5

Das Rollfeld verströmte die gespeicherte Hitze des Tages, als die Passagiere von Cairo Air Flug 2374 durch die schwüle Nachtluft auf das Flughafengebäude zuliefen. Constance bückte sich, stellte ihre Tasche auf den harten, schwarzen Asphalt, und dann breitete sie die Arme aus, als wolle sie ganz Afrika umarmen. Noch war sie nicht in Schwarzafrika, dem tiefen, wilden Herz des Kontinents, doch waren dies ihre ersten Schritte auf seiner urtümlichen Erde. »Ich kann nicht fassen, dass wir in Ägypten sind«, rief sie aus, warf ihren Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Die Luft roch vornehmlich nach Abgasen und schmelzendem Teer statt nach großen Tierherden und Wildnis.

»Nicht lange.« Trevor blieb stehen und glitt mit den Augen über die Düsenmaschinen, die auf dem Rollfeld standen. »Wo ist unser Anschlussflug?«

»Muss doch ein Kamel auf der Startbahn gewesen sein«, meinte Constance und klemmte sich ihre Tasche unter den Arm. »Kein bisschen Sand hier.« Das Bild, das sich vor ihr auftat, war nicht, was sie erwartet hatte. Allerdings war sie inzwischen eine erfahrene Reisende und wusste, dass der erste Eindruck oftmals trog. Sie erinnerte sich, wie sie nach ihrem ersten Flug weg von ihrem Zuhause mitten in der Nacht in Amsterdam angekommen war. Ein Taxi hatte sie — nach dem langen Flug erschöpft und verwirrt — vor ihrem Hotel abgesetzt, einem heruntergekommenen Gebäude in einer Straße, in der halb bekleidete Frauen in Schaufenstern saßen und Cafés mit Haschisch-Milchshakes Kunden warben. Es war ein fürchterlicher Schock gewesen. Doch ein freundlicher Fremder hatte ihr den Weg gewiesen zu einem anderen Hotel, das sich als sauber und ruhig herausstellte und von dessen Zimmer sie Ausblick auf eine Gracht gehabt hatte. Ein paar Tage später, als sie Amsterdam wieder verlassen wollte, um nach Prag weiterzureisen, hatte sie sich unsterblich in die Stadt verliebt.

Sie folgte Trevor und der auseinanderstiebenden Schlange müder Passagiere durch die doppelten Glastüren in das Gebäude des Flughafens von Kairo. Die Transithalle war ein düsterer Raum, in dem schlafende Reisende mit Turbanen und langen Gewändern oder Jeans und Rucksäcken an der Wand neben der Tür ausgestreckt auf dem Boden lagen oder die Reihen der Plastikschalensitze in der Mitte der Halle belagerten.

Zwei Beamte in Khaki-Uniformen standen genau am Eingang hinter einem billigen Metallschreibtisch, der die gleiche Farbe hatte wie ihre Kleidung. »Ihre Pässe und Tickets bitte.«

Constance und Trevor händigten ihre Dokumente aus. Die Beamten prüften sie und warfen sie anschließend auf einen immer größer werdenden Stapel auf dem Schreibtisch. »Gehen Sie bitte weiter.«

Constance machte ein paar Schritte und blieb dann stehen, um auf Trevor zu warten, der die Schlange aufhielt. »Geben Sie mir meinen Pass zurück«, verlangte Trevor.

»Es tut mir leid, Sir, aber das können wir nicht tun«, erklärte der Mann höflich in einwandfreiem Englisch. »Solange Sie sich in der Transithalle befinden, müssen sämtliche Dokumente im Besitz der ägyptischen Behörden sein. Gehen Sie bitte weiter.« Er wies auf die Gruppe von Passagieren, die sich am anderen Ende des Raums versammelt hatten.

»Wir bleiben nicht. Wir fliegen mit East Africa Air weiter«, wandte Trevor ein.

»Ich bedaure, aber Ihre Maschine ist abgeflogen.« Zum ersten Mal fiel Constance die Pistole am Gürtel des Mannes auf. Sie sah sich die anderen Beamten an, die in der Nähe standen. Sie trugen alle Revolver um die Hüften.

