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Trevor starrte auf das Foto. Ein zusammengewürfeltes Sortiment von Ersatzteilen in ein Dorf weit draußen im afrikanischen Busch schicken? Was weiß ich denn über Reparaturen? Ich fahre meinen Wagen in die Werkstatt, wenn der Ölwechsel ansteht; ich bin ein Verkäufer. Er warf die Fotos und den Brief in eine Schublade. Constance war exzentrisch wie eh und je. Er schaltete das Eishockeyspiel ein und machte es sich auf dem Sofa bequem. Seine Finger rochen schwach nach Rosenblüten.

In den nächsten paar Wochen konnte Trevor nicht aufhören, an Constance und ihren Brief zu denken. Er erwischte sich dabei, wie er aus dem Fenster seines Büros auf den Parkplatz hinausstarrte, obwohl er ein Dutzend Berichte zu schreiben und Reisen zu planen hatte. Bei einem ihrer Verkaufstreifen, das sie jeden Mittwoch abhielten, stellte Andy ihm dreimal die gleiche Frage, bevor Trevor es mitbekam und nach Worten suchte, um sie zu beantworten. Er konnte einfach nicht dahinterkommen, wo das eigentliche Problem lag. Um Constance machte er sich keine Sorgen. Bei Gott nicht, denn sie hatte ja einen löwentötenden Massai-Krieger, der sie bewachte. Und überhaupt, was ging das Ganze ihn an?

Sein elektrischer Bleistiftanspitzer rückte das Problem ins rechte Licht. Der Anspitzer gab den Geist auf, er spitzte nicht mehr. Statt die Kuppe des Bleistifts zu einer tödlichen, effizienten Spitze zu schleifen, zermahlte die Maschine sie zu einem stumpfen Stummel. Er versuchte, das Problem im Alleingang zu lösen, und saß am Ende vor einer Kiste voller Einzelteile. Im Vorratsraum versicherte man ihm, er könne innerhalb einer Woche einen neuen Anspitzer bekommen, doch trug er stattdessen einen ganzen Karton voller Bleistifte zum Empfang und spitzte sie alle, einen nach dem anderen, dort. Als er den letzten Bleistift in das Loch steckte, kam ihm die Antwort. Er hasste kaputte Sachen. Bei ihm zu Hause war nichts länger als einen Tag kaputt. Er scheute weder Kosten noch Mühe, hochwertige Möbel und zuverlässige Elektrogeräte in Geschäften zu kaufen, die über fähige Kundendienstabteilungen verfügten. Der Gedanke an einen Traktor, an einen seiner Traktoren, der in den Tiefebenen von Afrika vor sich hin rostete, mit Hyänenpisse an den Reifen und mit von Löwenzähnen zerbissenen Sitzpolstern, ließ ihn in der Nacht nicht schlafen. Er redete sich erfolgreich ein, dass seine Unruhe nichts mit Constance zu tun hatte und mit der Gefälligkeit, um die sie ihn gebeten hatte.

Er lief durch die Halle, um mit Andy zu sprechen, der seit fünfunddreißig Jahren bei der Firma war. Trevor klopfte an die offen stehende Tür.

» Trevor«, sagte Andy. Sein Stuhl quietschte, als er sich zurücklehnte. Er hatte zugenommen, und die Knöpfe seines Hemdes klafften über dem Bauch auseinander. »Was gibt’s?« Andy reiste überhaupt nicht mehr. Im Laufe der Jahre, die Trevor ihn jetzt kannte, war ihm das Haar ausgefallen. Er spielte an den Wochenenden Golf, und auf dem Schreibtisch häuften sich Fotos von seinen Enkelkindern.

