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Am Montagmorgen schlief Trevor sich aus. Sein Magen hatte sich immer noch nicht von der Überdosis Alkohol am Samstagabend erholt. Er brachte mit Mühe eine Schale Müsli und starken Kaffee herunter und entschied sich für eine weitere Autofahrt. Joggen war nicht drin; er traute seinen Beinen nicht zu, dass sie ihn tragen würden. Er fuhr Richtung Süden nach Okotoks, dann westwärts auf das Vorgebirge zu, wobei er wahllos an unscheinbaren Kreuzungen abbog. Auf einer engen Schotterstraße weit hinter Millarville entdeckte er ein Schild, auf dem ein Besitz zum Verkauf angeboten wurde. Achtzig ertragreiche Morgen Land. Haus und gute Quelle. Er parkte den Wagen auf der von Spurrillen zerfurchten Auffahrt und öffnete mit Schwung das verrostete Metalltor, dessen Scharniere quietschten. Das Haus wirkte verlassen, die meisten Fensterscheiben waren zerbrochen. Ein halbes Dutzend Dachziegel klapperte im Wind. Er rüttelte an der Tür, die mit einem verrosteten Vorhängeschloss gesichert war, doch überraschenderweise hielt es dem Rütteln stand. Hinter dem Haus watete er durch ein Meer aus kniehohem Gras und Löwenzahn zu einem verwitterten Klapptisch und setzte sich hin. Das Haus machte nicht viel her, es hatte nur eine Etage und war verfallen, aber der Ausblick war spektakulär, und die Rocky Mountains waren weit genug weg, um dem Himmel Raum zu lassen. Die Weite der Prärie im Osten und im Süden. So etwas sollte er sich kaufen. Damit aufhören, durch die Welt zu fliegen und sich als Farmer niederlassen. Ein gutes Leben. Gesund, wertvoll. Sein eigener Herr. Er hatte nicht viel Ahnung von Landwirtschaft, wusste nur, was Bjorne ihm im Verlauf von ein paar Monaten an den Wochenenden beigebracht hatte. Er nahm an, dass dieses Land hier für Viehzucht geeignet war, Weizen war eher etwas für flacheren Boden. Angela würde wissen, was zu tun war. Bjorne und Axel, die beiden Alleskönner, könnten ihm zur Hand gehen. Er legte sich rücklings auf den Tisch. Wolken kreisten am Himmel über ihm: Manche sahen aus wie Lämmer und Kaninchen, eine andere erinnerte ihn an einen Krieger hoch zu Ross. An trägen Sommertagen, wenn Tante Gladys nicht zu Hause gewesen war, hatte er die Wolken zusammen mit Brent auf dem Dach beobachtet. Sie hatten sich Geschichten über die Wolkenmenschen ausgedacht und darüber, wie sie eines Tages zur Erde herabschießen würden, um sie aus Regina zu erretten. Heute musste er aus Calgary gerettet werden, vor sich selbst. Er beobachtete eine Libelle, die im Flug ein Dreieck über ihm beschrieb, und mitten auf dem Klapptisch schlief er ein.

Als er den Besitz eine Stunde später wieder verließ, schrieb er sich die Telefonnummer des Maklers auf. Er würde Angela herbringen, damit sie sich das Ganze ansah. Sie konnten es sich erlauben, mal ein Wochenende nicht nach Swede Lake zu fahren, ein bisschen Zeit allein würde ihnen guttun. Er stellte sich vor, wie sie gemeinsam das Haus renovierten. Wie sie anstri-chen und das Dach deckten. Er konnte sich eine Bodenfräse mieten und einen Garten für sie anlegen. Und sie würde grüne Bohnen für ihn einkochen.

