13
Willow Bunch, Gravelbourg, Carrot River, Assiniboia. Die Namen kamen Trevor nacheinander in den Kopf, während die Strommasten am Autofenster vorüberrasten. Die Namen passten allerdings nicht zu den Ortsschildern, die entlang des Netzes aus Schotterstraßen standen, sondern gehörten in eine andere Provinz, in eine frühere Zeit. Moose Jaw, Yellow Grass, Limerick...
Saskatchewan. Der vielleicht vier- oder fünfjährige Trevor hatte am Rand der Prärie gestanden und gewartet. Er hatte seine Augen angestrengt, um das Ende des Weidelands zu erspähen, wo die Welt aufhörte, wo das Land an den Himmel stieß. Er hatte zum Horizont laufen wollen, um nachzusehen, ob er sich dort auftürmte wie eine Wand oder ob man geradewegs von der Kante stürzte, hinein ins Universum. Aber er hatte Angst davor gehabt, einen Schritt zu tun, aus Furcht, er könne die Blumen zertreten. Aus den letzten Schneeresten, neben den rotbraunen Spitzen seiner Gummistiefel, hatten die Knospen der Krokusse fast schüchtern hervorgeschaut. Der Erdboden war von ungefähr einer Million Krokussen in alle Richtungen violett gefärbt, jedes einzelne Pflänzchen hatte sich vorsichtig, aber unaufhaltsam durch seine eigene verbliebene Schneedecke gedrückt. Die Luft hatte nach Schmutz gerochen — nass und erdig und verheißungsvoll nach Frühling — und ihm in der Nase gekitzelt. Auch die Präriehunde hatte er riechen können, doch das Einzige, was er von den scheuen, hellbraunen Erdhörnchen sehen konnte, waren die aufgeschütteten Kanten ihrer Wohnhöhlen, Löcher in der Erde zwischen den Blumen. Der Junge hatte sich gefragt, ob Präriehunde die Krokusse wohl auch so liebten wie er.
»Fast da.« Angelas Stimme zerrte ihn zurück ins Innere des Wagens, weg von dem Namen Assiniboia, weg von dem Meer aus Krokussen. Draußen vor ihnen erstreckte sich die Spätfrühlingsprärie in Grün, nicht in Violett. Felder von frisch gemähter Luzerne, die in Bündeln hinter Stacheldrahtzäunen trocknete. Auf anderen Feldern standen Strohballen wie dicke goldene Blöcke, die aussahen wie gigantische Weizenflocken aus dem Frühstücksmüsli oder wie übergroße Zimtrollen, die neben den Reifenspuren des Mähdreschers lange Schatten warfen. Die flache Landschaft erstreckte sich in jeder Richtung bis zum Horizont, Farmland, das von einem Flechtwerk aus endlosen Schotterstraßen unterteilt wurde. Steine schlugen unter die Bodenwanne des Wagens, und eine Staubspur folgte ihnen über das Land.
»Hast du was gesagt?«, fragte er.
»Wir sind in der Nähe der Farm.« Angela blickte zu ihm herüber. Sie hatte nicht viel gesagt, seit sie Calgary verlassen hatten. »Hast du geschlafen?«
»Vor mich hin geträumt.« Er streckte seine Arme über den Kopf und gähnte. Das Radio spielte leise Country-Musik. Sie hatten einander nicht geküsst, als sie ihn abholte, aber sie hatte gegrinst, als er seine Tasche in den Kofferraum des Wagens warf.
»Willst du einen ganzen Monat bleiben?« Sie hatte mit einem Kopfnicken auf die Eishockey-Sporttasche gedeutet, die fast aus allen Nähten platzte.
