10
Alberta, Winter 1985
Wie ein gewaltiger, von Menschenhand geschaffener Raubvogel kreiste die Boeing 747 über die schneebedeckte Prärie Albertas, in deren Mitte die Stadt Calgary mit ihrem einsamen Tower und der Traube von den Hochhäusern in der Innenstadt wie festgepinnt war. Trevor hatte die Stirn gegen das ovale Fenster gepresst und suchte mit den Augen am Nordwestufer des Bow River nach dem dreistöckigen Gebäude ohne Fahrstuhl in Sunnyside, das er sein Zuhause nannte. Er war nicht einmal eine Woche weg gewesen, doch hatten ihn die unerwarteten Ereignisse, die diese Geschäftsreise zu etwas gemacht hatten, was sie deutlich von anderen unterschied, erschöpft und aus dem Gleichgewicht gebracht. Deshalb war er sogar noch dankbarer als sonst, unter sich das vertraute Flechtwerk der Straßen zu sehen und zu wissen, dass er bald, nach einer wohlverdienten Dusche, lang ausgestreckt auf seinem eigenen Bett liegen würde und geordneten Gedanken über ein normales Leben nachhängen konnte.
Die vergangenen paar Tage waren alles andere als normal gewesen, als sei er in eine bizarre unterirdische Welt hinabgestürzt, in der die Menschen Waffen trugen und in der der Gauner in Gestalt einer alten Frau auftauchte, die einen auf die Palme brachte. Allerdings sein eigener Fehler. Er rieb mit einer Papierserviette an dem nervigen Lippenstift-Schmier auf seinem Hemdsärmel herum und fragte sich, wie er bloß seiner Kardinalregel hatte untreu werden können. Sprich nicht mit fremden Leuten.
Abgesehen von der Schneedecke und dem Geflecht aus Straßen, von denen die eintönige Landschaft durchwoben wurde, erinnerte Trevor die Prärie aus der Luft an die Savanne in Kenia. Vor achtundzwanzig Stunden hatte er Constance Ebenezer über die Schulter geschaut, als sie im Morgengrauen den Flughafen von Nairobi angeflogen waren. Die alte Dame war nur mit Mühe und Not in der Lage gewesen, ihre Erregung zu zähmen, als sie auf die Giraffen — für ihn sahen sie aus wie Bäume — gezeigt und vor Begeisterung über die rote Erde laut aufgeschrien hatte. Sie hatte darauf beharrt, Schnee auf dem Gipfel des Mount Kenia gesehen zu haben, dessen seitlich sacht abfallende Ausläufer und die aus drei Spitzen bestehende Kuppe weit in der Ferne halb von einer Wolke verdeckt wurden. Am Horizont hatte eine riesige, melonengelbe Sonne den Himmel im Osten orangerot gefärbt, als sie mit ihrem Gepäck in einer Ankunftshalle gestanden hatten, die sich mitten auf freiem Feld befand. Trevor hatte nach einem Weg gesucht, sich zu verabschieden, und dann etwas getan, was so überhaupt nicht seiner Art entsprach; er hatte ihr eine Visitenkarte gegeben, auf deren Rückseite er seine Privatadresse und Telefonnummer gekritzelt hatte. Sie hatte ihn auf die Wange geküsst, als ein Straßenverkäufer mit Constance’ Kamera ein Foto von ihnen schoss. Bevor er sich von der Geste der Zuneigung hatte erholen können, war sie auf den Linienbus zugelaufen, eine uralte Diesel-Klapperkiste, die vollgepackt war mit Kisten und Hühnern. Er hätte schwören können, im Inneren eine Ziege meckern zu hören. Schwarze Gesichter mit dunklen Augen hatten an den Fenstern geklebt; Menschen hatten im Schneidersitz auf dem Wagendach gesessen, auf den Stoßstangen balanciert und halb aus der Tür herausgehangen. Er hatte sie aufgehalten, ein Taxi herbeigewunken und dann dagestanden, unsicher, mit gehobener Hand, als ihr Taxi hinausgedonnert war in den afrikanischen Morgen — mit einem dicke Abgaswolken speienden Auspuff.
