18
»Asche zu Asche, Staub zu Staub«, las der Pastor aus dem Gebetbuch. Seine schwarze Soutane flatterte im Wind der Prärie. Acht Männer senkten zwei Särge in das Loch hinab. Trevor drehte und wandt sich, seine Hand verschwitzt in Tante Gladys’ Klammergriff. Er wollte zu dem Loch hinübergehen und nachsehen, ob es ein Ende hatte, einen Boden. Oder dabei zuschauen, wie die hölzernen Kisten geradewegs in die Feuer der Hölle stürzten. Er wollte es den Leuten auf dem Friedhof in die Gesichter schreien, den Frauen, die in ihre Spitzentaschentücher weinten, den Männern, die ernst und feierlich ins Leere starrten. Alle in Schwarz.
Er wollte schreien: »Es war nicht ihre Schuld!«
Doch stand der Beweis für die Sünden seiner Eltern geradewegs vor den Trauernden: zwei kleine Jungen, in winzigen schwarzen Anzügen und mit Krawatten, denen Tante Gladys mit ihrer Spucke das Haar nach hinten an den Kopf geklatscht hatte und denen sie jetzt ihre eiskalten Finger in ihre Schultern hineingrub, damit sie still standen.
Onkel Pat schaufelte den letzten Spatenstich Erde auf die Gräber. Die Frauen verstreuten Blumen aus dem Geschäft in der Stadt: weiße Lilien und Chrysanthemen und noch andere, deren Namen er nicht kannte. »Unechte Blumen« hatte seine Mutter sie genannt. Sie hatte immer eine Vase mit Wildblumen aus der Prärie in der Mitte des Küchentischs stehen gehabt: Krokusse im Frühling, Magnolien, Gänseblümchen, Wildrosen und blauen Flachs im Sommer.
Die Leute liefen hintereinander in schweigenden Zweier- oder Dreiergrüppchen vom Friedhof zur Kirche, die wie ein weißer Leuchtturm auf der Spitze eines runden Hügels stand. Sie aßen getrocknete Datteln und schlürften Tee aus Porzellantässchen, und ihre Unterhaltung verlagerte sich bereits vom Unglück, das Trevors Eltern ereilt hatte, zur jüngsten Entwicklung der Weizenpreise und dem Mangel an Regen.
Brent schnappte sich die Hand seines Bruders und zog ihn hinter die Kirche. Dort saßen die beiden Jungen auf den Holzschaukeln und ließen ihre Sonntagsschuhe durch den Dreck schleifen. Brent sprang auf die Querverbindung der Wippe, grätschte seine Beine, sodass seine Füße rechts und links von dem im Boden verankerten Mittelstück standen, und dann ruckte er mit seinem Körper so lange von einer Seite zur anderen, bis das lange Brett waagerecht in der Luft schwebte. Mit einem lauten Aufschrei sprang er hinunter. Das eine Ende der Wippe schlug mit einem knallenden Geräusch auf den Boden und wippte noch zweimal nach. Die Wucht des Aufpralls hinterließ eine tiefe Furche in der schwarzen Erde.
Die beiden Jungen wälzten sich auf der Kuppe des Hügels im Gras. Trevor wusste, dass sie sich ihre Anzüge nicht schmutzig machen durften, und sagte es seinem Bruder. Brent zog sich die Jacke aus, nahm seine Krawatte ab und half Trevor aus seinen Sachen heraus. Dann schlang er seinen Arm um Trevors Schultern. Die Brüder kauten auf langen Halmen Rispengras und starrten hinaus auf die Prärie. Über ihnen jagte ein Falke mit rostfarbenen Schwingen und kreischte nach seinem Abendessen.
»Guck mal, was ich mache.« Brent streckte sich der Länge nach auf dem Boden aus, die Arme über dem Kopf, die Beine eng zusammengepresst. Langsam rollte er in Richtung des Abhangs. Sein Körper rollte schneller auf der Schräge, immer schneller und schneller; die Grashalme bogen sich unter ihm, und wo seine Schuhe den Boden trafen, stoben ganze Stöße von Staub in die Luft. Trevor konnte Brents Gesicht und sein weizenblondes Haar, das an ihm vorüberwirbelte, nur immer zwischendurch aufflackern sehen. Am Fuß des Hügels blieb Brents Körper liegen. Er rührte sich nicht.
