7
Die kühle Luft und das gedämpfte Licht des Ägyptischen Museums waren eine Erleichterung nach der gleißenden Mittagssonne draußen. Trevor befasste sich mit einer Schale mit langen Metallhaken, die in einem Glaskasten ausgestellt war. Auf dem Schild darunter wurde erklärt, dass die Instrumente benutzt worden waren, um einem Leichnam das Gehirn durch die Nasenlöcher herauszuziehen, der erste Schritt im Prozess der Einbalsamierung und Mumifizierung. Trevor verzog das Gesicht und rieb sich mit dem Zeigefinger über die Nase. Hatte Constance über das Mumifizieren Bescheid gewusst, als sie sich fürs Einäschern entschieden hatte? Sie stand am anderen Ende des Raums über die Inhalte eines Schaukastens gebeugt und sprach mit sich selbst, vermutlich hielt sie den Jungs — die fest in ihrer Tasche unter einem Ellbogen klemmten — eine Vorlesung über die Geschichte Ägyptens. Sie hatte darauf bestanden, ihren Koffer im Taxi zu lassen, das draußen wartete, und dessen Fahrer überglücklich war, für amerikanische Dollars in der Sonne schlafen zu können, aber Trevor hatte sich geweigert, den suspekten Knaben mit seinem Gepäck zu betrauen. Sein Arm schmerzte davon, sein rollendes Handgepäck durch die engen Gänge des Museums zu manövrieren.
Eine vergoldete Holzfigur, die ein Tier darstellte und neben dem Kasten mit den Haken stand, erregte Trevors Aufmerksamkeit. Er begutachtete den Kopf aus Ebenholz und versuchte festzustellen, um was für eine Art von Tier es sich handelte, dessen spitzes Maul und aufrecht stehende Ohren Ähnlichkeit hatten mit denen eines Fuchses oder eines Präriewolfs. Laut Beschriftung wussten die heutigen Ägypter auch nicht, was für ein Tier es war, vermutlich ein Schakal oder ein Hyänenhund. Tiere, die sich häufig in den Randgebieten der Wüste aufhielten, wo die Toten begraben lagen. Die Figur, die man am Eingang der Gruft des Königs Tutanchamun entdeckt hatte, stellte Anubis dar, den hundeköpfigen Gott der Totenriten, den Führer und Schutzherrn der Toten, der sie durch die Unterwelt ins Leben nach dem Tod führte. Eine steinerne Skulptur neben der Holzfigur stellte die gleiche Gottheit als Menschen mit einem Hundekopf dar. Er stand aufrecht auf zwei menschlichen Beinen, einen Stab in einer Hand, die andere Hand ausgestreckt. Trevor las die Beschriftung:
Der hundeköpfige Anubis (Ah-nuh-bis), ebenfalls bekannt als »Der die Herzen zählt«, hält die Waagschalen, auf denen das Herz des Toten gegen die Feder des Maats aufgewogen wird. Ist das Herz ebenso leicht wie die Feder, geleitet Anubis die Seele ins Jenseits, ins Königreich des Osiris; erweist sich das Herz als schwerer, wird es von der Göttin Ammit gefressen, und die Seele ist auf ewig zerstört.
Trevor schüttelte den düsteren Umhang der Furcht von sich, der sich beim Lesen über seine Schultern gebreitet hatte. Warum waren die Menschen so besessen vom Tod? Er hatte nie groß darüber nachgedacht. Einen Tag bist du hier, am nächsten bist du weg. Wen kümmerte, was nach dem Tod mit einer Leiche passierte? Soweit es ihn betraf, hatten die alten Ägypter den Selbstbetrug zur Perfektion getrieben, indem sie Grüften mit Gold und Juwelen vollgestopft hatten, um sie in einem anderen Leben nutzen zu können. Und sie hatten sich in Essig eingelegt und in Stoff-Fetzen eingewickelt, und alles nur, damit ein Mann mit einem Tierkopf sie in ein anderes Leben eskortieren konnte. Er reichte mit der Hand nach unten und strich mit den Fingern über die Umrisse der Gottheit auf der Tafel. Wenn der Verstorbene Glück hatte und sein Herz nicht schwerer wog als die Feder.
Er fröstelte, auf einmal war ihm kalt. Er suchte nach der Ursache für den plötzlichen Temperatursturz und sah sich um. Stand eine Tür offen, die in ein unterirdisches Grabgewölbe führte? Ein Deckenventilator? Der Zustand dieses weltberühmten Museums erstaunte ihn. Die Wände waren karg und schmucklos, auf dem Boden verliefen kreuz und quer staubige Fußspuren, als seien er und Constance seit zehn Jahren die ersten und einzigen Besucher. Auf den Regalen und Tischen häuften sich nicht gekennzeichnete Artefakte, die man schwerlich als Ausstellungsstücke bezeichnen konnte. Alles vermittelte den Eindruck, als seien sie in einen Lagerraum hineingeraten statt in ein richtiges Museum. Dass er keine bewaffneten Wachen gesehen hatte, war immerhin ein Trost.