»Hi Andy.« Trevor setzte sich. »Ich habe einen Vorschlag zu machen. Im Hinblick auf Nachbetreuung.«

»Nachbetreuung?« Andy zog die buschigen Augenbrauen in der Mitte seiner Stirn zusammen. »Was meinst du damit?«

»Können wir bei internationalen Verkäufen unsere Nachbetreuung verbessern?« Trevor wusste selbst nicht so recht, wofür er sich hier eigentlich einsetzte. Er hatte seine Verkäufe nach Übersee hinterher noch nie weiterführend betreut. »Du weißt schon. Sind die Kunden zufrieden? Was tun sie, wenn sie Ersatzteile brauchen?«

»Das liegt beim jeweiligen Käufer«, erwiderte Andy. »Wenn sie uns um Ersatzteile bitten, schicken wir ihnen welche, aber dafür sind sie selbst verantwortlich. Das lass mal deine Sorge nicht sein. Du verkaufst ihnen das Zeug, Trev, und ich bin glücklich.«

»Wir bekommen nicht viele Anfragen für Ersatzteile, oder? Man möchte doch annehmen, dass die Geräte hin und wieder kaputtgehen.«

»Da müsstest du dich bei der Teilefertigung erkundigen.«

Trevor nickte bedächtig. »Nun denn, danke.« Er stand auf und wollte wieder gehen, aber Andy bedeutete ihm, noch einmal Platz zu nehmen.

»Alles in Ordnung mit dir?« Andy verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist in der letzten Zeit viel unterwegs gewesen. Mir ist aufgefallen, dass du... abgelenkt bist.«

»Es geht mir gut«, gab er zur Antwort.

»Na ja, überleg doch mal, ein, zwei Wochen freizunehmen«, meinte Andy. »Unser bester Verkäufer muss fit sein.«

Trevor fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und eilte über den Hof zur Abteilung für Teilefertigung und Kundendienst. Er erkannte den Mann am Schalter nicht, doch war der Name Sid auf dessen grünen Overall gestickt.

» Trevor, Sie sieht man ja nicht allzu oft hier unten«, meinte Sid. »Was kann ich für Sie tun?«

Trevor war erstaunt, dass Sid wusste, wie er hieß; er kam nur ganz selten in die Lagerhalle und erinnerte sich nicht, das Gesicht des Mannes bei Mitarbeitertreffen schon mal gesehen zu haben. »Bekommen wir von unseren Entwicklungshilfe-Kunden viele Anfragen wegen Ersatzteilen?«, fragte er.

»Ganz selten.« Sid steckte seinen Bleistift hinter sein Ohr und sah Trevor neugierig an.

»Man möchte aber doch annehmen, dass an den Maschinen hin und wieder mal was kaputtgeht.«

»Möchte man annehmen. Aber entweder die Leutchen da drüben haben andere Quellen, um an Ersatzteile ranzukommen, oder aber unsere Traktoren gehen nie kaputt.«

»Ist das nicht eher unwahrscheinlich? Wir haben in den letzten paar Jahren Hunderte von Traktoren ausgeliefert.«

Sid zuckte mit den Achseln. »Vielleicht sind die nicht durchorganisiert. Sie kennen diese Länder doch besser als sonst einer.« Er stützte sich auf die Theke. »Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«

»Eine Sache noch.« Trevor griff in die Tasche seiner Hose und zog einen Zettel heraus. »Hören Sie zu, ja?«

Sid klopfte mit seinem Bleistift ungeduldig auf einen Zettelblock.

»Ach, ist schon gut«, murmelte Trevor. »Danke.« Er steckte das Blatt Papier in die Hosentasche zurück und ging.

15.März 1985

Malindi, Kenia

Lieber Trevor,

an der Wand des Zuges, der von Nairobi zur Küste fährt, hängt ein Schild, auf dem es heißt: Keinem Geistesgestörten, gleichgültig, ob er von einer Aufsichtsperson begleitet wird oder nicht, ist es gestattet, mit diesem Zug zu fahren. Eine amtliche Verfügung der Kenya Railways Corporation. Sie haben mich mit dem Zug fahren lassen, mein lieber Junge. Sie dürfen also ganz beruhigt sein, dass ich nicht geistesgestört bin.