Trevor zog seinen Sicherheitsgurt fest und umklammerte die Armstützen, da das Flugzeug mit dem Landeanflug auf den Flughafen von Calgary begann. Die zerklüftete Silhouette der Rocky Mountains erstreckte sich am westlichen Horizont. Das Gefühl der Einsamkeit, das an ihm nagte, seit sie sich voneinander verabschiedet hatten, hätte eigentlich in der Zwischenzeit im umhüllenden Falz der Zeit verschwunden sein müssen, doch fragte er sich unentwegt, wo Constance jetzt wohl gerade sein mochte. Er erinnerte sich an die letzten Worte, die sie zu ihm gesagt hatte. Als sie in das Taxi geglitten war, hatte er ein unbeholfenes »Passen Sie gut auf sich auf« über die Lippen gebracht. Sie hatte sich aus dem Fenster gebeugt und die behandschuhten Finger über den Türrand gelegt, ihr Haar hatte ausgesehen wie ein Heiligenschein, der von der Morgensonne hinter ihr beleuchtet wurde. Auf ihrem Gesicht hatte ein nicht zu entschlüsselnder Ausdruck gelegen, als sie gesagt hatte: »Nein, Trevor Wallace. Man muss was riskieren.«
Trevor, der die Armstützen so fest umklammerte, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten, lockerte seinen Griff, als das Flugzeug ausrollte und zum Stillstand kam. Landungen waren angenehmer als Starts, und dieser Flug hier brachte ihn zumindest nach Hause. Er schnappte sein Gepäck und reihte sich ein in die Schlange der anderen Passagiere, die durch den Gang in die Ankunftshalle liefen. Als er sich vor den Gepäckbändern seinen Weg durch Berge von Koffern und wartende Reisende bahnte, hielt er die Augen dabei gesenkt und mahnte sich zur Achtsamkeit. Diesmal keine Fehler machen. Ein Moment der Unachtsamkeit war sein Niedergang gewesen. Im buchstäblichen Sinne.
Der Beamte der kanadischen Zollbehörde schlug Trevors Reisepass auf, setzte seinen Stempel hinein und gab ihn zurück. »Willkommen daheim, Mister Wallace.« Fast hätte Trevor dem Mann die Hand geküsst. Wieder in der Zivilisation zu sein war eine wunderbare Sache. Seines Erachtens durfte er sich glücklich preisen, nicht in einem ägyptischen Gefängnis vor sich hin zu siechen.
Trevor konnte es nicht erwarten, draußen in der klaren Luft von Alberta zu sein. Das Einzige, was ihn davon abhielt, die letzten paar Schritte zu den automatischen Ausgangstüren zu rennen, war ein Knubbel unter seinem linken Fuß. Er blieb stehen, schlüpfte heraus aus dem Schuh, der ihn plagte, und entdeckte einen Teelöffel Sand, ein Souvenir aus der Sahara. Als er die feinen, blassgelben Körner in den Abfalleimer rieseln ließ, lächelte er, zuckte mit den Achseln, und dann lachte er.
Draußen vor dem Terminal preschte der Winterwind auf Trevor ein; die trockene Präriekälte ließ ihm den Atem stocken. Er winkte ein Taxi herbei. Die Minustemperaturen waren nahezu eine willkommene Erleichterung nach der Wüstenhitze, nur war er zu dünn angezogen. Er stellte den Kragen hoch und war froh, in das warme Taxi schlüpfen zu können. Auf der Fahrt ins Stadtzentrum verlagerten sich seine Gedanken von den Ereignissen der letzten paar Tage auf die Aufgaben, die vor ihm lagen. Zuerst schlafen. Morgen Lebensmittel einkaufen, Wäsche machen, Angela anrufen und einen Verkaufsbericht über die Reise schreiben. Er würde einige Details auslassen müssen. Andy würde ihm die Geschichte niemals abnehmen. Vielleicht war die ganze Sache nur ein böser Traum, den verdorbenes Essen oder der Jetlag ausgelöst hatten. Zurück zu traumlosen Nächten und ereignislosen Tagen. Gott sei Dank. Und Constance Ebenezer? Eine sonderliche, entzückende Frau. Doch würde er niemals wieder von ihr hören, davon war er überzeugt. Als das Taxi vor seiner Wohnung vorfuhr — der gefrorene Bow auf der anderen Seite der Straße bot einen beruhigenden Anblick waren ihm seine Gedanken an Constance entglitten, wie der Sand aus seinem Schuh in den Mülleimer gerieselt war, waren hinabgeglitten in die dunkle strudelnde Leere seiner Erinnerung — zusammen mit den Erinnerungen an all die anderen Menschen, die es je in seinem Leben gegeben hatte.