Als sie mit ihrem Gepäck und ihren Reisedokumenten aus der Transithalle des Flughafens geflüchtet waren, hatte er vorgehabt, den Schalter von East Africa Air zu finden, um sich nach Weiterflügen nach Nairobi zu erkundigen, aber Constance hatte ihn irgendwie bezirzt und zu ein paar Stunden in Kairo überredet. Zuerst die großen Märkte, ein Labyrinth aus Gassen, in denen es lärmte und von Menschen nur so wimmelte, wo sich klapprige Verkaufsstände aneinanderreihten und es nach Gewürzen und nach toten Hühnern stank. Straßenkinder zupften an ihren Jackenärmeln und offerierten ihnen hohe, schmale Gläser mit süßem, milchigem Tee; Verkäufer boten Fladenbrot und Schafskäse feil, billige Sonnenbrillen und Flipflops aus Gummi. Während Constance fast alles kaufte, was man ihr unter die Nase hielt, trotzte er dem Flehen und Sticheln der bettelnden Massen. Er war die ganze Zeit auf der Hut und hatte die Hand fest in der Hosentasche, um seine Geldbörse zu sichern.
Im Museum war es wenigstens still. Hatte sie gesagt, dass sie seinen Schutz brauchen würde? Er erinnerte sich nicht, dass sie es wortwörtlich so ausgedrückt hatte. Er sollte eigentlich in einem Flugzeug sitzen, statt gelangweilt durch die modrigen Überreste des alten Ägyptens zu wandern.
»Kommen Sie, Trevor, und sehen Sie sich das an!« Constance gestikulierte auf der anderen Seite des Raums in seine Richtung, mit ihrem freien Arm, den anderen beanspruchten die Gatten. Er fühlte sich wie das vierte Opfer, das zur Schlachtbank geführt wurde. Hatte sie in der Tasche vielleicht außer den Jungs auch noch einen Eisenhaken?
Constance beobachtete, wie Trevor sich zwischen dem Tisch und den Schaukästen seinen Weg bahnte. Sein Gesicht hatte einen ganz besonders weinerlichen und unglücklichen Ausdruck, und sie verspürte einen Anflug von Reue, ihn dazu überredet zu haben, sie ins Museum zu begleiten. Neben Donald war er der verklemmteste Mensch, der ihr je begegnet war. Sie machte sich Gedanken über seine Kindheit, über sein Leben daheim in Calgary, über das er sich bislang nicht hatte äußern wollen. Ihr gefielen die kleinen Risse, die seine Fassade bekam, wenn er unter Druck geriet, weil sie ihr Einblick verschafften in seine Sanftmut, die sonst nicht offensichtlich war. Sie war erleichtert gewesen, dass er immer noch mit ihrer Tasche auf sie gewartet hatte, als sie mit ihren Pässen aus dem Flughafenbüro gekommen war. Am Vorabend, als er gelogen und behauptet hatte, sie sei seine Mutter, hätte sie ihn am liebsten fest an die Brust gepresst.
»Wer ist das?« Trevor zeigte mit dem Finger auf den waagerecht stehenden, beleuchteten Glaskasten, in dem auf schwarzem Samt eine überladene Gestalt lag.
»Der Kindkönig. Ist er nicht wundervoll?«
Auf dem schlichten Schild am Ende des Schaukastens hieß es König Tutanchamuns Totenmaske — 1350 v. Chr. Die Maske war aus purem Gold und mit Lapislazuli und Glas besetzt.
»Nicht übel«, meinte er. »Kein Staub. Noch einer Ihrer Ehegatten?«
»Sie sind frech. Das ist König Tut, seine Totenmaske, einer der größten Schätze Ägyptens«, schimpfte sie. Sie bedauerte, dass Thomas nicht da war, um sich König Tut anzusehen. Er hatte immer davon geträumt, nach Ägypten zu reisen — ein unerfüllter Traum, wie alle anderen. Er war eines Nachmittags nach Hause gekommen, beladen mit sämtlichen Büchern über Ägypten, die er in der Bibliothek von Winnipeg hatte auftreiben können. Sie hatten den Nachmittag auf dem Fußboden ihrer Einzimmerwohnung verbracht, während er ihr ein Bild nach dem anderen zeigte von Pharaonen und Grabstätten und Göttern mit merkwürdigen Namen und besonderen Merkmalen.