Hier bin ich nun am Indischen Ozean. Meine Reiseführerin Rebecca hat das Foto mit einer Unterwasserkamera aufgenommen. Sie war einverstanden, die Jungs in ihrer Netztasche mitzunehmen. Wir haben sich er gestellt, dass sie wasserdicht verpackt waren, luftdicht verschlossen und schwimmfähig. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, sie an Land zurückzulassen.

Das Wasser hier ist wie eine Badewanne, so ganz anders als der Ozean vor Victoria, wo ein Mensch innerhalb von fünf Minuten zum Eisberg erstarrt. Die Fische, die es hier am Riff gibt, haben bizarre Formen und erstaunliche Farben. Wenn man ganz still neben den Korallen im Wasser treibt, kann man hören, wie die Fische fressen.

In der vergangenen Woche habe ich Lamu besucht, eine fast ausschließlich von Muslimen bewohnte Insel südlich der Grenze zum Sudan, einen romantischen Ort mit engen, sich windenden Straßen und wundervollen Fischgerichten. Die Kunstgewerbler von Lamu schnitzen hervorragende Türen und Möbel (siehe beiliegendes Foto). Meilenweit nichts als weiße Sandstrände und keine Menschen. Auf dem Weg zum Strand habe ich in einem Mangohain einen Friedhof gefunden. Muslime machen nicht viel Aufhebens um den Tod; der Leichnam wird in schlichte Tücher gewickelt, und es werden Gebete gesprochen.

Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass der Indische Ozean nicht der rechte Ort für Donald ist. Ist dem Himmel zu ähnlich. Wissen Sie, Trevor, wenn ich über mein Leben mit Donald nachdenke, empfinde ich Scham. Weil ich zugelassen habe, in einer dermaßen schlechten Ehe zu leben. Weil ich meinem Vater und Donald die Macht gegeben habe, mich da hineinzuzwingen. Frauen haben sich damals mit den Dingen abgefunden. Ich bin froh, dass die jungen Frauen heutzutage mehr Durchsetzungsvermögen haben. Und ich bin überzeugt, dass Ihre Freundin Angela sagt, was sie denkt. Sie lassen sie reden, das weiß ich und finde es rührend. Aber jetzt hole ich alles nach, nicht wahr?

Morgen fahre ich wieder nach Nairobi. Am Mittwoch fliege ich dann nach Neu-Delhi.

Ein Papageienfisch ist mir heute nachgeschwommen. Ich habe ihn Trevor genannt, nach Ihnen. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus. Irgendwie fühlte ich mich sicher in seiner Nähe.

Alles Liebe,

Ihre Freundin Constance

Trevor und Angela lagen nebeneinander auf dem Rücken im Dunkel von Trevors Schlafzimmer, glitschig vom Schweiß und keuchend von der Anstrengung der letzten anderthalb Stunden. Das Bettzeug und beide Kissen waren irgendwann und irgendwie neben das Bett auf den Fußboden gefallen. Abgesehen von ihren Atemzügen und dem Summen des Kühlschranks, das zwischendurch immer wieder ertönte, war es still in der Wohnung. Von draußen waren die Klänge des nächtlichen Calgary zu hören: in der Ferne das Dröhnen des Verkehrs auf dem Blackfoot Trail, das gelegentliche Pfeifen eines Zuges der Canadian Pacific Railway und die leise, gedehnt klingende Musik aus der Cowboybar, die gleich auf der anderen Seite des Flusses lag. »Spitzenleistung«, frotzelte Angela.