»Brent?« Trevors dünnes Stimmchen erklang zitternd von der Kuppe des Hügels. Er hoffte, dass sein Bruder nicht tot war. Wen würde er sonst noch haben? Fast fing er an zu weinen, als Brent sich aufrappelte und das weiße Hemd seinen mageren Oberkörper umflatterte, ganz schwarz vom Schmutz, auch seine Sonntagshose war verdreckt. Er brüllte wie ein zorniger Löwe und schlug mit den Armen um sich, als er den Hügel wieder hinaufstürmte. Staub wehte von seiner Kleidung, sein Gesicht wurde puterrot. Feuer loderte in seinen Augen. Brent blieb vor Trevor stehen und legte seine Hand auf die Schulter seines Bruders. Seine Rippen hoben und senkten sich unter der feinen Baumwolle seines schmutzigen Sonntagshemds. Trevor spürte, wie Brents rasender Herzschlag in seinem Kopf zu dröhnen begann.
Brent hob zwei Steine vom Boden. Den einen warf er mit der linken Hand immer wieder in die Luft; den anderen gab er Trevor. Dann lief er auf die Kirche zu und warf seinen Stein gegen die weiße Ziegelwand. Der Stein hinterließ an der Stelle, an der er gegen die Wand prallte, einen schwarzen Fleck und eine Delle, dann fiel er plumpsend zu Boden. Er hob einen anderen Stein auf, der so groß war wie eine Kartoffel, und warf ihn ebenfalls. Einen dritten. Er schnippte mit den Fingern in die Richtung von Trevors Arm.
»Du auch«, drängte er ihn.
Trevor blickte nieder auf den Stein in seiner Hand. Er war rosa und weiß, gesprenkelt wie ein Vogelei mit silbrigen Stellen dazwischen, die in der Sonne glänzten. Der Stein lag Trevor schwer in der Hand. Er suchte im Gesicht seines Bruders nach einem Grund, fand aber nur loderndes Feuer. Kannte Brent ein Geheimnis? Würde das seine Eltern zurückbringen? Eine Sünde als Bezahlung, um damit eine andere Sünde zu begleichen? Denn Steine an eine Kirche zu werfen war ganz sicher eine Sünde. Ein Handel. Ein Tausch: die beiden Jungen als Gegenwert für ihre Eltern. Er trat einen Schritt vor und warf den Stein wie einen Baseball, genau wie Brent es ihm im vergangenen Sommer auf dem Hof beigebracht hatte. Die Wucht, mit der sein Stein gegen die Wand prallte, hatte eine befriedigende Wirkung, und er suchte nach einem anderen. Er erspähte einen zimtfarbenen Stein, der so flach war wie ein Pfannkuchen, und hob ihn auf. Er war schwerer als der gefleckte. Er warf ihn mit aller Kraft gegen die Kirche. Zusammen bewarfen die beiden Jungen das Gebäude immer und immer wieder. Sie stöhnten vor Anstrengung; die Steinwunden an der Wand sahen zusehends aus wie Pockennarben. Ihre guten Sonntagshemden wurden nass vom Schweiß und durchsichtig, ließen ihre glühenden jungen Körper durchscheinen.
Erst als Brent anfing, Flüche auszustoßen — Worte, die Trevor noch nie zuvor gehört hatte — , erst da wurden die Erwachsenen aufmerksam und kamen angerannt. Onkel Pat schnappte sie sich beide um die Taille und schleppte sie in den Vorhof der Kirche. Trevor hing reglos und furchterfüllt in einem Arm; im anderen trat Brent wie wild um sich und schrie.
Doch Onkel Pat ging nicht zum Grab, grub den Oberboden nicht auf mit seinen von der Arbeit verschwielten Händen, warf die Jungen nicht hinein. Er grinste nicht zufrieden vor sich hin, als die Brüder wie Steine in die Feuer der Hölle fielen. Erwischte sich nicht den Dreck von den Händen, während Trevor und Brent tiefer stürzten, tiefer und tiefer, und ebenso wenig erstanden seine Eltern wieder auf, glitten nicht auf halbem Weg wie flauschige, weiße Wolken aus der Hitze und den Schatten des Moders an ihren Söhnen vorüber, mit Gesichtern, auf denen sich Schmerz mit Dankbarkeit vermischte. Stattdessen warf Onkel Pat die beiden Jungen auf die Rücksitze seines verbeulten Chevys und befahl ihnen, den Mund zu halten und stillzusitzen. Tante Gladys schimpfte sie wegen des Zustands ihrer Sonntagskleider aus, als sie vom Kirchhof preschten. Hinter dem Wagen ergoss sich der Staub in Wolken über die pfeilgerade Landstraße.