Es war dunkel, bis er wieder in die Stadt hineinfuhr, Calgary ein Lichtermeer. Er machte sich auf den Weg zu Angelas Apartment, einer Erdgeschosswohnung in einem Haus in Strathcona. Sie hätte sich ein eigenes Haus leisten können; Gott allein wusste, was sie mit all dem Geld machte, das sie verdiente. Spendete sie es wohltätigen Zwecken und Obdachlosen? Er verspürte plötzlich das dringende Bedürfnis, all jenen zu helfen, denen weniger Glück beschieden war als ihm. Ehrenamtlich bei einer Lebensmittelausgabe für sozial Schwache zu helfen. Schecks auszustellen für jene beharrlichen Organisationen, von denen er immerzu Post bekam, in der sie um Geld baten: die Krebshilfe, die Entwicklungshilfe. Er hielt kurz vor dem Geschäft an der Ecke, um Angela einen Blumenstrauß zu kaufen. Er hatte bisher noch nie für irgendjemanden Blumen gekauft; zehn Minuten lief er draußen vor dem Geschäft an den Bänken mit den mit Blüten gefüllten Eimern auf und ab. Rosen waren zu aufdringlich. Könnten eine abschreckende Wirkung auf sie haben. Chrysanthemen waren zu formell. Er entschied sich für ein dickes Gebinde aus Feuerlilien. Sie würden gut zu ihrem Haar passen.

Als er Angelas Haus erreichte, musste er sich innerlich am Riemen reißen, um nicht quer durch den Garten auf die mit Efeu berankte Tür zuzurennen, mit den Blumen fest in einer Hand. Was würde sie denken, wenn sie die Feuerlilien sah? Die alte, verfallene Farm. Er verlangsamte seinen Schritt. Verflucht, er musste endlich mal ein Risiko eingehen, oder sein Leben würde sich niemals ändern. Sonst würde er als einsamer alter Mann sterben wie Constance’ Ehemann, wie hatte er noch mal geheißen? Tommy? Man muss was riskieren. Hatte Constance nicht genau das zu ihm gesagt, als er sie das letzte Mal sah? Er hatte seit einigen Wochen nichts mehr von der alten Frau gehört. Er pochte an die Tür, und es dauerte nur einen Moment, bis Angela öffnete, mit aschfahlem Gesicht, zerzaustem Haar, rot geränderten Augen.

» Trevor, ich versuche seit Stunden, dich anzurufen«, schluchzte sie und war ganz wacklig auf den Beinen.

Er streckte ihr die freie Hand entgegen. »Was ist passiert?«

»Bo. Er hatte einen zweiten Herzinfarkt.« Sie sank in seine Arme.

Trevor schnürte es die Kehle zu. Die Feuerlilien waren vergessen und fielen zu Boden. In seiner Erinnerung blitzte ein Bild auf: Bjornes regungsloser Körper auf dem Beton des Eishockeyrings. Ich werde dich umbringen, Steffansson. Trevors Beine begannen zu zittern. Er wollte wie ein Häufchen Elend auf der Türschwelle zusammenbrechen, aber er konnte nicht. Er musste Angela halten.

13. September 1985

Sooke, B. C.

Lieber Trevor,

ich bin letzte Woche wieder zu Hause angekommen. Nachdem ich Donald zum ewigen Dahinbrutzeln gebettet hatte, suchte ich in Mittelamerika und Mexiko nach einem geeigneten Ort für Martin. Eines Tages, an den Mayastätten von Chichen Itza, wusste ich es dann plötzlich. Martin gehörte nach Hause, er musste bei mir bleiben. Wir flogen zurück nach Victoria. Gemeinsam sind wir um die ganze Welt gereist, er und ich, genau, wie wir es uns immer erträumt hatten.

Ich hatte niemals Gelegenheit, Ihnen alles über Martin zu erzählen. Wir sind einander in einer Buchhandlung begegnet.

Er kam jeden Dienstag herein, um sich die Neuerscheinungen anzusehen. Er kaufte bei mir seine Gesammelten Werke von William Shakespeare. Bücher waren unser Thema an diesen Dienstagen, und nach ein paar Monaten wurde daraus ein regelmäßiges Mittagessen miteinander. Zu Anfang waren wir Freunde, dann wurden wir Geliebte.