Durch das überfüllte Café bahnte Angela sich ihren Weg zu ihm, und ihr Gesicht glühte von der Kälte draußen. Das blonde Haar war unter einer Wollmütze hochgesteckt, den ramponierten Aktenkoffer hielt sie unter dem Arm. Aus irgendeinem Grund war er stärker als sonst bestrebt gewesen, sich mit ihr zu treffen, und hatte sie noch am gleichen Tag angerufen, an dem er zu Hause angekommen war. Sie war jedoch mit einem Fall beschäftigt gewesen, sodass sie über eine Woche gebraucht hatten, um dieses kurze Treffen auf eine Tasse Kaffee zu arrangieren.
»Hi.« Angela ließ sich auf den Stuhl fallen, der seinem gegenüberstand.
Sie schien glücklich zu sein, ihn zu sehen. Er verspürte einen ungemeinen Drang, sich über den Tisch zu beugen und sie zu küssen, aber so etwas zu tun, wäre ungewöhnlich gewesen, zumindest ungewöhnlich für sie. Er lächelte träge zurück und fragte: »Wie geht es dir?«
»Viel zu viel zu tun.« Sie befreite sich aus ihrem Mantel. »Ich habe so viel Arbeit, dass ich fast den Überblick verliere. Aber hey, schön, dich zu sehen.« Sie bestellte bei der Kellnerin einen Kaffee und lehnte sich zurück. »Wie war deine Reise?«
»Wild.«
»Wild? Passt gar nicht zu dir.« Sie zeigte auf das Stück Karrottenkuchen, das vor Trevor auf dem Tisch stand. »Darf ich?« Als er nickte, schabte sie mit dem Löffel eine Ecke ab und steckte das Stückchen in den Mund, an ihrem Mundwinkel blieb ein bisschen von der Käsecremeglasur hängen.
Trevor wollte sich Vorbeugen und es wegwischen, eigentlich hätte er es am liebsten heruntergeleckt, stattdessen zeigte er auf seinen eigenen Mundwinkel. »Glasur.«
»Oh, danke.« Angela leckte sich den weißen Schmier mit der Zungenspitze herunter, ein Akt, der Trevors Blut leicht in Wallung brachte. »Also, wirst du mir erzählen, was wild bedeutet?«
»Es war in Wahrheit gar nicht so wild. Nur ein unerwarteter Zwischenstopp in Kairo.«
»Hast du dir irgendetwas Interessantes angesehen?«
»Die Pyramiden«, antwortete er, während ihm plötzlich ein Bild vor Augen stand: Constance auf der Cheops-Pyramide. Es war das erste Mal, dass er an sie dachte, seit er wieder zu Hause war. »Und das Museum, mehr nicht.«
»Hört sich für meine Ohren nicht unbedingt wild an.«
»Ich bin von einer alten Frau gelöchert worden, die mich einfach nicht in Ruhe lassen wollte«, sagte er. »Und in dem Museum hatten sie einen Gott mit einem Hundekopf und dem Körper eines Mannes, der dein Herz wiegt, wenn du stirbst, um festzustellen, ob du dich für den Himmel qualifiziert hast.«
»Bizarr.« Angela nippte an ihrem Kaffee. »Ich mag diesen ganzen Kram, weißt du, diese Rituale und diese sonderbaren übermenschlichen Wesen.«
»Nun, Kairo hättest du nicht gemocht«, sagte er. »Dreckig, überall bewaffnete Soldaten und Leute, die versuchen, dich über den Tisch zu ziehen.«
»Vielleicht doch«, erwiderte sie. »Aber da komme ich ja eh nie hin bei all der Arbeit, die ich habe.« Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Scheiße, ich habe in fünfzehn Minuten eine Besprechung. Tut mir leid, ich muss los.«
»Jetzt schon?« Trevor fühlte sich bei dem Gedanken, dass sie schon wieder ging, auf sonderbare Weise unbefriedigt. »Willst du später vorbeikommen?«