Trevor und Brent kamen nicht in die Hölle. Sie kamen nach Regina.
Angela stützte sich auf Trevors Arm. Sie war nicht der einzige Mensch, der auf Trevors Hilfe angewiesen war; es schien, als habe die gesamte Steffansson-Familie nicht mehr genug Reserven, um aus eigener Kraft aufrecht zu stehen. In den Tagen vor Bjornes Beerdigung hatte es sie alle zu Trevor gezogen. Der zweijährige Jake kletterte auf Trevors Arm, als sie die Straße überquerten, um von der Kirche zum Friedhof zu gehen. Bjornes Ehefrau Nancy, die von ihren beiden Brüdern aus Lethbridge flankiert wurde, konnte weder sprechen noch weinen. Sie und die Kinder würden nach der Beerdigung mit ihren Brüdern zurück nach Lethbridge gehen; der Möbelwagen war am Vortag bereits vorausgefahren, vollgepackt mit Möbelstücken aus dem Bungalow. Bjornes und Angelas Bruder Matthew, der am Tag nach Bjornes Tod aus Ottawa eingetroffen war, hielt Helens Ellbogen. Die Frau hielt mit Gewalt die Tränen zurück, während sie sich durch die Hymnen quälte: »Vorwärts, christliche Soldaten«, »Näher, mein Gott, zu Dir.« Axel hatte seit Tagen kein einziges Wort gesprochen.
Als man den Sarg hinab in das Grab senkte, verspürte Trevor das seltsame Verlangen, hinüberzugehen und in die Grube hineinzulugen. Seine Hand fühlte sich merkwürdig schwer an, und zwischen seinen Fingern klebte grobkörniger Dreck, wodurch er an Constance denken musste, an ihre Asche-Dosen und ihre Berichte über obskure Totenriten in anderen Ländern. Er konnte sich nicht vorstellen, Bjorne in Asche zu verwandeln. Aus dem Augenwinkel nahm er eine rasche Bewegung wahr, die seine Aufmerksamkeit erregte, und so wandte er den Kopf und sah eine buschige Schwanzspitze, die am Rand des Friedhofs hinter einem Grabstein verschwand. Scharten sich bereits die Aasfresser? Die Kojoten und die Falken? Zusammen mit der ägyptischen Gottheit mit dem Hundekopf, die Bjorne in das nächste Leben geleitete? In welchem Land war das gewesen, von dem Constance erzählt hatte, dass sie die Leichen dort in der Wildnis zurückließen, damit wilde Tiere sie zerrissen und wegschleppten? Angela stupste ihn sacht an, und er reihte sich mit ihr ein in die Schlange von Familienmitgliedern und Freunden, die schleppenden Schrittes, einer nach dem anderen, an Bjorne Steffanssons offenem Grab vorübergingen und eine Handvoll Erde auf den immer weiter verschwindenden Sarg warfen. Es passte zu Bjorne, eins zu werden mit der Erde, auf der er sein Leben lang gearbeitet hatte. Mit seinem guten Herzen, das so leicht war wie eine Feder.
Trevor presste die Hände gegen Angelas Schultern, und sie lehnte sich mit noch mehr Gewicht auf ihn. Er hatte sie zu dem Krankenhaus in Calgary gefahren, in das der Krankenwagen Bjorne gebracht hatte. Sie hatten draußen auf den Korridoren zusammen mit Helen, Axel und Nancy die zwei Tage kampiert, in denen Bjorne künstlich weiter am Leben erhalten worden war. Hilflos hatten sie dabei zugesehen, wie die Seele herausgesogen wurde aus ihrem Sohn, Bruder und Ehemann. Das Herz war nach dem Infarkt nicht mehr zu reparieren, der Schaden zu groß, die Hoffnung auf eine Operation dahin. Bjorne starb am Donnerstag um zwölf Uhr mittags. Gerade hatte er noch geatmet, sein Herz hatte geschlagen, dann war nichts mehr.