»Ich glaube, das da drüben war sein Hund.« Trevor wies mit dem Daumen hinter sich.
»Hund?«
»Naja, ein Typ mit einem Hundekopf, den sie in seiner Gruft gefunden haben.«
»Anubis?« Constance’ Augen hellten sich auf. »Er war einer von Thomas ’Lieblingen. Zeigen Sie ihn mir.«
Trevor führte sie zu der Figur.
»Oh, wie hübsch«, stieß sie aus und bewunderte die glatten und anmutigen Linien der Hundegestalt. »Thomas war der Ansicht, dass Anubis eine der bedeutsamsten Figuren in der ägyptischen Kultur war. Genau wie es hier steht.« Sie las die Beschreibung. »Der letzte Führer und Schutzherr der Seele auf ihrer Reise in den Himmel. Ohne Anubis würde man auf ewig in der Unterwelt umherirren. Wie grauenhaft.«
»Vielleicht ist es besser, von Ammit gefressen zu werden. Stellen Sie sich die mal vor«, frotzelte Trevor. »Tom war also Ägypten-Experte, neben all den anderen Talenten, die er hatte?«
»Er träumte davon, Ägyptologe zu werden.«
»Vom Tod besessen war er sicher auch, richtig?«
»Oh nein, im Gegenteil. Vom Leben war er besessen. Vom ewigen Leben.« Constance beugte sich tiefer über die Gedenktafel, um die Details der Zeichnung von Anubis zu untersuchen, die ihn in der Gestalt eines Mischwesens aus Mann und Hund zeigte, mit dem schwarzen, spitzen Maul, hochstehenden Ohren und glühenden Augen. »Haben Sie jemals nachgedacht über das Leben nach dem Tod?«
Trevor seufzte. »Ich kann nicht behaupten, dass mir das sinnvoll erscheint. Ich habe noch nicht viel Überzeugendes gehört, das beweisen würde, dass da noch mehr ist als das hier.« Er wedelte vage mit dem Arm durch die Luft, lehnte sich dann gegen den staubigen Schaukasten hinter sich und verschränkte die Arme vor der Brust.
Constance drehte sich zu ihm um. Sein Gesichtsausdruck war undurchdringlich wie eine steinerne Mauer. »Was ist mit der Seele, Trevor, was ist mit der Seele?«
Er zuckte mit den Achseln.
»Es spielt keine Rolle, mein lieber Junge.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Einen Ort gibt es noch, den ich sehen will, bevor wir wieder zum Flughafen fahren.« Sie wandte sich ab und marschierte den Gang hinunter zum Ausgang.
Trevor eilte ihr nach, wobei ihm sein Handgepäck stetig gegen die Lenden schlug. »Sie könnten mir wenigstens sagen, wohin wir gehen!«, rief er ihr hinterher.
Zu Trevors Erstaunen war das Taxi nicht weggefahren. Der Fahrer lag lang ausgestreckt auf den Vordersitzen, die Füße hingen aus dem offenen Fenster heraus, die Baseballkappe hatte er sich über das Gesicht gelegt, und er wachte erst auf, als sie die Autotür öffneten.
»Zur Cheopspyramide bitte«, sagte Constance.
Obwohl es ihn zusehends nervte, dass die alte Frau wie selbstverständlich davon ausging, ihn herumführen zu können wie einen Hund an der Leine, wurde Trevor hellhörig, als plötzlich von den Pyramiden die Rede war, einer Stätte, für die sogar er sich begeistern konnte. Er erinnerte sich, in der Grundschule aus Hunderten winziger Stücke Würfelzucker ein Modell einer Pyramide gebaut zu haben, und dass er nicht hatte begreifen können, wie es den Ägyptern möglich gewesen war, diese Bauwerke ohne elektrisches Werkzeug und schwere Maschinen zu errichten. Seine Pyramide war eingestürzt, und die Würfel hatten sich über den Schreibtisch ergossen wie eine Lawine aus Schnee.