Sie war schon dabei, ihren Mantel wieder anzuziehen, hatte den Kaffee nur halb getrunken. »Ich glaube nicht, dass ich das die nächste Zeit hinkriege.« Sie setzte ihre Mütze auf. Ein paar dünne Haarsträhnen ragten unten heraus wie eine Handvoll Stroh. Sie streifte sich ein Paar wuchtige Handschuhe über, die aussahen, als seien sie selbst gemacht. »Ich rufe dich am Wochenende an, aber verlass dich auf nichts.« Sie warf einen Geldschein auf den Tisch, neigte den Kopf und sah ihn eingehend an. »Du siehst aber gut aus, muss ich sagen, irgendwie... entspannt oder so.«
Trevor blieb sitzen, und sie verschwand durch die Tür. Er wollte aufstehen und ihr nachlaufen, wollte, dass sie den Tag miteinander verbrachten, aber auch damit hätte er gegen die Regeln verstoßen, gegen ihre Absprache. Er hatte vor ihr andere Freundinnen gehabt, nie länger als ein paar Monate, und er hatte jedes Mal den Fehler begangen, zu schnell eine feste Beziehung daraus machen zu wollen. Jede der Verbindungen hatte für ihn mit Liebeskummer geendet, während die jeweilige Frau das Ende offenbar als Erleichterung empfunden hatte. Als er Angela begegnet war, schien sie ebenso wie er äußerst bedacht auf eine lockere Beziehung zu sein.
Trevor legte noch ein wenig Kleingeld zu dem Schein, der auf dem Tisch lag, und ging zu seinem Wagen. Die Straßen waren vereist und spiegelglatt, der Wind so kalt, dass er sich schützend die Hände über die Ohren legen musste. Bis jetzt hatte ihr Arrangement gut funktioniert. Er wollte nichts versauen. Als er den Motor anließ, übertrug das Autoradio eine Wiederholung des Eishockey-Spiels von der vergangenen Woche; er drehte die Lautstärke hoch und lauschte auf dem ganzen Weg nach Hause zu seiner leeren Wohnung.
Trevors Leben verlief bald wieder nach vertraut bequemem Muster. Arbeit, Sport, Hockey Night in Canada und gelegentlich ein Abend mit Angela. Wenn keine Geschäftsreisen anstanden, hielt er sich in der Firma da auf, wo die Inlandsverkäufe abgewickelt wurden, wie er es schon seit fünfzehn Jahren tat, seit er von Regina hergezogen war und die Geschäftsstelle gewechselt hatte. Sein Aufstieg vom Hausmeister und Laufburschen zum Verkäufer und seine Versetzung nach Calgary hatten jeden überrascht, nicht zuletzt ihn selbst, der kurz vor dem Abitur bei Forrester den Sommerjob als Hausmeister angenommen hatte und sieben Jahre später immer noch dort arbeitete. Nachdem man ihn hin und wieder gebeten hatte, auf der Etage mit den Verkaufsräumen auszuhelfen, stellte sich heraus, dass er über ein Verkaufstalent verfügte, das bisher im Verborgenen geschlummert hatte. Es dauerte nicht lang, und er konnte die technischen Daten von einem Dutzend Traktormodellen herunterrattern: Motorleistung, Hubraum, Getriebe, Zugmodus, Zugleistung, Reifenprofil; und all das, obwohl sich die Mechaniker in der Firma alle weiterhin darüber lustig machten, dass Trevor nicht einmal in der Lage war, auch nur eine Zündkerze auszuwechseln. Als die Stelle für die Internationalen Verkäufe in Calgary vakant geworden war, hatte der Firmenmanager ihn dazu überredet, sie anzunehmen. Trevor hatte Zweifel gehegt wegen der vielen Reisen und der damit einhergehenden Unterbrechungen seiner Routine, doch die Gehaltserhöhung und die verbesserten Sozialleistungen waren zu verlockend. Er stellte fest, dass er, wenn er seine Reisen effizient plante, immer noch die meiste Zeit zu Hause sein konnte.