Ein Windschutz aus zitterndem Espenlaub begrenzte den Friedhof im Süden, und die goldenen Blätter raschelten im Wind wie Geistergeflüster aus den Gräbern. Er vermisste Bjorne. Seinen Freund. Wie konnte er tot sein? Zweiundvierzig Jahre alt, genauso alt wie Brent. Trevor konnte den nagenden Gedanken nicht verdrängen, dass er an allem schuld war, dass ihr Hockeyspiel im Suff der Auslöser für den tödlichen Herzinfarkt gewesen war. Er hätte es verhindern können, hätte Bjorne überreden können, nach Hause zu fahren, die ganze Sauftour hätte er ihm ausreden können. Aber es war ihm nicht in den Sinn gekommen. Er besaß nicht den Mut, es Angela zu erzählen; der Selbstvorwurf lag ihm hart und kalt im Magen wie ein Stein.
Nach der Beerdigung fuhr eine Kolonne von Fahrzeugen zurück zur Farm. Trevor half dabei, Kaffee zu brühen in Maschinen, die sie sich ausgeliehen hatten, und er stellte Platten mit Süßspeisen auf den Tisch im Esszimmer, bis die Frauen ihn aus dem Haus scheuchten. Er fand Angela mit Caesar A. im Garten. Sie zupfte Unkraut, und an der Stelle, an der sie zwischen den Beeten mit Möhren und Roter Bete kniete, war das Vorderteil ihres Kleides vom Lehm ganz verdreckt. Voller Zorn riss sie händeweise Hornkraut und Löwenzahn aus dem Boden. Der Hund versuchte, ihr über das Gesicht zu lecken, aber sie schob ihn immer wieder von sich.
Trevor wusste nicht, wie er die rechten Worte finden sollte. Er hockte sich drei Beete weiter unten hin und fing an, Pflanzenhalme aus der lockeren, gut gehackten Erde zu rupfen, warf sie auf die Gehwege zwischen den Beeten. Zwischendurch blickte er immer mal wieder zu Angela herüber, aber die hörte nicht auf zu arbeiten, mit gesenktem Kopf und vorgeschobenen Schultern. Was hätte Bjorne zu seiner trauernden Schwester gesagt? Zu ihm? Los, frag sie? Aber das konnte er nicht tun, es war weder die rechte Zeit, noch war es der rechte Ort.
Ein Schatten fiel über das Beet, gerade als er sich mit der ganzen Hand eine blättrige grüne Pflanzenspitze geschnappt hatte.
»Was zur Hölle machst du da?«
Er blickte auf. Angela hatte sich dräuend vor ihm aufgebaut, die Finger gegen den Mund gepresst. Die andere Hand hatte sie voller Löwenzahn, und damit schlug sie ihm mitten auf seinen Kopf.
»Zupfe Unkraut?«
»Du reißt die ganzen Möhren aus, du Trottel.«
»Ach du Schande.« Trevor verzog das Gesicht und blickte nieder auf die Pflanze in seiner Hand. Angela drehte sich weg von ihm, und ihr Lachen klang auf einmal wie atemloses, schmerzerfülltes Keuchen. Trevor richtete sich auf; eine blassgelbe Knolle, die vom Lehm verschmiert war, hing in seiner Hand. »Angela?«
Ihr Gesicht war von Schmerz und Wut verzerrt. Instinktiv wäre er am liebsten weggerannt. Was in seinem Leben hatte ihn darauf vorbereitet, jemals die Rolle eines Trösters zu spielen? Er dachte an Constance, an ihre schicksalhafte Begegnung auf dem Frankfurter Flughafen, an die Tasche mit den Sonnenblumen, an die Plastikdosen, die ihre drei schmerzlichen Geschichten enthielten, und trotzdem hatte sie ihm ihre Hand entgegengestreckt. Um ihm aufzuhelfen. Er nahm Angelas Hand und löste das Unkraut nach und nach aus ihrer Faust, öffnete ihre Finger und legte seine Hand auf ihre vom Lehm verschmierte Handfläche. »Lass uns ein bisschen laufen.«
Sie wanderten durch die stoppeligen Herbstfelder. Zerbrochene Halme knirschten unter ihren Füßen. Der Hund lief ihnen voraus, schnüffelte an Sträuchern und verlassenen Erdhörnchenhöhlen. Die Herbstsonne hatte den größten Teil ihrer Wärme verloren, und die Luft roch nach nahendem Frost, nach Schnee, der sich bald schon mit weißem Gestöber wie eine Decke über die Farm legen würde. Angela sagte nichts, bis sie die Hütte am Rand des Flussbetts sahen.
»Ich nehme mir ein Jahr frei«, verkündete sie und fügte in einem Atemzug hinzu: »Ich gehe nicht zurück.«
Trevor wandte sich zu ihr und blickte ihr forschend ins Gesicht. »Warum?«, fragte er.