Der Taxifahrer lenkte den Wagen durch das Chaos des zehnspurigen Gewimmels aus Kraftfahrzeugen, Motorrädern und Eselskarren, in dem die Verkehrsteilnehmer ignorierten, was die Ampelanlagen anzeigten, und Fußgänger wie Wasser durch sämtliche Ritzen strömten. Eine Frau, die von Kopf bis Fuß in ein schwarzes Gewand gehüllt war, trug auf dem Rücken einen schweren Schrank vor dem Taxi quer über die Straße. Durch den schmalen Schlitz in ihrer Verhüllung fixierte sie Trevor mit forschendem Blick. Die Intensität, mit der sie ihn ansah, ließ ihn auf dem Sitz hin und her rutschen. Ihr Kopf drehte sich, damit sie ihn weiterhin im Blick behalten konnte, als sie den Bürgersteig erreichte. Die Temperaturen waren stark gestiegen, seit sie sich auf den Weg gemacht hatten; er rollte die Ärmel seines Hemdes hoch und öffnete einen weiteren Kragenknopf, dann schloss er das Fenster vor dem Gestank der Abgase.
Das Taxi fuhr eine breite, mit Palmen gesäumte Allee entlang, die dem Verlauf des schlammigen Nils folgte, auf dem traditionelle Feluken mit ihrer anmutigen lateinischen Besegelung zwischen Schleppkähnen aus Stahl und modernen Kreuzfahrtschiffen lavierten. Im weiteren Verlauf des Flusses ließen sie das grüne Band der Vegetation hinter sich und gelangten in die Wüste. Trevor erwartete, dass es, je extremer die Landschaft wurde, immer weniger Anzeichen menschlichen Lebens geben würde, doch ballten sich zu beiden Seiten der Straße immer wieder getünchte Lehmziegelhäuser. Sie erstreckten sich über die monotone, farblose Landschaft, die öder war als die Prärie von Saskatchewan, in der er aufgewachsen war. Er hatte sich die Wüste immer vorgestellt wie eine vergängliche Hügellandschaft aus verwehendem Sand, die den wogenden Weizenfeldern ähnelte, aber der Boden hier war hässlich, grau und uneben vom Schotter.
»Gottverlassene Einöde«, murmelte er vor sich hin. Dann sagte er laut: »Haben Sie eine Klimaanlage?«
Der Taxifahrer schüttelte den Kopf. Constance fächerte sich mit dem Katalog des Museums Luft ins Gesicht. Sie hatte sich umgezogen, bevor sie aus dem Flughafenhotel gegangen waren. Sie trug jetzt weite Khakihosen, eine weiße, ärmellose Bluse und einen Strohhut mit einer breiten Krempe. Trevor verstand allmählich, warum ihr Koffer eine ganze Tonne wog, enthielt er doch für jede Gelegenheit das passende Outfit. Das Einzige, was er selbst dabeihatte, war eine Anzughose aus Polyester und das eine Hemd, das er trug und das ihm jetzt bei vierzig Grad Hitze am Rücken klebte. Vor ihnen ragten die gewaltigen Pyramiden von Gizeh über die flachen Hausdächer.
Constance hörte auf, sich Luft zuzufächeln, beugte sich nach vorn gegen den Vordersitz und spähte aus dem Fenster. »Meine Freundin Iris sagt, dass Menschen, die auf die Pyramide klettern, den unwiderstehlichen Drang verspüren hinunterzuspringen, wenn sie sich der Spitze nähern«, verkündete sie.
»Wie will sie das denn wissen?« Trevor lehnte sich zurück und spürte diese Spannung zwischen den Schulterblättern, die sich wie ein Messer anfühlte und ihm inzwischen sehr vertraut war.
»Iris liest viel«, antwortete Constance. »Lesen Sie gern?«
Aber Trevor hatte die Augen geschlossen, tat, als ob er schliefe und antwortete nicht. Er fragte sich, ob sie wusste, dass er ihr nur etwas vormachte.