»Abgeflogen? Was meinen Sie mit abgeflogen?« Trevors Gesicht war vor wütender Fassungslosigkeit ganz rot geworden.

Constance ging die paar Schritte zurück, nahm seinen Arm und flüsterte: »Mein lieber Junge, lassen Sie uns tun, was sie sagen.«

»Cairo Air hat gesagt, der Anschlussflug würde auf uns warten.« Er quälte sich damit seine Krawatte zu lockern und brüllte den Mann an: »Wann ist die Maschine abgeflogen?«

»Vor fünfzehn Minuten, Sir. Bitte. Im Speisesaal werden wir Ihnen erklären, wie das heute Nacht abläuft.« Der Mann wandte sich dem nächsten Passagier in der Warteschlange zu, der sich hinter Trevor gedrängelt hatte.

»Die haben Waffen«, flüsterte Constance ihm ins Ohr und steuerte mit ihm auf die anderen Passagiere zu, die sich in der Halle versammelten. »Besser, wir regen sie nicht auf.«

»Aber...«, protestierte er. »Unsere Maschine ist weggeflogen. Vor noch nicht einmal einer halben Stunde. Wie konnten die das tun?« Er starrte sie an, als fiele ihm erst jetzt auf, dass ihre Hand auf seinem Arm lag. »Waffen?«

Sie schlossen sich der wartenden Menschenmenge an, die sich an der Wand zusammengefunden hatte. Constance vernahm deutsche wie auch englische Unterhaltungen. Jeder wirkte erschöpft und entnervt von der unerwarteten Verzögerung in der Planung. Ein Herr in Uniform stellte sich vor die Gruppe und hob die Hände, um damit für Ruhe zu sorgen. »Wenn ich um Aufmerksamkeit bitten darf. Wir möchten Ihnen unser tiefstes Bedauern ausdrücken. Ihr Flug nach Nairobi konnte nicht länger warten. Sie sind Gäste der ägyptischen Regierung. Wir werden Sie in unserem Drei-Sterne-Transithotel unterbringen, Frühstück inklusive«, verkündete er.

»Wann geht unser nächster Flug?«, rief jemand.

»Wir bedauern zutiefst. Ihr nächster Flug geht in einer Woche.«

Ein fassungsloses Schweigen senkte sich über den Raum.

»In einer Woche?« Eine junge Frau in engen Jeans und Pulli kämpfte mit den Tränen. »Aber wir sollen morgen auf Safari gehen. Die dauert nur eine Woche.« Ihr Ehemann stand neben ihr und nickte bekräftigend. Er hielt ein schlafendes Kind in seinen Armen.

»Warum können wir denn jetzt mit keiner anderen Airline fliegen?«, schrie jemand.

»Es gibt keine Flüge«, antwortete der Beamte. Ein Blick, der Genervtheit signalisierte, huschte über sein Gesicht.

»Was ist mit unseren Pässen?«, brüllte ein dürrer Deutscher im Anzug.

»Ihre Pässe werden bis zu Ihrer Abreise im Besitz der Zollbeamten bleiben.«

»Aber wir brauchen unsere Pässe, um nach Kairo reinzukommen, oder nicht?«, protestierte eine deutsche Frau.

»Sie müssen im Transitgebäude und im Hotel bleiben, bis Sie Ägypten wieder verlassen. Wir werden keine Einreisevisa ausstellen. Bitte holen Sie Ihr Gepäck, und gehen Sie damit weiter zum Speisesaal für die Zimmervergabe.« Er drehte sich schwungvoll auf dem Absatz um, hielt dann inne und wandte sich noch einmal der Menschenmenge zu. »Herzlich willkommen in Ägypten.«

Als er weg war, brach die Menschenmenge in eine Kakophonie aus lärmenden Einzelstimmen aus, wie ein Gänseschwarm, der sich von einem Feld erhebt. Constance lief zum Fenster hinüber, das Ausblick über das Rollfeld bot. Sie konnte nicht glauben, was für ein Glück sie hatte. Sie hatte bedauert, keine Zeit in Ägypten verbringen zu können; es war einer von Thomas’ Träumen gewesen, die Pyramiden zu sehen, durch das Tal der Könige zu laufen und auf dem Nil zu segeln. Aber sie hatte sich zwischen Ostafrika und Ägypten entscheiden müssen, da ihr Geld nicht ausreichte um einen extra Zwischenstopp einzulegen. Jetzt hatte das Schicksal interveniert. Das musste ein Zeichen sein.