»Meine Eltern können die Farm allein nicht bewirtschaften. Matthew hat sein eigenes Leben. Wir werden sie verkaufen. Vorher ist noch jede Menge zu tun. Und ich muss für Mom und Dad einen Ort finden, an dem sie leben können.«
»Nein«, sagte er. »Das kannst du nicht tun.«
»Aber es ist unmöglich. Ich kann das allein nicht bewerkstelligen. Wir haben keine andere Wahl.«
Er wollte sie fragen, warum sie diese Entscheidung nicht vorher mit ihm besprochen hatte, eine Entscheidung, die ein Paar gemeinsam treffen sollte. Ein Paar. Angela und Trevor.
»Ich werde hierbleiben«, sagte er mit heiserer Stimme. »Ich kann arbeiten. Axel kann mir beibringen, was vor Wintereinbruch noch getan werden muss. Ich werde die Geräte reparieren. Saatgut für das nächste Jahr bestellen, und was ist mit...«
»Du würdest hierbleiben?«, stieß sie atemlos hervor. »Aber dein Job?«
Hinter Angelas Kopf erblickte er das pyramidenartige Steingebilde auf der Spitze des Hügels, und es schien ihm ein Zeichen zu geben; für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, die Umrisse eines Elefanten zu sehen, der auf dem Gipfel wartete. Er warf seine Hände in die Luft. »Verflucht, ich hasse meinen Job!«, brüllte er und küsste sie mit so viel Wucht auf den Mund, dass sie kaum das Gleichgewicht halten konnte, als er sie wieder losließ. Trevor stürmte den Hügel empor, auf das Steingebilde zu; unter ihm erstreckte sich in sämtlichen Himmelsrichtungen die Weite der Prärie. Er legte seinen Kopf in den Nacken und heulte wie ein Kojote in den Himmel. Zu seinem Erstaunen ertönte ein Antwortruf von Süden her. Am Fuße des Hügels sah Angela sich das Ganze an. Hinter ihr im Flussbett erstrahlten die Silberölweiden und die Saskatoonbüsche in den Gold- und Rottönen des Herbstes.
Er legte seine Hände wie eine kleine Schüssel um seinen Mund und verkündete dem Himmel, der weiten Prärie und der Erde zu seinen Füßen: »Farmer! Ein lausiger Farmer bin ich!«
Er wurde von dem überwältigenden Drang erfasst, sich auf dem Boden auszustrecken, und so legte er sich lang auf den Rücken. Langsam fing er an zu rollen, weiter und weiter den Hügel hinab in seinem schwarzen Beerdigungsanzug, und bei jeder Drehung wurde er schneller, und seine Schuhspitzen schaufelten Staubwolken empor in die Luft.
»Du bist ein Irrer«, kicherte Angela unter Tränen, als er vor ihre Füße rollte und sein Gesicht und seine Kleider vom Lehm und vom Gras ganz verdreckt waren. Sie warf sich auf ihn.
»Nein, ich bin ein irrer Farmer.« Er zog sie an sich und rieb seine Nase an ihrem Ohr. »Dein Farmer.«
Er öffnete das Häkchen an der Rückseite ihres Kleides und die Knöpfe, die vom Hals bis zur Taille reichten, dann ließ er seine Hände über ihre warme Haut gleiten. Caesar A. umtänzelte sie winselnd, ließ sich dann ein paar Meter weiter nieder und fing an, auf einem Stöckchen herumzukauen. Aus dem alten Flussbett erklang das Zwitschern eines Rotschulterstärlings.
Hinterher lehnte Angela sich auf den Stufen zur Hütte rücklings an ihn, und sie beobachteten, wie ein Entenschwarm in V-Formation gen Süden zog. Die meisten Vögel waren bereits fort. Abgesehen von dem einsamen Stärling und ihrem persönlichen Frühlingssäuseln war es still im alten Flussbett.
»Ich möchte hier leben.« Trevor wickelte eine Strähne von Angelas Haar um seinen Finger.
»Hier? In der Hütte?«
»Genau hier.«
»Aber hier gibt es keinen Strom. Kein fließendes Wasser. Du hast den Verstand verloren.«
»Das geht schon. Deine Großeltern haben es geschafft. Und ich habe dich, damit mir immer schön warm ist. Und einen unglaublichen Ausblick.«
Caesar A. setzte sich auf, spitzte die Ohren.