»Die alten Ägypter glaubten, das Leben nach dem Tod sei eine Fortsetzung ihrer Existenz auf Erden. Trotzdem sind die Gründe für die Erbauung dieser gewaltigen Pyramiden bis heute ein Rätsel für die Ägyptologen. Wir wissen nur, dass die sterblichen Überreste der ägyptischen Königsfamilie darin zur Ruhe gebettet waren, die der Pharaonen und ihrer Ehefrauen. Diese spezielle Pyramide, die man die Cheops-Pyramide nennt, ist die größte aller ägyptischen Pyramiden und das Grabmal des Herrschers Chufu, der auch unter seinem griechischen Namen Cheops bekannt ist. Sie gehört zu den sieben Weltwundern der Antike, erhebt sich hundertfünfzig Meter in die Höhe und besteht aus sechseinhalb Millionen Tonnen Kalkstein. Jeder einzelne Kalksteinblock wiegt...«
Trevor öffnete noch ein paar Knöpfe seines Hemdes und wischte sich mit dem Hemdsärmel den Schweiß von der Stirn. Aber der Wind und die dörrende Hitze saugten ihm den letzten Tropfen Feuchtigkeit aus der Haut und wehten ihn davon in die Wüste. Ein Wirbel aus Sand fegte durch die Gruppe von Touristen, während sie dem Vortrag eines Reiseführers über die Pyramiden lauschten. Trevor rieb sich den grobkörnigen Staub mit dem Handrücken von den Augenlidern. Etwas weiter weg zu ihrer Linken flegelten zwei Araber in wallenden Gewändern rittlings auf zwei Kamelen herum, von deren Zaumzeug und Sattel farbenprächtige Quasten und Glocken herabbaumelten. Die Tiere reckten ihre einfältigen Köpfe in den Wind, öffneten die dicken, fleischigen Lippen und zeigten ihre abgenutzten, vierkantigen Zähne, die vom Alter ganz gelb waren. Ein Kamelhöcker. Ein von Hand geschriebenes Schild — Kamelritt $25Amerikanische Dollar — hing vom Hinterteil des Sattels. Alles für ein paar Mäuse. Er hatte gehört, dass die verdammten Biester einem in die Augen spuckten, wenn man ihnen zu nahe kam. Hinter den Kamelen erhoben sich die Steinmassen der Großen Sphinx, das Gesicht mit einem Baugerüst verkleidet, die Nase fehlte. Laut Aussage des Reiseführers war sie bei Schießübungen von Türken zerschossen worden. Wie in der Transithalle des Flughafens wimmelte es auch an den Pyramiden von bewaffneten Wachen.
An seinem Arm konzentrierte Constance sich auf den Vortrag, das Kinn vor lauter Interesse in die Luft gestreckt. Wenn man von ihrem von der Hitze leicht geröteten Gesicht und dem zimtfarbenen Staub auf ihren Laufschuhen absah, wirkte sie kühl und gefasst, als sei sie auf Einkaufstour in einer kanadischen Shopping-Mall. Wie konnte sie in dieser Hitze bloß diese Perücke tragen? Trevor blickte zum zwanzigsten Mal auf seine Armbanduhr. Die Pyramiden waren nett, aber nachdem sie nun fünf Stunden lang Sehenswürdigkeiten besichtigt hatten, wurde es Zeit, zum Flughafen zurückzukehren und einen Flug nach Nairobi zu ergattern. Ein herrenloser Hund schnüffelte an seinem Schuh, und er trat mit dem Fuß nach dem Tier.
Die Touristengruppe bewegte sich geschlossen auf den Eingang der Pyramide zu. Sein Entschluss stand fest: Dies hier war das letzte Zugeständnis, das er Constance gegenüber machte. Er hatte seinen Beitrag geleistet, den Tourismus in Ägypten am Laufen zu halten. Wenn sie sich weigerte, mit ihm zu gehen, würde er sie einfach hier zurücklassen.
»Würden Sie die Jungs wohl mal gerade für einen Moment festhalten?« Constance legte ihm die geblümte Tasche ums Handgelenk. »Ich muss den Ort für kleine Mädchen suchen.«
»Heißt das, dass Sie nicht da rein wollen?« Er gestikulierte in Richtung der niedrigen dunklen Öffnung, die hinein in die Pyramide führte, und sah endlich so etwas wie einen Hoffnungsschimmer.
»Um nichts in der Welt würde ich mir das entgehen lassen. Gehen Sie nur vor. Ich komme nach.« Sie enteilte in Richtung des Gebäudes, in dem es die Eintrittskarten zu kaufen gab.
»Wissen Sie, wie Sie laufen müssen?«, rief er ihr nach. »Wie wollen Sie uns wiederfinden? Constance!« Wieder fegte ein Miniatur-Sandsturm über sein Gesicht. Als er sich davon wieder erholt hatte, war sie spurlos verschwunden.
Er quetschte sich durch den gedrungenen, dunklen Türrahmen ins Gedärm der Pyramide und stieß sich dabei prompt an einem der Kalksteinblöcke über ihm den Kopf. Ein enger Tunnel, erhellt von schwachen elektrischen Lampen, die in Einbuchtungen in die Wand eingelassen waren, wand sich verwinkelt aufwärts. Er folgte dem Durchgang und den Beinen, die vor ihm gingen. Die Luft war stickig und muffig. Das Atmen fiel ihm schwer, und sein Herz hämmerte ihm in der Brust. Der kalte Schweiß troff ihm von den Achseln. Seit seinem zwölften Lebensjahr hasste er geschlossene, enge Räume, seit dem Tag, da Onkel Pat ihn im Schrank eingesperrt hatte, weil er in Mathematik eine Vier geschrieben hatte. Er drehte sich um und blickte hinter sich. Wo war Constance? Sollte er auf sie warten? Der Mann hinter ihm starrte ihn finster an und scharrte dabei ungeduldig mit den Füßen. Trevor griff nach dem metallenen Geländer und musste sich Vorbeugen, da die Steigung schräger wurde und die Decke abfallend auf ihn niederging. Der Tunnel schloss sich um ihn her. Er spitzte die Ohren, um den Reiseführer zu verstehen, der ihrer Gruppe voranging und sie davor warnte, dass man kriechen müsse, um in die Kammer des Königs zu gelangen.