Trevor trat neben sie, seine Brille in der Hand. »Wie zum Teufel soll ich um halb zwei in der Frühe Nairobi und mein Büro in Calgary kontaktieren?« Er rieb sich über seinen Nasenrücken. »Ich wette, die Telefone funktionieren nicht an diesem gottverlassenen Ort.« Er sah Constance an. »Worüber sind Sie so glücklich?«, knurrte er. »Wir sitzen fest, in Ägypten.«

»Genau.« Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sie sich zu ihm. »Wir sitzen fest, in Ägypten.«

»Gucken Sie nicht so aufgeregt. Es ist nur für eine Nacht«, erwiderte er. »Wo ist denn Ihr Gepäck?« Constance zeigte auf ihren großen weißen Koffer auf dem Gepäckband. Er grunzte, als er ihn anhob. »Was haben Sie da drin?« fragte er. »Noch weitere Ehemänner?«

»Selbstverständlich nicht«, wehrte sie ab, dann fiel ihr auf, dass er scherzte. »Drei waren mehr als genug.«

Der Geruch nach exotischen Gewürzen und ranzigem Olivenöl stach Constance in die Nase, als sie den Speisesaal betraten, einen lang gestreckten, freudlosen Raum, der vollgestellt war mit Holztischen und Stühlen, an der Wand eine Bar. Bunte Fliesen mit geometrischen Mustern schimmerten durch die Schmutzschicht auf dem Fußboden. Einstmals prachtvolle Kronleuchter, auf denen sich der Staub ballte, hingen von der Decke herab. Mehrere Männer, die mit Klemmbrett, Kugelschreiber und der vorschriftsmäßigen Pistole bewaffnet waren, wiesen den Menschen willkürlich Räumlichkeiten zu, die Männer zusammen mit anderen Männern, die Frauen mit Frauen. Sie schenkten den Wünschen der Passagiere keinerlei Beachtung, gleichgültig, ob sie verheiratet oder alleinstehend waren, jung oder alt. Wortgefechte brachen aus; ein deutscher Mann stolzierte davon und ließ seine weinende Gattin bei ihren neuen Zimmergenossinnen zurück.

Trevor lehnte sich gegen die Bar. »Ich würde sogar mit King Kong kampieren, so müde wie ich bin.«

Constance hielt sich mit der Hand an seinem Ellbogen fest und fühlte sich plötzlich erschöpft wie schon lange nicht mehr. So abenteuerlich die Situation auch war, so brauchte sie doch ein Bett und ein vertrautes Gesicht. Als der Beamte mit den Fingern auf sie beide zeigte, hängte sie sich bei Trevor ein, und als er auf sie herabblickte, starrte sie geradewegs geradeaus, denn sie wollte nicht wissen, was er dachte. Und erst recht wollte sie nicht allein sein.

»Sie... und Sie.« Der Mann zeigte auf Constance und auf zwei große, dicke, schwitzende Engländerinnen, die an einem der Tische saßen. »Zimmer 205.«

Constance schüttelte den Kopf.

Der Beamte wiederholte seinen Befehl, und eine der Engländerinnen griff sich Constance’ freien Arm. »Lassen Sie uns tun, was er sagt, damit wir heute Nacht ein paar Stunden Schlaf bekommen«, versuchte die Frau sie in breitem Cockney-Dialekt zu überreden.

»Constance«, drängte Trevor. »Gehen Sie mit ihnen.«

Constance umklammerte Trevors Arm nur noch fester, dankbar, dass er sich daraufhin nicht rührte oder versuchte, ihren Arm aus seinem zu lösen. Sie war es leid, von Männern herumkommandiert zu werden. Martin war ein lieber Kerl gewesen, hatte sie immer nach ihrer Meinung gefragt, war interessiert gewesen an ihren Ideen, aber Donald und sogar Thomas hatten sich aufgeführt, als habe sie keinen Funken Verstand im Schädel. Der Beamte umfasste mit einer seiner Hände fest ihr Handgelenk und versuchte sie loszureißen. Sie beschwor ihre letzten Energiereserven, starrte ihm in die Augen und drückte mit ihren Fingern nur noch fester zu.