»Hey, schau dir das an.« Angela machte eine Bewegung mit ihrem Kinn und griff nach Caesars Halsband.
Drei Kojoten, ein altes Männchen, das schon einige Jahre auf dem Buckel hatte und so groß war wie ein kleiner Border Collie, und zwei halb ausgewachsene Welpen tauchten auf der Anhöhe über dem alten Flussbett auf. Ihr Fell war in Vorbereitung auf den Winter schon ganz dick und dicht. Trevor hatte sie sich größer vorgestellt, sie erinnerten ihn an die Schakale an den Pyramiden, der gleiche richtende, starre Blick, die gleichen wachsamen, aufrecht stehenden Ohren, die gleichen Augen, denen nichts entging. Während das erwachsene Tier Wache stand, rannten die Welpen hintereinander zum Bach hinunter und tranken, dann liefen sie wieder das Ufer hinauf zu ihm zurück. Die drei machten sich auf gen Westen in Richtung der Farm.
»Ich frage mich, ob die uns von da oben bespitzelt haben«, witzelte Trevor.
»In dieser Gegend hast du als Mensch nirgendwo deine Intimsphäre«, erwiderte Angela geistesabwesend und starrte den Tieren nach. »Hatte das alte Männchen ein kaputtes Ohr?«
»Ist mir nicht aufgefallen.« Trevor beugte sich vor und wisperte in ihre Nackenbeuge. »Ich habe eine Überraschung für dich.«
Er löste sich aus seiner Stellung hinter ihr und kletterte den Pfad hinunter zur Quelle. Er zog sein Taschentuch aus der Hosentasche und tauchte es in das Wasser. Als er mit dem tropfnassen Stück Stoff zur Hütte zurückkehrte, ging er hinein und fing an, die vielen Jahre Staub von dem Panoramafenster herunterzuwischen, das nach Westen zeigte. Angela beobachtete ihn von draußen mit verschränkten Armem. Sie schüttelte den Kopf, dann hob sie ihren Rock und zog sich ihre Unterhose aus. Ebenso wie Trevor tränkte sie den seidenartigen Stoff mit dem Wasser der Quelle und stellte sich dann gegenüber von ihm auf, wischte das Fenster von außen mit breiten kreisenden Strichen ab.
Trevor dachte an Bjorne in den Tiefen des (Grabes, das nur wenige Meilen von ihnen entfernt war, und an seinen brüderlichen Rat. Die Art von Rat, die Brent ihm gegeben hätte. »Angela?«, rief er.
»Ja.«
»Meinst du, deine Kanzlei könnte mir dabei helfen, meinen Bruder Brent ausfindig zu machen?«
Fragend sah sie ihn an. »Klar, kein Problem.««
Zwischen ihnen entstand ein klares Oval aus Glas, das zusehends größer wurde. Angela drückte ihr Gesicht gegen die Scheibe und streckte die Zunge heraus. Mehr als ein schmutziges Fenster öffnete sich zwischen ihnen. Ausnahmsweise vertraute er einmal darauf, dass ein anderer Mensch ihn verstand, und seine Sorgen verkümmerten zu Staubschlieren auf einer Glasscheibe, die man mit Wasser und einem Tuch abwaschen konnte. Er rieb an der oberen Ecke des Fensters und redete dabei. Der Zipfel seines Lappens hing unbemerkt herunter und verschmierte das saubere Glas darunter wieder.
»Ich habe mir große Sorgen gemacht«, gestand er.
»Worüber?« Angela machte mit ihren Armen die gleichen Bewegungen, die er mit seinen vollführte.
»Ich habe Bjorne letzten Samstag wehgetan,, als wir besoffen Hockey gespielt haben, nachdem wir aus der Bar kamen. Ich habe ihn auf den Boden geworfen und... er kriegte keine Luft mehr. Er hat behauptet, von dem Sturz ganz außer Atem geraten zu sein. Aber nach seinem Herzinfarkt, weißt du, ich frage mich, ob...«
Angela hatte aufgehört, das Fenster zu putzen. Die schmutzige Unterhose fiel auf die Veranda. Ihr Gesicht wurde kreidebleich. »Aber du wusstest doch...«, stieß sie aus, und ihre Stimme klang nur mehr wie ein Flüstern. »Du wusstest es!«, brüllte sie dann. »Du wusstest, dass er krank war! Du wusstest, dass er nächsten Monat operiert werden sollte! Hockey? Du hast Hockey mit ihm gespielt? Du unglaublich dummer Kerl!«