Fünfundvierzig Minuten später tauchte Trevor ein in die Backofentemperaturen und das blendende Licht des Wüstennachmittags — dankbar, den klaustrophobischen Fängen des Innenlebens der Pyramide entronnen zu sein. Warum war Constance nicht zur Gruppe zurückgekehrt? Er wollte ihr über ein paar Fakten berichten, die er auf der Tour gelernt hatte. Dass die alten Ägypter ebenso wie sie Pantoffeln und Bücher mit ihren Angehörigen begraben hatten — nun ja, keine Pantoffeln und Bücher, wohl aber Dinge, die sie in ihrem Leben im Jenseits vielleicht brauchen konnten: Krüge mit Öl und kostbare, mit Juwelen besetzte Kronen, sogar mumifizierte Hunde. Er grinste bei der Vorstellung, wie Martin hoch droben auf einer Wolke saß, versunken in die Gesammelten Werken von William Shakespeare und dabei an seiner Pfeife zog, die Lieblingspantoffeln an den Füßen, auf dem Rücken zwei eingeklappte Flügelchen.
Weiter vorn brüllte jemand und zeigte auf die Pyramide. Die Gruppe von Menschen vor ihm blieb geschlossen stehen und wandte sich um. Eine Woge der Aufregung fuhr durch die Menge. Ein Gewehrschuss ertönte. Trevor hob den Kopf und schaute ebenfalls nach oben. Im oberen Drittel auf der Vorderseite der Pyramide plagte sich jemand von Stein zu Stein, und eine zweite Person folgte mehrere Etagen weiter unten. Am Fuß der Pyramide liefen Wachen umher, gestikulierten wild und brüllten auf Arabisch.
»Ein Kletterer«, verkündete ein Mann, der vor Trevor stand, seiner Ehefrau. Beide trugen rot-grün-karierte Bermuda-Shorts und T-Shirts mit dem Logo von Pharaoh Tours. Um ihre Hälse hing ein Knäuel aus Kameras, Ferngläsern und Sonnenbrillen.
»Letzte Woche ist ein Mann zu Tode gekommen, ist von ganz oben heruntergefallen«, sagte die Frau und hielt sich die Hand vor die Augen, um nicht von der Sonne geblendet zu werden.
Trevor blickte weiter in Richtung des Parkplatzes, um nach Constance zu suchen. Er hasste es, wie das Drama die Menschen anzog, wie sie vereint in der Menge glotzten und gafften und gegenseitig ihre Blutlust stillten. Fast erwartete er, dass sie bald in einen Sprechchor einfallen und »Spring! Spring!« rufen würden. Barbaren. Er blieb stehen und drehte sich um die eigene Achse. Wo zum Himmel war Constance abgeblieben? Er wollte hier weg, und sie hatte ihn wieder mal mit ihrer Tasche zurückgelassen. Hatte sie sich von irgendeinem Kamel ablenken lassen oder von einer weiteren Zufallsbekanntschaft? Er rieb mit den Fingerknöcheln über seine ausgetrockneten Lippen und suchte in der Segeltuchtasche nach Wasser: Bürstchen, zwei Ehegatten, kein Wasser. Moment mal. Zwei Ehegatten? Abrupt drehte er sich um, kniff die Augen zusammen und fixierte die Gestalt, die in den obersten Höhen der Pyramide herumkletterte. Dann rannte er zurück zu der Gruppe und griff nach dem Arm des Amerikaners in den Bermuda-Shorts.
»Ich brauche Ihr Fernglas«, brüllte er.
Der Mann wich erschrocken zurück.
»Jetzt!« bellte Trevor, griff sich das Fernglas vom Hals des überrumpelten Touristen und hielt sich das Visier vor die Augen. Er fummelte, um die Schärfe richtig einzustellen, dann, als das Bild klar wurde, hielt er die Luft an.
»Oh, mein Gott«, murmelte er leise vor sich hin.
