Prolog
Sommer 1966
Ein Falke schwebt hoch über der Prärie und gleitet mit seinen rotbraunen Schwingen auf den Strömen warmer Luft. Unter ihm geht eine Gestalt einen überwucherten Feldweg entlang — auf bloßen Füßen, in einer zerlumpten, abgeschnittenen Jeans. Das Glitzern der Sonne spiegelt sich auf dem Eimer für Beeren in ihrer Hand. Der Falke stößt einen leisen, kurzen Ruf aus.
Das kleine Mädchen blinzelt in die Sonne empor, um zu sehen, ob der Raubvogel Beute trägt, doch seine Klauen zeichnen sich von seinem weiß gefiederten Bauch ab wie ein leeres, dunkles V. Der Sommer hat das Gesicht und die kernigen Glieder des Kindes mit der Farbe der Erde bemalt. In den beiden langen, geflochtenen Zöpfen, die ihm über den Rücken fallen, schimmern die Farben reifer Gräser. Die Luft ist erfüllt vom Duft nach Erde und vertrocknetem Unkraut. Beim Nahen seiner Schritte zirpen die Heuschrecken und fliegen davon. Ebenso wie die Mäuse und die langbeinigen Präriehasen, nach denen der Falke Ausschau hält, verschmilzt das Mädchen mit der Landschaft, die es durchstreift. In der Ferne erhebt sich eine Blockhütte über einem Flussbett, in dem sich Pappeln und Weiden wiegen. Saskatoonbüsche versprechen dem Mädchen für den Abend einen Kuchen mit blauvioletten Beeren.
»Nimm dich in Acht vor Klapperschlangen, Angela«, hatte ihre Mutter sie gewarnt, als sie ihr den Eimer für die Beeren gab. Letzten Dienstag hatte ihr Vater auf dem Heuboden eine Schlange getötet, die einen Meter lang war. Sie trauert um das Reptil und seine fein geschuppte Haut. Wie der Falke sucht sie mit den Augen die Graslandschaft — ihre Heimat — nach den geringsten Bewegungen ab und horcht auf das leiseste Geräusch: ein verletzter Keilschwanzregenpfeifer, ein verwaister Dachs oder fliehender Fuchs, ein Erdhörnchen, das nicht zu seinem Bau zurückfinden kann. Sie erinnert sich an die Geschichten ihrer Großmutter über große Herden von Bisons und Antilopen. Über die Vernichtung und das sinnlose Abschlachten. Hätte sie vor langer Zeit gelebt, so hätte sie ihnen Zuflucht gewährt. Keine Gewehre, keine Pflüge. Nur die Prärie und ein kleines Mädchen, das sie beschützt.
Sie steigt hinab in das Flussbett, in den Schatten der Bäume und in die feuchte Luft über dem fließenden Wasser. An einem Ende der Schlucht sprudelt ein Bach aus dem steinigen Grund, um am anderen Ende wieder zu versickern. Sie kühlt die ledrigen Sohlen ihrer Füße im Wasser und sucht nach Fröschen, die im Morast und im nassen Gras schlafen. Dann macht sie sich an ihre Arbeit.
Die ersten reifen Beeren prasseln auf den Boden des Zinkeimers, danach fallen sie lautlos. Ihre Hände und ihr Mund werden vom warmen Saft der Früchte ganz blau. Wieder entstehen in ihrem Kopf Traumbilder vom alten Gehöft ihrer Großeltern, das genau über dem Flussbett liegt: Sie stellt sich vor, in der Pionierzeit zu leben und in einem Ochsenkarren über das flache Land zu holpern, eine angebundene Kuh im Schlepptau.
Als der Eimer voll ist, geht sie den gleichen Weg zurück und schwingt dabei den Eimer dreimal in einer kreisenden Bewegung gen Himmel — wie immer überrascht, dass sich die Beeren nicht in einem blauen Regen über ihren Kopf und ihre Schultern ergießen. Plötzlich lässt sie ein leiser Schrei wie angewurzelt stehen bleiben. Sie stellt den Eimer neben einen Salbeibusch und rennt hinter die Blockhütte, obwohl es unter ihren Füßen sticht und kribbelt. Ein kleiner Fuchs? Ein Hündchen? Oder ein entlaufenes Kätzchen von einer der Nachbarfarmen? Im Hohlraum zwischen dem Boden der Hütte und der Erde entdeckt sie Steine, eine verrostete Handsense und einen Holzstuhl ohne Lehne; auf der anderen Seite schlägt das sonnendurchflutete Gras sanfte Wellen. Hinter dem kaputten Stuhl ertönt wieder ein Schrei. Sie schlängelt sich darauf zu und denkt weder an Schlangen noch an den Zustand ihrer Kleidung.
Ein Kojotenwelpe hat sich im Schmutz zusammengerollt, den Kopf auf dem Boden. Die Brust hebt und senkt sich rasend im Takt seines flatternden Atems. Das Weiße in seinen Augen flackert, seine spitzen Ohren zucken, das samtige Fell am linken Ohr ist aufgerissen, Blut rinnt herab. Schaum steht vor dem Maul mit den scharfen Zähnen, und eine fingerbreite Wunde klafft von seinem Nacken bis zur Schulter. Der Gestank von gerinnendem Blut tränkt die Luft. Leichte Beute für den Falken. Das Tier hat vielleicht Knochenbrüche.
Sie greift mit der Hand nach dem Kojoten, was er damit beantwortet, dass er zubeißt, sich aufrappelt und davontorkelt, hinaus ins Tageslicht. Rückwärts krabbelnd befreit sie sich aus der Enge unter den Bodenbalken. Sie rennt um die Blockhütte herum zu der Stelle, an der das Tierchen zusammengebrochen ist. Sie kniet nieder und legt ihre Hand auf die Brust des kleinen Kojoten. Sein Herz schlägt schwach und rasend schnell unter ihren von der Sonne gebräunten Fingern. Mit beiden Armen hebt sie den schlaffen Körper vom Boden, formt aus dem unteren Teil ihres T-Shirts eine Schlinge und macht sich auf den Heimweg. Sie widersteht der Versuchung zu rennen. Erst als sie durch das Tor zum Hof der Farm tritt und sieht, wie ihr Bruder neben der Scheune am Motor eines Traktors bastelt, erinnert sie sich an die Beeren.