Trevor verzog das Gesicht und blickte auf Constance nieder. Sie wirkte gebrechlich, kraftlos, als könne ein Windhauch sie umstoßen, und aus einem Riss in den Tiefen seines Körpers stieg Mitgefühl empor wie ein Sprühstoß Dampf aus einem Spalt in der Erde. »Nehmen Sie Ihre Pfoten von ihr«, verlangte er.

Constance vergrub ihr Gesicht in Trevors Armbeuge und fing an zu weinen. Der Beamte seufzte und ließ ab von ihr. »Ihre Mutter?«, fragte er Trevor.

Trevor hielt inne, und das Gesicht der Frau aus seinem Traum glomm in seiner Erinnerung auf wie eine sich windende Feuerflamme. Als Constance ihm auf der Innenseite seines Arms in die Haut kniff, zuckte er zusammen. »Ja«, sagte er. »Sie ist meine Mutter.«

Ein barfüßiger Hotelpage, nicht älter als zwölf, in verdreckten Hosen und einem T-Shirt der New York Isländers, quälte sich mit Constance’ großem Koffer drei Etagen über die Treppe. Nackte Glühbirnen erhellten die langen, kahlen Korridore.

»Drei-Sterne-Hotel?«, schnaubte Trevor. Seine Reisebegleiterin schien sich erholt zu haben und schwatzte auf den Hotelpagen ein. Sie sprach über das Wetter und fragte nach seiner Familie, obwohl es so schien, als spreche der Junge nur wenige Worte Englisch. Bis sie ihr Zimmer erreicht hatten, waren sie und der Junge bereits ausreichend miteinander bekannt, sodass sie ihn umarmte und es anschließend Trevor überließ, ihm von den paar kanadischen Münzen, die er in der Tasche hatte, Trinkgeld zu geben. Der Junge machte einen Diener, murmelte etwas auf Arabisch und machte sich dann davon. Bevor er davonhuschte, wies er den Korridor hinunter. Trevor zerrte

Constance’ Koffer über die Türschwelle in den Raum, in dem ein Einzel- und ein Doppelbett standen.

»Vielen Dank, mein lieber Junge, stellen Sie den Koffer darauf.« Constance zeigte auf das größere der beiden Betten. Zu abgekämpft um zu streiten hievte Trevor den Koffer auf die Matratze. Die metallenen Sprungfedern quietschten aus lauter Protest.

»Hübsches Zimmer«, meinte Trevor voller Sarkasmus, während er den schmutzigen Putz an den Wänden auf sich einwirken ließ, den einsamen Stuhl, der genauso aussah wie die im Speisesaal, und die kitschigen Postkartenmotive ägyptischer Touristenfallen, die gerahmt an den Wänden hingen. Der rotschwarze Fliesenboden musste dringend gefegt werden, allerdings sah er keine Anzeichen für Insekten, und die Bettlaken schienen sauber zu sein. Ein hohes vergittertes Fenster ohne Glas umrahmte die dunkle Nacht.

Er zog seine Schuhe und die Socken aus und warf sich auf die kaum beanspruchte Matratze. Constance öffnete ihren Koffer und zog Sachen heraus, dann drehte sie sich mit einem seidenen Nachthemd und einem Bademantel in der Hand zu ihm und räusperte sich. Als Trevor nicht darauf reagierte, räusperte sie sich abermals.

»Was?«, fragte Trevor mit gedehnter Stimme, schon halb eingeschlafen.

»Würden Sie wohl bitte auf dem Gang warten«, meinte sie. Eine Frage war es nicht.

»Oh... klar.« Trevor seufzte, rollte sich vom Bett und stolperte aus der Tür.