Constance wagte nicht, nach unten zu blicken. Anfangs hatte sie Angst gehabt, die Steinblöcke seien zu groß, zu glatt von Jahrhunderten Verschleiß und Witterung, um daran emporzuklettern, aber darüber hätte sie sich keine Sorgen machen müssen, denn es gab jede Menge Haltegriffe und Fußstützen. Das Problem war, dass sie schon jetzt den Sog der Pyramide spüren konnte, genau wie Iris gesagt hatte. Der innere Drang den Sprung in die Leere zu wagen — vielleicht war es auch einfach nur die Anziehungskraft der Erde — lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zum Boden, wo sie eigentlich hingehört hätte. Die Idee, mit Thomas, der in einer Plastiktüte an ihrem Gürtel hing, auf die Pyramide zu klettern, hatte sie spontan in dem Moment bekommen, als sie hörte, wie ihr Reiseführer über die Maße des Bauwerks und seine illustre Vergangenheit erzählte.
Gregory hatte als Kind unter Höhenangst gelitten. Sie war gezwungen gewesen, jedes Mal seine Hand zu halten, wenn sie die Brücke überquerten, die unweit ihres Zuhauses über den Red River führte. Auf der ganzen Strecke war der Junge in Tränen aufgelöst gewesen und hatte es nicht ein Mal geschafft, nach unten auf die Boote zu schauen, die auf dem Fluss kreuzten, etwas, was er normalerweise von Herzen gern sah. Höhenangst war es aber nicht, was sie jetzt davon abhielt, nach unten zu blicken, sondern vielmehr die Angst, sie würde es dann nicht mehr bis ganz nach oben schaffen. Sie blickte empor zur Spitze der Pyramide und in den heißen, weißen Himmel, der sich darüber auftat. Was, wenn sie ihr Ziel nicht erreichte? Thomas, der Meister der unerfüllten Träume, zählte auf sie.
Sie konnte den jungen Ägypter hören, der ihr weiter unten folgte, konnte hören, wie Gesteinsstücke, die er mit dem Auftritt seiner Stiefel löste, krachend in die Tiefe fielen und wie sein Atem keuchte; sie nahm an, dass er Raucher war wie die meisten jungen Männer, die sie bisher in Kairo gesehen hatte. Donald hatte geraucht, eine widerliche Angewohnheit, die sie verabscheute. Sie hatte die dreckigen Aschenbecher gehasst, die überall im Haus standen, den Gestank seiner Kleidung und wie ekelhaft sein Mund schmeckte, wenn er sie küsste. Selbst als Susan als Baby an Asthma gelitten hatte, hatte sie ihn nicht dazu bewegen können aufzuhören. Am Ende hatten die Zigaretten ihm den Garaus gemacht. Sie fühlte einen Anflug von selbstgerechter Schadenfreude in sich aufsteigen, aber im nächsten Moment schämte sie sich ihrer selbst.
Das Schild war deutlich gewesen, in fünf verschiedenen Sprachen. Auf die Pyramiden zu klettern ist verboten. Normalerweise befolgte sie Gesetze und Verordnungen, doch seit Martins Tod ging sie häufiger schon mal bei Rot über eine Ampelkreuzung. Überquerte Straßen sogar an Stellen, an denen es absolut verboten war. Einmal hatte sie aus einer Drogerie in Sooke einen Schlüsselanhänger gestohlen, obwohl sie gar keinen brauchte. Als sie ihre Verfehlungen Iris gebeichtet hatte, hatte ihre Freundin gelacht. »Du bist fast achtzig, und endlich rebellierst du. Hat es dir wirklich genutzt, dein Leben lang anständig gewesen zu sein?« Vielleicht hatte Iris recht. Bisher hatten ihre kleinen Meutereien keine Bankräuberin oder Mörderin aus ihr gemacht.
Der Wind wurde stärker, je höher sie kletterte. Jetzt war sie dankbar für die Fitnesskurse, die sie mit Iris im Gemeindezentrum besucht hatte. Dennoch musste sie zwischendurch Pausen einlegen, um wieder zu Atem zu kommen; dabei behielt sie aber immer im Auge, wie weit der Wachmann, der ihr folgte, noch von ihr entfernt war. »Stopp!«, rief er ihr alle paar Minuten in krächzendem Englisch zu.
Die Spitze konnte nicht mehr weit sein, obwohl das schwer zu sagen war. Als sie nach oben blickte, blendete sie die Wüstensonne. Sie blinzelte und konnte nicht mehr klar sehen, weil sie von dem grellen Licht jetzt dunkle Flecken vor den Augen hatte. Sie versuchte zu ignorieren, wie erschöpft sie sich fühlte, bei jedem Haltegriff, bei jeder Fußstütze ein bisschen mehr. Einen Schritt nach dem anderen. Sie konzentrierte sich auf die Maserung des Kalksteins und erging sich in Verwunderung darüber, dass dieser Stein einstmals in der Antike Teil des Meeresbodens gewesen war. Wie sonderbar es war, dass er jetzt in der Mitte der Wüste stand.