»Mmm, danke«, murmelte Trevor. »Deinerseits ebenfalls.« Angela drehte sich um, glitt vom Bett und tappte barfuß Richtung Bad. Als sie den Schalter drückte, ergoss sich das Licht auf den Schlafzimmerteppich. Er drehte sich auf die Seite und stützte seinen Kopf auf einer Hand ab, sodass er sie dabei beobachten konnte, wie sie sich bewegte. Sie hatte aufregende Beine. Und einen tollen Hintern. Angela schloss die Badezimmertür, doch war immer noch ein Spalt Licht unter dem Türrand zu sehen. Die Spülung wurde betätigt, und er konnte hören, wie Wasser ins Waschbecken platschte. Sein Körper fühlte sich entspannt und warm an, genauso wie wenn er lange gejoggt war.

Die Badezimmertür öffnete sich, sie trat heraus, und vor der Hintergrundbeleuchtung zeichneten sich die Konturen ihres Körpers ab. Sie durchquerte das Zimmer und hob ihre Jeans vom Boden. Trevor mochte ihr Haar, das sie jetzt länger trug, und die Art, wie es ihr wie ein Vorhang über die Schultern fiel und die Außenseiten ihrer Brüste streifte. Schön, auf eine leise, nicht anmaßende Weise.

»Was gaffst du denn so an?«, fragte Angela und ließ eines ihrer Beine in ihre Jeans gleiten.

»Dich«, antwortete Trevor. »Wo willst du hin?«

»Nach Hause, wie immer.« Sie zog ihre Jeans über die Hüften und den Reißverschluss zu.

Trevor klopfte mit der flachen Hand aufs Bett. »Komm her.«

»Gott, die müssen dir in Ägypten einen Potenzzaubertrank ins Essen geschüttet haben.« Sie schüttelte den Kopf und streifte ihr Sweatshirt über.

»Du hast dich total verändert, seit du von da zurückgekommen bist. Nein, du hast mich vollkommen alle gemacht. Ich kann kaum noch laufen.«

»Nein, nicht das«, sagte Trevor. »Ich meine, komm her und lass uns reden.«

»Reden?«

»Ja, reden.«

Angela, die gerade eine grüne Wollsocke über einen ihrer Füße stülpte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Reden? Zu so später Stunde? Ich muss Zusehen, dass ich nach Hause komme und schlafe. Außerdem steht mir nicht der Sinn danach, mich über Arbeit zu unterhalten. Oder über Eishockey.«

»Wir können reden, worüber du reden möchtest.« Trevor strich mit der Hand das Stück Bettlaken neben sich glatt. »Komm schon. Morgen ist Sonntag. Eine Nacht?«

Angela ließ einen ihrer Laufschuhe fallen. Er schlug mit einem dumpfen Knall auf den Teppich. Sie richtete sich auf. »Hierbleiben? Ich dachte, wir hätten eine Abmachung.«

»Die haben wir gemacht, also können wir sie auch ändern«, gab Trevor zur Antwort.

»Was?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich muss am Montag um acht bei Gericht sein. Ich habe jede Menge Arbeit.« Sie hob ihren Schuh auf. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, ich bin okay.«

»Ich meine, falls irgendetwas nicht stimmt und du darüber reden möchtest, könnte ich noch ein bisschen bleiben.«

»Nein, es ist alles in Ordnung.« Trevor setzte sich auf. »Ich wollte dich was über deine Großmutter fragen.«

»Meine Großmutter?« Angela runzelte die Stirn und zog zugleich die Nase kraus, eine Angewohnheit, die Trevor jedes Mal aufs Neue reizend fand.

»Ja, hattest du eine?« Er setzte sich weiter auf und stopfte sich ein Kissen in den Rücken.