Constance schloss die Augen und versuchte, ausreichend Energie aus den Tiefen ihres Innersten zu schöpfen, um sich auszuziehen und es ins Bett zu schaffen. Iris behauptete steif und fest, dass fünf Minuten tiefen Durchatmens — eine Technik, die sie angeblich beim Yoga gelernt hatte — jeden revitalisieren würden. Doch vermutete Constance, dass Iris bei ihrer langjährigen Ehe und ihrer guten Gesundheit niemals einen Grad von Erschöpfung erlebt hatte, der diesem hier nahekam. Sie versuchte es dennoch mit ein paar langen und langsamen Atemzügen, und sie musste zugeben, dass sie ihr ein wenig Auftrieb gaben. Langsam kleidete sie sich aus, legte ihre Sachen zusammen und in den Koffer, hüllte sich dann in ihr Nachthemd und den Bademantel, ein Geschenk von Martin zum letzten Weihnachtsfest, das sie miteinander erlebt hatten. Wenn sie gewusst hätte, wie wenig Zeit ihnen nur noch bleiben würde, hätte sie Susan und den Jungen gesagt, dass sie über die Feiertage nicht kommen sollten, damit sie und Martin die kurze Zeit für sich allein gehabt hätten in ihrem kleinen Cottage, vor einem gemütlichen Feuer, mit guten Büchern und etwas Wein. Es hatte am Heiligabend sogar geschneit. Constance durchforstete ihren Koffer nach ihrer Kulturtasche und holte einen Beutel hervor, der voller Medikamentenschachteln war. Sie wünschte, sie bräuchte sie nicht, könnte sie in der Toilette hinunterspülen, aber dieser Wunsch zog lediglich hundert weitere Wünsche nach sich. Dass Martin noch am Leben wäre, dass die Menschen nicht alt und nicht sterben würden, dass sie die Zeit zurückdrehen, Gott spielen könnte. Dann erinnerte Constance sich daran, wo sie war. Nordafrika. In der Heimat der Pharaonen, der Pyramiden, des Nils. Sie schob sich eine Pille unter die Zunge und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter.

Draußen vor der Tür wippte Trevor auf den Zehenspitzen auf und nieder, die Arme über der Brust gekreuzt, die Hände unter die Achseln geklemmt. Zehn Minuten vergingen. Wie lange brauchte eine Frau, um sich umzuziehen? Er lief den Korridor hinunter und suchte nach einem Bad, blieb vor einer Tür stehen, auf der WC stand. Das Schild war überflüssig, der Geruch unverkennbar. Die Tür schwang auf, und vor ihm tat sich ein stinkender, feuchter Betonraum auf, und wenn er nicht diesen schmerzhaften Druck auf seiner mit Scotch gefüllten Blase verspürt hätte, wäre er sofort wieder davongelaufen. Stattdessen atmete er tief durch und schritt über den feuchten Boden. Eine altertümliche Toilettenschüssel thronte in einer Ecke des Raums, eine Porzellanschüssel mit Rostflecken. Eine zerrissene Kette baumelte vom Wassertank, der an die Wand montiert war und unheilvoll fauchte. Ein verrosteter Duschkopf hing gefährlich wackelig in einer anderen Ecke, der Abfluss am Boden war mit Haaren und anderem Unrat verstopft. Kein Duschvorhang, kein Toilettenpapier. Er drückte sich an dem zerbrochenen, vergilbten Standwaschbecken vorbei zur Toilette und erblickte dabei in einem geriffelten Spiegel sein verzerrtes Konterfei. Er blieb stehen und beugte sich vor, um sich genauer in Augenschein zu nehmen. Mit der Hand rieb er sich über die stacheligen Stoppeln an seinem Kinn. Es kam nie vor, dass er sich nicht rasierte. Manchmal rasierte er sich sogar zweimal am Tag. Heute würde er bis zum nächsten Morgen und bis zum Spiegel in seiner Tasche warten müssen. Er pinkelte in die Toilettenschüssel, dann umwickelte er seine Hand mit dem Zipfel seines Hemdes und zog an der Kette. Ein Rinnsal von Wasser tröpfelte in die Schüssel. Als er am Spülbecken das Wasser aufdrehte, entwich keuchend die Luft aus dem altertümlichen Kran. Finsteren Blickes schaute er auf die Dusche. Bestimmt kalt. Bis jetzt war diese Reise ein einziges Desaster.

Als er ins Zimmer zurückkehrte, saß Constance in ihrer Nachtwäsche auf dem Bett, eine Kulturtasche mit Paisleymuster auf dem Schoß. »Hier gibt es kein Badezimmer«, sagte sie.