Anfang März kehrte Trevor von einer anstrengenden Reise nach Südamerika zurück und fand einen Luftpostumschlag, der zusammen mit einem Stapel Rechnungen und Werbesendungen durch den engen Schlitz des Metallbriefkastens in der Eingangshalle seines Wohnhauses gedrückt worden war. Er warf den Haufen Post auf seinen Schreibtisch, duschte und ging zu Bett. Er schlief bis Mittag und joggte dann eine Stunde am Fluss entlang, sodass er sich erst nach dem Abendessen mit einem Glas Wein an seinen Schreibtisch setzte, während im Fernsehen die Lokalnachrichten liefen. Vor ihm tat sich das Wochenende auf. Jede Menge Eishockey. Die Entscheidung um den Stanley Cup stand an: Heute Nacht spielte Calgary gegen Edmonton. Vielleicht würde er Angela auf einen Drink einladen, vorausgesetzt, das Spiel ging nicht in die Verlängerung.
Er sah durch den Stapel Post, bis er den Briefumschlag fand, auf dem seine Adresse in Handschrift stand und eine Briefmarke aus Nairobi klebte, die am fünfzehnten Februar abgestempelt worden war — vor bald einem Monat — , kein Absender. Er begutachtete den Umschlag, verwirrt, weil der Brief einen so persönlichen Eindruck machte. Kunden kontaktierten ihn niemals zu Hause; er weigerte sich, Geschäftspartnern seine privaten Kontaktdaten zu geben. Die Arbeit blieb im Büro. So wollte er das. Ein persönlicher Brief, der an ihn adressiert war, kam mehr als selten vor; so etwas wie das hier hatte es noch nie gegeben.
Er schnitt den Umschlag mit einem Brieföffner auf. Drei Dinge fielen auf den Schreibtisch: zwei Fotos und ein zusammengefaltetes, zartes Blatt Papier. Ein Hauch von Parfüm wehte ihn zurück auf den Flughafen von Nairobi, hinein in die übermäßige Hitze der aufgehenden Sonne, den Lärm der Menschen, die überfüllten Busse, den Rosenduft, der zusammen mit einem Lippenstiftfleck auf seiner Wange klebte. Mitten hinein in den Moment, da Constance in das Taxi stieg und das von Tränen benetzte Taschentuch aus dem Fenster herausflatterte, als sie sich auf den Weg machte zum Jacaranda Hotel und — wie er gedacht hatte — auf den Weg heraus aus seinem Leben. Er konnte nicht anders, er musste lächeln. Er hatte nicht erwartet, jemals wieder von ihr zu hören.
Er nahm das erste Foto in die Hand. Ein afrikanischer Krieger schwebte mitten in der Luft, etwa dreißig Zentimeter über dem Boden, und von den Schultern bis zu den Lenden war ein rot und orange bedruckter Stoffstreifen um seinen muskulösen Körper gewunden. Auf seinem Schädel thronte ein Kopfputz, der aussah wie eine Löwenmähne, und sein dunkles Gesicht war mit roten Flecken beschmiert. Seine Beine waren mit einem aufwendigen Muster aus Linien und Spiralen bemalt, Metallglöckchen hingen an seinen Oberschenkeln und an seinen Knöcheln. Seine Lippen waren geöffnet, als singe er gerade, und um seinen Hals baumelte eine Kette aus roten und gelben Perlen, die ihm quer über den vom Schweiß glänzenden Oberkörper reichte. Sein linker Arm lag starr an seiner Seite, während zwischen seinem rechten Arm und seinen Rippen ein Gegenstand klemmte. Trevor drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand mit krakeliger Schrift, die er kaum entziffern konnte: Michael mit Martin und Donald. Trevor drehte das Foto wieder um und sah sich den Krieger noch einmal genauer unter einer Lupe an. Zwei Plastikdosen klemmten in der Armbeuge des Kriegers.
Das zweite Foto war ein Schock. Ein Traktor — einer seiner Traktoren — , ein International Harvester, Modell Nummer 1066, Jahrgang 1966, rot und weiß, stand am Rand eines Felds. Dort stand er schon seit langer Zeit; hochgewachsene Halme vertrockneten Grases verdeckten die wuchtigen Reifen. Constance hockte mit übergeschlagenen Beinen auf einem der Radschächte. Sie trug khakifarbene Hosen und eine Bluse, einen rosafarbenen Schal und ihren Hut mit der breiten Krempe. Er erkannte das zuckersüße, großmütterliche Lächeln. Martin und Donald hatten den Schalensitz in Beschlag genommen.