Ich muss ein Geständnis machen. Martin und ich haben niemals geheiratet. Wir haben die ganzen Jahre auf dem Salal Cottage in Sünde miteinander gelebt. Wir sahen nie einen Grund dafür zu heiraten. Wir liebten einander, und allein das zählte. Ich habe meine Kinder dahingehend allerdings belogen; die Wahrheit hätte sie schockiert.

Martin speiste meine Seele. Wir konnten über alles reden. Er lehrte mich, wie die Pflanzen und die Tiere heißen, die in dem Waldstück auf unserem Land beheimatet sind: die rosafarbenen Zahnlilien, die im Frühling am Ufer des Baches wachsen, die winzigen Sägekäuze, die Bananenschnecken. Abends hat er mir immer Gedichte vorgelesen. Hat wunderbare Essen für mich gekocht und mir die Füße massiert, wenn ich wieder mal Last mit meiner Arthritis hatte. Er fuhr mit mir in unserem Ruderboot in die Bucht hinaus und erzählte mir Indianerlegenden über das Meer. Wir liefen barfuß an Stränden entlang und planschten in Gezeitentümpeln wie die Kinder.

Einmal hat Martin mir erzählt, dass die Indianer, die an der Küste lebten, ihre Toten in Kanus in die Bäume legten oder in Höhlen am Strand. Ich habe seine Asche in den Bach gestreut, der hinter dem Salal Cottage entlangfließt, wo die Lachse laichen und im November sterben. Unter den Douglasien und den Frauenhaarfarnen. Er strömte hinaus ins Meer, doch kann ich ihn hier an meiner Seite spüren. Er lehrte mich zu lieben.

Ich hoffe, dass Sie mal herkommen und mich besuchen, Trevor.

Ich schreibe Ihnen unten auf die Seite meine Telefonnummer. Die nächste Zeit werde ich erst mal nicht mehr reisen. Ich war viel zu lange fort, und ich bin müde.

Grüßen Sie Angela von mir,

alles Liebe, Constance

250-633-4187

Das junge Kojotenweibchen lag zusammengerollt hinter einem Salbeibusch, als würde es schlafen, doch als das Männchen schnüffelte und es mit der Nase anstupste, rollte sein Körper, obwohl er warm war, leblos auf die Seite. Der ausgewachsene Kojote kratzte mit der Pfote am Nacken des Weibchens, aber das Jungtier rührte sich nicht. Es war nicht mit den anderen zum Bau zurückgekehrt nach seinem ersten unabhängigen Streifzug durch die Welt, um dort Mäuse zu jagen, und das Männchen hatte sich auf den Weg gemacht, es zu suchen. Eine einfache Aufgabe, weil er nur der Witterung seiner Geschwister folgen musste. Wieder kratzte er mit der Pfote an dem leblosen Körper und wusste, dass es tot war, wie so viele andere Welpen über die Jahre. Einige verschwanden einfach und kehrten niemals zurück, andere wurden von Falken erhascht, von Dachsen oder Schlangen gebissen. Ein paar wenige, wie dieses Kleine hier, wiesen weder Wunden auf noch hatten sie einen fremden Geruch.

Mit den Zähnen hob er ihren leblosen Körper vom Boden und zog sie ein paar Schritte, aber da sie schon zu drei Vierteln ausgewachsen und fast so schwer war wie er selbst, ließ er das Weibchen in das spröde Gras fallen und leckte ihm jaulend das Maul. Ein Geier kreiste über ihnen, und das Männchen knurrte, ein grollender Laut aus den Tiefen seines Innersten. Er lief in immer größer werdenden Kreisen um die Stelle herum, an der es lag, urinierte dabei in Sträucher und an Felsblöcke, um seine Spur zu markieren, dann ging er zurück und setzte sich ein paar Körperlängen von dem steif werdenden Körper auf den Boden, um zu warten.