Trevor faltete sich auf der schmalen Matratze zusammen. »Ist den Gang runter«, war das Einzige, was er noch sagte. Er war eingeschlafen, bevor sie das Zimmer verließ.

Trevor stand allein in einem endlosen Weizenfeld, mit weit ausgestreckten Armen. Die Halme reichten ihm bis zur Taille, und die zarten Ähren, von den Körnern schwer geworden, streiften seine offenen Handflächen. Über ihm ein wolkenloser, türkisblauer Himmel. Schwalben flogen vorüber, und neben seinen Füßen am Boden zirpten die Grillen. Die Hitze einer unsichtbaren Sonne legte sich wie eine Decke nieder auf seinen Kopf und seine Schultern.

Am Horizont brachen in die makellose Landschaft plötzlich die dunklen Schatten fallenden Korns. Schwaden von Weizen fielen in seine Richtung wie Wellen auf einen Strand. Ein Traktor stob über den Kamm des Hügels. Ein amerikanischer Steiger Panther mit Allradantrieb. Einer der schwersten Traktoren, die es gab. Seine gewaltigen Reifen drehten sich durch das Feld, stießen die zerbrechlichen Halme um, rissen Wurzeln heraus. Die breite Krempe eines Cowboyhuts gab den Blick auf das Gesicht des Fahrers nicht frei. Die riesige Maschine fuhr um Trevor herum und ließ ihn gestrandet zurück auf einer Insel aus Gold. Er umfasste mit den Händen die heißen Ähren, die zwischen seinen Fingern zerbröselten, während er bis zu den Armbeugen in glühend heißem Sand versank. Ohne Vorwarnung wurde aus dem Traktor ein rotes Cabriolet, das sich in der Wüste um die eigene Achse drehte. Die Stoßstangen aus Chrom blitzten in der Sonne. Der Hut des Fahrers flog in das Feld, und Trevor erkannte das Gesicht des Mannes: sein Vater. May saß neben ihm, mit einem strahlenden Lächeln, mit funkelnden Augen. Das Paar winkte, während es im Kreis fuhr. Er rief nach den beiden, aber sie preschten lachend davon. Der Wagen schlingerte durch die Wüste, die Reifen wirbelten massenhaft Sand auf und ließen ihn durch die Luft fliegen. Musik drang aus ihrem Radio an Trevors Ohren, aus der Ferne, unmerklich erst, wurde lauter und lauter, bis sie ihn umhüllte, fordernd und fremd.

Constance glitt aus ihrem Bett und tappte barfuß durch den Raum zu dem hohen, schmalen Fenster. Leise trug sie den Stuhl, der in der Ecke an der Wand gestanden hatte, und kletterte darauf. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um nach draußen sehen zu können. Der Duft tropischer Blumen, deren Namen sie nicht kannte, stieg ihr in die Nase, und sie lauschte dem Ruf des Muezzins, der durch die Fenstergitter schallte. Draußen hing der Mond wie ein silberner Krummsäbel am tiefschwarzen Himmel, der sich über die Wüste und jenseits der Gebäude erstreckte, und in der Ferne, erhellt von den Lichtern Kairos, ein glitzerndes Dach über der Stadt bildete. Unten auf der Straße waren die Menschen im schwächlich gelben Schein der Straßenbeleuchtung auf dem Weg zur Moschee. Der eindringliche Sprechgesang zog sie wie Bienen zum Honig, dem Honig ihres Lebens, ihrer Religion. Obwohl sie ihre Hingabe bewunderte, war sie nie willig gewesen, sich irgendeiner Religion mit ganzem Herzen zu ergeben. Donald hatte darauf bestanden, dass sie jeden Sonntag mit den Kindern in die Kirche gingen, aber unter der Woche war er gewalttätig. Es fühlte sich so scheinheilig an, im Alltag ein Leben zu leben, als spiele Religion keine Rolle. Sie wünschte, Tommy wäre hier mit seiner eigenen, so besonderen Religion, seiner Leidenschaft für das Leben. Sie hatte niemals jemanden gekannt, der das Leben mehr geliebt hatte, nicht einmal Martin.