Trevor faltete den Brief auseinander.
14. Februar 1985
Sekera Village, Kenia
Lieber Trevor,
Jambo Bwana (das heißt»Hallo Mann« in Suaheli).
Ich hoffe, dass dieser Brief nicht zu lange braucht, um in Calgary einzutreffen. Ich würde nicht wollen, dass Sie denken, ich hätte Sie vergessen. Und ich brenne darauf, dass Sie diese Bilder sehen.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, in Afrika finden zu können. Tiere, ja — und ich habe sie alle gesehen: Elefanten, Giraffen, Zebras, Kaffernbüffel. Gestern haben wir eine ganze Stunde lang ein Rudel von dreißig Löwen beobachtet, jede Menge Löwinnen mit ihren Jungen. Prachtvoll und wunderschön. Vor allem die Gastfreundschaft der Menschen hier hat mich überwältigt. Der junge Mann auf dem Foto ist Michael; sein Massai-Name ist Pakuo. Sie können auf dem Foto erkennen, dass er ein voll ausgebildeter und erfahrener Krieger ist, aber daneben erteilt er im Rahmen eines Weiterbildungsprogramms auch Englischunterricht im Dorf. Wir sind einander am letzten Tag meiner Safari in einem Straßencafe' begegnet, und er lud mich ein, für zwei Wochen bei ihm zu Hause zu wohnen. Ich wohne auf seiner Boma, seinem Gehöft, zusammen mit seiner Familie: seiner Frau Melissa und ihren beiden Kindern Janey und Albert. Ich liebe das Gemeinschaftsbett, in dem die Kinder sich an mich kuscheln, und das Geblöke und Gezappel der Kälber und Ziegen im Raum nebenan. Ich kann mich allerdings nicht dazu durchringen, zum Frühstück frisches Tierblut mit Milch zu trinken, und von dem offenen Feuer der Kochstelle habe ich einen Dauerhusten bekommen.
Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ist das einer von Ihren Traktoren? Der hier ist kaputt. Keiner weiß, wie man ihn reparieren kann. Sie haben die Regierung gebeten, Ersatzteile zu schicken, aber es geschieht nichts. Ich kann mir beim besten Willen nicht vor stellen, warum irgendjemand Massais Traktoren geben sollte. Sie sind Nomaden. Den Boden aufzuhacken verstößt gegen ihren Glauben. Es ist lächerlich, dass man sie zwingt, sich in Dörfern anzusiedeln und als Farmer zu verdingen. Sie stellen Kikuyus ein, die das Bewirtschaften des Landes für sie übernehmen.
Würden Sie Michael wohl bitte einen neuen Anlasser an die oben stehende Anschrift schicken? Tatsache ist, dass das angrenzende Dorf genau das gleiche Problem hat. Schicken Sie also zwei Anlasser und ein anständiges Sortiment an Ersatzteilen. Sie haben auch kein Geld für Benzin. Können Sie mit einem Ihrer Freunde in Nairobi sprechen? Wir werden Ihnen auf ewig dankbar sein.
Einer der Ältesten starb letzte Woche. Die Angehörigen rieben seinen Körper mit Lammfett ein und machten ihm neue Sandalen, damit er auf seiner Reise schnell vorankommt. Sie steckten ihm einen Hirtenstab in die Hände und legten ihn in die offene Savanne, mit dem Gesicht Richtung Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Wilde Tiere verzehrten den Leichnam in der Nacht. Schlicht, schön, stolz und harsch — wie das Leben, das diese Menschen leben.
Da morgen mein letzter Tag ist, hat Michael zu meinen Ehren ein Ziegenfest für mich arrangiert, bei dem jede Menge getanzt und gesungen wird. Frauen ist es nicht gestattet, bei dem Fest zu essen, aber für mich haben sie eine Ausnahme gemacht. Eine achtzigjährige Frau stellt keine große Bedrohung dar. Morgen werde ich mit dem Zug über Mombasa nach Malindi zum Indischen Ozean fahren. Könnte eine gute Stelle für Donald sein.
Grüßen Sie bitte Angela von mir.
Alles Liebe,
Ihre Freundin Constance