»Selbstverständlich hatte ich eine Großmutter«, erwiderte Angela mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. »Jeder hat eine Großmutter.«

»Ich hatte keine. Ich meine, keine, die ich je kennengelernt habe.«

»Oh.« Sie ließ ihren zweiten Schuh fallen und hockte sich auf das Fußende des Bettes. »Was soll das Ganze?«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe dich einfach nur nach deiner Großmutter gefragt.«

»Du... du hast mich bisher noch nie nach meinem Leben gefragt, nur immer nach meiner Arbeit«, antwortete sie. »Ist das nicht auch gegen die Regeln?«

»Wie ich schon sagte, wir haben die Regeln aufgestellt. Hast du sie oft gesehen?«

»Oft? Jeden Tag. Meine Oma hat bei uns gelebt. Sie hat uns versorgt, während meine Eltern die Farm bewirtschaftet haben.«

Trevor hob die Brauen. »Du bist auf einer Farm aufgewachsen? Ich auch. Wo?«

»Du auch?« Sie sah geschockt aus, fasste sich aber. »Unsere Farm ist in der Nähe vom Swede Lake, zwei Stunden südlich von hier. Wir bauen Weizen und Luzerne an, haben ein Dutzend Rinder und Hühner. Und wir haben einen großen Nutzgarten. In dem habe ich meiner Großmutter geholfen, als sie noch lebte.« Ein Lächeln legte sich auf Angelas Lippen. »Sie war eine tolle Frau.«

Trevor beugte sich vor. »Inwiefern? Inwiefern war sie toll?«

»Na ja... sie hatte ihr Leben lang auf dieser Farm gelebt. Sie und mein Opa waren aus Schweden hierher ausgewandert und bewirtschafteten das Land. Meine Mom und mein Dad tun es jetzt zusammen mit meinem Bruder.«

»Du bist aber nicht geblieben?«

»Nein, ich bin zur Uni und habe Jura studiert.«

»Und deine Großmutter?«

»Sie starb vor etwa acht Jahren. Kurz nachdem ich mein Examen bestanden hatte.« Angela zeichnete mit der Fingerspitze ein Muster auf das Bettlaken. »Weißt du, ich glaube, dass sie gewartet hat, bis ich mit dem Studium fertig war. Sie bestand darauf, dass ich zur Universität ging. Etwa eine Woche nach meinem Abschluss ging sie abends ins Bett und wachte nie wieder auf.«

»Das... das tut mir leid.« Trevor strich mit seiner Hand über ihren Arm.

Sie zuckte und zog den Arm weg; ein Hauch von Röte legte sich auf ihre Wangen. »Sie... hat mir alles über diese Farm beigebracht. Ich habe die ganzen Sommer mit ihr im Garten verbracht. Wir haben über einen Morgen Land bepflanzt: Erbsen, Karotten, Kartoffeln, Mais, Salat, Rote Bete, Himbeeren, Erdbeeren.« Angela kicherte. »Du würdest es nicht glauben, aber ich weiß, wie man grüne Bohnen einmacht.«

»Igitt, grüne Bohnen.« Er streckte seine Zunge heraus. »Meine Mutter machte immer grüne Boh...«, mitten im Satz stockte er. »Wo kam das denn jetzt her?«

»Wo kam was her?«

»Diese Erinnerung. Ich erinnere mich nicht an meine Mutter, wie sollte ich mich also daran erinnern, dass sie grüne Bohnen einkochte?«

»Deine Großmutter meinst du.«

»Nein, meine Mutter. Ich erinnere mich an keinen von ihnen. Meine Mutter, mein Vater, meine Großmutter, mein Großvater. Alle tot, bevor ich sechs Jahre alt war.«

»Gott... sechs.« Angela atmete langsam aus. »Wer hat dich großgezogen?«

»Die Schwester meiner Mutter und deren Mann. Und großgezogen würde ich das nicht nennen. Eher geduldet. Ich hatte aber meinen Bruder, Brent.« Trevor lehnte sich wieder zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. »Ich habe ihn nicht gesehen seit... lass mich mal nachdenken... seit Tante Gladys’ Beerdigung vor fünfzehn Jahren.«

»Wo lebt er?«

»Ich weiß es nicht. Nach dem, was ich als Letztes gehört habe, arbeitet er als Fernfahrer.«

