Sie sind ein ordentlicher Mensch«, fuhr sie fort und vergaß, was sie soeben gebeichtet hatte, als sie in das Innenleben seines Handgepäcks schaute. Er folgte ihrem staunenden Blick auf die Unterhosen und die Socken, die gefaltet, nicht zusammengerollt waren, auf die Papiere, die er so gestapelt hatte, dass kein einziges Blättchen verrutschen konnte, auf seine marineblaue Kulturtasche längs daneben, die Stifte klemmten in dafür vorgesehenen Vorrichtungen unter der Oberseite des Koffers.
»Ich... ich denke mal, das stimmt. Ich habe es gern, wenn Dinge ihren Platz haben«, murmelte Trevor, den der abrupte Themenwechsel verwirrte. Er wollte ein paar Sätze zurück. Zu dem, was sie über Donald gesagt hatte. Über das Schlagen. Aber er wusste nicht, wie man sich durch die Intimität einer zwischenmenschlichen Unterhaltung manövrierte, durch das Labyrinth aus Vokalen und Konsonanten, Nomen und Adverbien und durch das verborgene Minenfeld aus ungesagten Worten und Schlussfolgerungen. Die traurige Schwere ihrer Worte war ihm ebenso vertraut wie sein eigener Handrücken, denn schließlich war er ja der Meister, wenn es um verdrängte Trauer ging. Er trug die verborgenen Narben von Onkel Pats Weidenstock, von Tante Gladys’ bissigen Worten. Vom erdrückenden Verlust seiner Eltern. Diese Gefühle gehörten ihm, nicht dieser kleinen, zarten, lebhaften Frau. Er wollte sie ihr wegnehmen und in seine ordentlich gepackte Tasche stecken, um sie vor diesem überwältigenden Quell des Elends zu retten. Aber er wusste nicht, wie. »Ja... ordentlich«, lautete sein kümmerlicher Kommentar.
»Jeder Mensch ist anders, nicht wahr?«, meinte sie frohgemut. »Donald war ein Ordnungsfreak. Bei ihm lag niemals etwas herum. Er beschwerte sich ständig über meine Unordentlichkeit. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, ihm zu sagen, dass er die verdammte Bude selbst aufräumen soll.« Sie lachte leise in sich hinein. »Und Thomas. Hoffnungslos, alles ein einziges Durcheinander, überall auf dem Boden Kleidungsstücke und Bücher. Er machte nie lang genug Pause, um aufzuräumen. Es ist ein Wunder, dass wir uns nie die Knochen gebrochen haben, wenn wir durch unsere Wohnung liefen. Hör auf, die Fußböden zu wischen, und lass uns tanzen gehen, hat er gesagt.«
Sie schüttelte den Kopf. »Lustig, nicht wahr? Ich war die gleiche Frau, habe die gleichen Dinge genauso gemacht, wie ich sie immer gemacht hatte, aber für jeden dieser beiden Männer war ich ein anderer Mensch. Martin und ich haben die Hausarbeit zusammen erledigt, was sehr viel mehr Spaß machte. Vergessen Sie das nie. Ich hoffe, Sie und Angela werden die Hausarbeit immer zusammen erledigen.«
»Hm, ich werde versuchen... das nie zu vergessen«, murmelte er. Angela war mit ihrem Umfeld ebenso nachlässig wie mit ihrem äußeren Erscheinungsbild. An dem Abend, an dem sie einander kennengelernt hatten, waren sie spät in der Nacht in ihre Parterrewohnung im Südwesten von Calgary gegangen. Während sie Knöpfe aufgeknöpft, Reißverschlüsse aufgezogen und sich gegeneinandergepresst hatten, hatte sie mit dem Fuß Kleidungsstücke und Papiere aus dem Weg ihres leidenschaftlichen Tanzes über den Fußboden zum Bett geschubst. Sie hatte sich nur aus der Umarmung gelöst, um sich kurz mit nackten Brüsten vorzubeugen und weitere Bücher, einen Stapel ungefalteter Wäsche und einen Teller mit einem angenagten Muffin auf den Boden zu werfen, bevor sie ihn auf das Gewirr aus Laken und Decken gezogen hatte. Seither hatte er immer dafür gesorgt, dass sie am Ende zu ihm nach Hause gingen. Er wusste nicht genau, warum er sich immer wieder mit ihr traf. Toller Sex? Sie hatte keinerlei Sinn für Mode, ihr Haar war immerzu zerzaust und fiel ihr ins Gesicht, und ihre Fingernägel waren kurz geschnitten. Er nahm nicht an, dass sie ein Bügeleisen besaß. Eines Abends, als er angeregt hatte, sie solle ein wenig Make-up auflegen und ein Kleid anziehen, hatte sie ihm scharf erklärt, mit Mascara und tiefem Ausschnitt gewinne man weder Gerichtsverfahren noch das Herz eines Mannes, und sollte sich das jemals ändern, würde sie beides aufgeben. Was alles noch schlimmer machte, war ihre Vorliebe für seltsame Speisengemische. Nach ihrem ersten Sex war sie in der Küche verschwunden und mit einem Mischmasch aus Erdnussbutter und Käse auf Brot zurückgekehrt. Als er so getan hatte, als müsse er würgen, hatte ihr Gesicht zu seinem Erstaunen einen enttäuschten Ausdruck angenommen.