In dem Moment, in dem sie vor ihrem geistigen Auge das Bild des Meeresbodens in der Antike sah, wurde ihr klar, dass sie es nicht schaffen würde. Das lag nicht nur daran, dass ihr Verfolger immer näher kam, und es lag auch nicht an ihrer Erschöpfung. Plötzlich spielte es keine Rolle mehr, ob sie auf der Spitze der Pyramide oder auf dem Grund des Meeres war. Sie war Thomas gerecht geworden. Sie, seine Constance, hatte es gewagt zu fliegen.
Mit einer letzten heroischen Anstrengung hievte sie sich auf den nächsten Felsblock. Ihr Rücken protestierte, aber sie hielt sich fest und stellte sich aufrecht hin, so mühsam es auch war. Die Beine ihrer Hose flatterten im Wind. Ihre Hände zitterten, als sie die Plastiktüte vom Gürtel nahm und die Vitamindose herausholte. Sie schraubte den Deckel ab und hielt Thomas empor in den unendlichen Himmel.
Der Amerikaner zerrte an Trevors Arm. »Geben Sie mir mein Fernglas zurück, Sie Dieb.« Seine Frau beschwerte sich lautstark im Hintergrund. Trevor schenkte beiden keine Beachtung, war ganz auf Constance fixiert, die auf einer Felsplatte nur drei Etagen von der Spitze entfernt festzusitzen schien, der Wachmann nicht weit von ihr entfernt. Die Menschenmenge um ihn jubelte ihr zu. »Sie wird es schaffen! Geh weiter! Bleib jetzt nicht stehen!«
Durch das Fernglas beobachtete er, wie Constance sich wacklig auf die Füße stellte und den Arm hob. Die wartende Menschenmenge wurde still, als ihr Verfolger auf den Fels hinter ihr kletterte. Aus ihrer Hand stieg eine Staubwolke empor und wurde sofort von einer Brise erfasst. Die Wolke, von der Trevor wusste, dass sie aus Asche bestand, drehte sich zu einem Wirbel und verschwand dann im Wind. Trevor konnte wegen ihres Hutes ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen, aber er ging davon aus, dass Constance lächelte und ein paar Tränen vergoss und dass sie ein Liedchen aus den Zwanzigerjahren summte, mit dem sie dem Penner aus Vancouver ein Ständchen brachte, weil er es endlich nach Ägypten geschafft hatte.
Der Wachmann schlug sich den Arm vors Gesicht, als die Asche hoch- und an ihm vorüberwirbelte. Er fiel auf die Knie, und seine Brust ging schwer auf und nieder. Constance wandte sich um und kniete sich neben ihn. Ein Taschentuch erblühte in ihrer Hand wie eine Blume. Sie wischte damit über die Kleidung des Mannes, dann half sie ihm, sich hinzusetzen. So hingen die beiden zehn Minuten auf dem Felsblock herum, wobei Constance die ganze Zeit in Bewegung war, weil sie redete. Ihre Hände flatterten auf eine Weise, die Trevor bereits zu vertraut war. Endlich begannen die zwei mit ihrem Abstieg.
Trevor gab dem Amerikaner das Fernglas zurück, der es ihm mit einem Blick der Verachtung aus den Händen riss und dann davonstolzierte, die Gattin im Schlepptau. Eine Stunde später sprang Constance von der letzten Stufe auf den Boden. Trevor sah sich ihr Gesicht genau an und war erleichtert, dass sie lediglich müde wirkte. Unter ihren Füßen knirschten die Bröckchen zerbrochenen Kalksteins, und sie stolperte. Ihr Gesicht war bleich, doch lächelte sie dem schweigenden Publikum zu, das sie erwartete.
»Es ist eine alte Dame«, raunte eine Frau.
Trevor ging auf Constance zu. Er wollte ihr gratulieren, und dann würden sie sich auf den Weg machen können. Doch bevor er zu ihr gelangte, griffen zwei Beamte nach ihren Armen und führten sie ab.
»Warten Sie!«, rief Trevor, aber sie schenkten ihm keinerlei Beachtung. Verdammt noch mal. Er folgte ihnen über das Gelände zu einer flachen Hütte aus Beton mit Metalldach und sah dann ungläubig dabei zu, wie Constance und die Männer darin verschwanden.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Er warf die Sonnenblumentasche auf den Boden und trat dreimal mit den Füßen danach, dann hob er sie aus dem Dreck und lief zum wartenden Taxi.