»Ach ja.« Angela hielt inne. »Du bist ganz allein.«

»So ist es«, gab Trevor zur Antwort. »Wenn man von Constance absieht.«

»Constance?«

»Eine Freundin.«

»Ich dachte, du hättest gar keine Freunde.«

»Selbstverständlich habe ich Freunde.«

»Nenn mir einen.«

»Na ja, da ist Constance.«

»Und außer Constance?«

»Du.«

»Ist es das, was ich für dich bin... eine Freundin?«

Er rollte sich vor auf seine Hände und Knie und rutschte über das Bett auf sie zu. »Bleibst du hier?«

Sie schüttelte den Kopf, aber diesmal rückte sie nicht weg von ihm. Sie starrten einander an. Sie suchte in seinem Gesicht, suchte von oben nach unten, von der einen Seite zur anderen, als sei sie auf der Jagd nach einem Zeichen, das in der Art verborgen lag, wie er seinen Mund hielt, oder im Richtungsverlauf der Fältchen an den Außenseiten seiner Augen, ob die nach oben oder nach unten wiesen. Er rutschte näher. Ihre Augen weiteten sich, als er seinen Kopf in den Nacken legte und sie auf den Mund küsste, das erste Mal, dass er Angela überhaupt küsste, ohne Sex zu wollen. Er tauchte ein in den Duft ihrer Haut, spürte die winzigen Fältchen in ihren weichen Lippen und sog den warmen Atem, der aus ihren Nasenlöchern auf seine Wange strömte, in sich auf. Er hatte den inneren Drang, ihr irgendetwas zu geben, aber er wusste nicht, was.

Ohne jede Vorwarnung stand Angela plötzlich auf, und Trevor kippte vornüber auf die nunmehr freie Stelle auf der Matratze. Sie hüpfte auf dem einen Fuß, während sie sich den anderen Schuh anzog. »Es tut mir leid, Trevor. Ich muss gehen. Das hier... das hier ist zu merkwürdig, verstehst du. Es geht gegen all unsere Abmachungen.«

Trevor glitt vom Bett, um ihr ins Wohnzimmer zu folgen, doch sie drehte sich um und hielt ihm die flache Hand vor die Nase. »Nein, bitte, ich finde allein den Weg. Ich weiß, dass ich für das hier noch nicht bereit bin. Und ich glaube auch nicht, dass du es bist.« Sie riss ihren Mantel von der Garderobe an der Wand und warf die Tür hinter sich ins Schloss.

Trevor schob den Türriegel vor und lehnte seine Stirn gegen die Tür. Warum hatte er sie auf diese Art und Weise geküsst? Was hatte er sich dabei gedacht? Er hätte sie nicht bitten dürfen, über Nacht zu bleiben. Es ging gegen all seine Prinzipien. Er lief durch die dunkle Wohnung zum Wohnzimmerfenster und blickte — immer noch nackt — nach draußen auf die nächtliche Skyline von Calgary. Was wollte er? Sein Leben allein verbringen? Verdammt, er wusste nicht, wo sich der einzige Bruder herumtrieb, den er hatte, und sein einziger Freund war eine übergeschnappte alte Frau, die mit toten Ehemännern in der Tasche um die Welt reiste. Constance und ihre drei Ehemänner. Drei. In einem Menschenleben. Er hatte noch keine einzige feste Beziehung gehabt. Das, was ihn mit Angela verband, konnte er keine Beziehung nennen. Ihre Unterhaltungen beschränkten sich darauf, wie gut der Sex gewesen war oder wer beim Hockey den Schlagschuss hätte ausführen sollen. Angela hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Er konnte über nichts anderes reden als über Arbeit und Eishockey. Er war noch nicht so weit. Er würde gar nicht wissen, was er mit einer Ehefrau anfangen sollte.

Schließlich ging er zurück ins Schlafzimmer. Und jetzt würde Angela ihn nicht wiedersehen wollen. Sein ganzer Körper schmerzte bei dem Gedanken.