»Hallo... kleiner Träumer«, sagte Constance bei dem Versuch, Trevors Aufmerksamkeit zu erregen; der Mann schien Meilen entfernt zu sein. Als er sich ihr endlich wieder zuwandte, sah er aus, als habe sie ihm sein Lieblingsspielzeug weggenommen. »Das Abendessen kommt.« Sie wies auf die Flugbegleiterin, die mit ihrem Essen im Gang stand. »Ich weiß nicht, wie es bei Ihnen war, aber ich hatte seit heute Morgen nichts als süßen Tee, Halva und Scotch.«
Trevor reichte ihr das Tablett. »Nicht zu vergessen, dass Sie auf eine fünfzig Stockwerke hohe Pyramide geklettert sind«, fügte er hinzu. »Wer ist als Nächster dran?«
»Um auf die Pyramide zu klettern?«
»Nein, welcher Ehemann?«
»Donald«, erwiderte sie. »Er war mein zweiter Mann. Ich weiß nur nicht, wo. Er war der Schwierige.«
»Schwieriger als Tom?«
»Sehr... viel schwieriger.« Sie hielt der Flugbegleiterin zwei Finger entgegen. »Könnten wir wohl bitte noch mehr Scotch bekommen?« Sie wollte nicht weiter über Donald sprechen. Sie hatte bereits zu viel über seine Grausamkeit gesagt, den körperlichen Missbrauch. Bis jetzt hatte sie noch keiner Seele von seinen Schlägen erzählt, nicht einmal Iris. Vielleicht wäre ja alles weniger schlimm gewesen, wenn er nicht in diesen Krieg gezogen wäre. »Er tanzte nicht«, sagte sie. »Wie konnte ich nur einunddreißig Jahre mit einem Mann verheiratet bleiben, der nicht tanzte?«
»Sie haben ihn aber verlassen«, sagte Trevor.
»Ja, das habe ich.« Diese vier kleinen Worte klangen so simpel. Ja, das habe ich. Nur hatte es Jahre gedauert, bis es so weit gekommen war. Sie hatte Geld vom Haushaltsgeld abgezweigt und es wie ein Eichhörnchen gehortet, bis der Tag gekommen war, an dem Susan aus dem Haus ging. Constance hatte ihre Taschen gepackt und war gegangen, ohne irgendjemandem ein Wort zu sagen, mit genug Geld in der Tasche, um es nach Victoria zu schaffen, wo Iris, ihre alte Freundin aus der High School, mit ihrem Ehemann lebte. Sie war neunundfünfzig Jahre alt gewesen und hatte weder irgendwelche Fähigkeiten noch eigene Mittel gehabt. Iris hatte ihr dabei geholfen, eine Wohnung zu finden und einen Job in einer Buchhandlung in der Innenstadt. Als die Scheidungspapiere eingetroffen waren, hatte sie mit einer Piccolo-Flasche Champagner gefeiert, die sie auf einer Holzbank geleert hatte, von der man auf die Juan-de-Fuca-Straße und die Olympic Mountains blicken konnte. Auf der Tafel, die am Rückenteil der Bank angebracht war, hieß es: In Gedenken an Joseph Smith, der das Meer liebte.
Trevor hob sein Glas. »Auf Ihre Scheidung.«
Sie stieß mit ihm an. »Auf meine Scheidung.« Sie nahm einen Schluck. »Donald hat sofort Anna geheiratet. Ich bin sicher, dass er nebenher schon was mit ihr hatte, bevor ich ihn verließ.«
»Mistkerl.«
»Ich mache ihm das nicht zum Vorwurf. Meine Einfahrt war ganzjährig geschlossen.«
Trevor verschluckte sich an seinem Scotch; die bernsteinfarbene Flüssigkeit schwappte ihm auf den Hosenstall.
»Sie sind viel zu verkrampft, mein lieber Junge«, meinte Constance mit einem Lächeln und reichte ihm eine Serviette.