Trevor wälzte sich in seinem Bett. Sie hatte ihn nicht wecken wollen, um diesen Augenblick ganz für sich allein zu haben. »Constance?«, murmelte er mit verschlafener Stimme. Sie antwortete nicht, hoffte, er würde wieder einschlafen. Doch stattdessen hörte sie, wie er auf dem Tisch neben seinem Bett nach irgendetwas tastete — seiner Brille vielleicht das schließlich mit einem klappernden Geräusch zu Boden fiel. Während er über die Fliesen auf ihr Bett zustolperte, murmelte er etwas von »beschissenen Träumen«. Mit größtem Bedauern stellte sie sich vor, dass er gleich ihre Perücke finden würde, die am Bettpfosten hing. Sie legte sich die Hand auf den Kopf, als er über den Boden in ihre Richtung taumelte; seine Kleidung war ganz zerknittert. Sie musste zum Fürchten aussehen in dem weißen Nachthemd, das im Mondlicht erstrahlte wie das Gewand eines Gespensts. Mit der freien Hand umklammerte sie das Fenstergitter. Als er näher kam, konnte sie dem verwirrten Ausdruck auf seinem Gesicht ablesen, dass er ihr Haar gesehen hatte, die dünnen Büschel und den spärlichen Flaum, die rosafarbene Kopfhaut, die durchschien. Zum Glück sagte er nichts, wisperte nur: »Was machen Sie da?«

Sie drehte sich auf ihren Zehen, stellte ihre Fersen auf den Stuhl und nahm ihre Hand vom Kopf. »Es ist der Ruf zum Gebet«, flüsterte sie und winkte ihn zu sich. »Der Ruf des Muezzins.« Sie drehte sich wieder zum Fenster. »Ist das nicht wundervoll?«

Trevor verzog das Gesicht, während er über den kalten, verdreckten Boden lief. Er lehnte sich neben ihr gegen die Wand, und gemeinsam schauten sie über den breiten Rand des Betonfensters. Die Landschaft unter ihnen war ein Meer aus Flachdächern und getünchten Häusern. Schwache orangefarbene Straßenlaternen beleuchteten eine schmale asphaltierte Straße. Ein Lkw schlängelte sich die Straße entlang, auf der Ladefläche kauerte eine Menschenmenge. Eine verhüllte Gestalt erschien im Dachgarten nicht weit von ihnen und verbeugte sich mit ausgestreckten Armen.

»Was geht da vor?«, fragte Trevor.

»Der islamische Ruf zum Gebet«, flüsterte Constance. »Sie beten fünfmal täglich gen Mekka. Thomas hätte das geliebt.«

»Mekka?«, flüsterte er zurück. Und dann: »Warum flüstern wir?«

»Die Heilige Stätte des Islam. In Saudi-Arabien. Muslime glauben, dass es die erste Stadt war, die es je gab auf der Welt.«

»Jeder betet fünfmal am Tag?«

»Jeder, der ein gläubiger Muslim ist.« Sie wandte sich zu ihm, und die Schatten auf seinem Gesicht sahen unheimlich aus im Glanz des Mondes. »Haben Sie das noch nie zuvor gesehen?«

»Oh... klar... nur nicht mitten in der Nacht«, murmelte er. »Ich bin nicht religiös.«

Sie wusste, dass er sie anlog. Warum auch nicht? Sie war ja nur eine Fremde, die er niemals Wiedersehen würde. Aus irgendeinem Grund stimmte der Gedanke sie traurig.

»Ich gehe wieder ins Bett.« Trevor löste sich von der Wand.

Constance hörte einen winzigen Hauch von Schuldgefühl in der ungezügelten Entnervtheit seiner Stimme. Sie beobachtete, wie er zu seinem Bett zurückstolperte. Dieses Mal zog er sich bis auf die Unterwäsche aus, bevor er sich auf die Matratze legte. Eine plötzliche Sehnsucht, einen warmen Körper neben sich zu spüren, erfasste sie, als er sich auf die Seite drehte und sich das Laken über die Schultern zog. Sie war zu lange allein gewesen.

Dann drehte sie sich wieder zurück zum Fenster und schaute hinaus, bis der Lkw um eine Ecke verschwunden war und die Geräusche langsam in der Nacht verhallten.