Alle paar Meilen kamen sie an einem Farmhaus vorbei, vor dessen Auffahrt eine Baumreihe stand. Zu den Häusern gehörten meist eine rot-weiße Scheune, ein paar Nebengebäude, weite Rasenflächen, und im Hof parkten schwere Landmaschinen. Die meisten Gehöfte waren in gutem Zustand, mit gemähtem Rasen, begradigtem und geschottertem Weg sowie Blumenbeeten ums Haus herum. Gelegentlich fuhren sie an einer windschiefen ungepflegten Farm vorüber, wo der Rasen hoch stand, durchwuchert war von Disteln und Löwenzahn und die zerbrochenen Regenrinnen vom Dach herunterhingen. Der Anblick dieser Farmhäuser erfüllte Trevor mit einem unangenehmen Gefühl von Vertrautheit.
Angela bog links ab, ohne den Blinker zu setzen, und fuhr einen von Pappeln gesäumten Schotterweg hinunter, der um die Front eines zweistöckigen, mit Schindeln gedeckten Hauses herumführte. Ein Hund mit schwarz-weißem Fell rannte von der Seite des Vordachs auf sie zu, tänzelte vor dem Auto hin und her und versuchte dabei, in die Reifen zu beißen.
Als sie aus dem Wagen stiegen, sprang der Hund an Angela hoch; sie kniete sich auf den Boden und raufte ihm mit beiden Händen das Fell am Nacken, während er ihr Gesicht ableckte. Sie küsste den Hund auf die Nase und stupste ihn in Trevors Richtung. »Darf ich dir Caesar A. vorstellen?« Der Hund lief zwischen Trevors Beinen eine Acht und setzte sich dann, wobei ihm seine lange, rosafarbene, nasse Zunge aus dem Mund heraushing, er hechelte. »Er ist ein Coydog, halb Kojote und halb Hund«, ließ Angela ihn wissen. Dann drehte sie sich um, denn es öffnete sich quietschend das Fliegengitter vor der Haustür, und eine groß gewachsene Frau, die das graue Haar im Nacken zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt hatte, trat heraus auf die Veranda. Sie hielt ihre Hand vor das Gesicht, um von der Abendsonne nicht geblendet zu werden.
»Angie!«, rief sie. »Hatte dich erst nach Einbruch der Dunkelheit erwartet. Wen hast du da mitgebracht?«
Trevor schluckte beim Anblick der Frau. Vor lauter Begeisterung, mit Angela zusammen sein zu können, hatte er gar nicht in Betracht gezogen, dass da auch noch andere Menschen auf der Farm lebten. Menschen, mit denen er sich würde unterhalten müssen. Hatte er geglaubt, die Farm würde von Kühen oder Hühnern bewirtschaftet? Er war in keinem Privathaus mehr zu Besuch gewesen seit Tante Gladys’ Beerdigung, bei der die Dame des Hauses tot gewesen war; Onkel Pat war schon lange vorher an Lungenkrebs gestorben. Trevor und Brent hatten das Doppelbett auf ihrem alten Dachboden miteinander geteilt, um dem stillen Schlafzimmer auf der Wohnetage zu entgehen und den Geistern ihrer Tante und ihres Onkels, die zusammen mit dem Nachtwind seufzend durch die Korridore spukten. Das alte Haus hatte immer noch nach Onkel Pats Zigaretten gerochen. Die Brüder hatten sämtliche Decken zusammengesucht, die Tante Gladys gehäkelt hatte, und sie zusammen mit dem Weidenstock, den sie in der Ecke der Veranda gefunden hatten, in der Kesseltrommel hinter dem Haus verbrannt.
Diese Frau hier war aber äußerst lebendig und begutachtete ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit Augen, denen nicht einmal ein nackter Floh entgehen konnte.
Angela stieg die Holzstufen zur Veranda hinauf und küsste die Frau. »Mama«, sagte sie, »ich habe mir fürs Wochenende einen starken Mann mitgebracht. Das ist mein Freund Trevor. Trevor, meine Mutter, Helen.«
Die Frau streckte ihm eine große raue Hand entgegen. »Komm rein, Trevor. Herzlich willkommen. Angela bringt nur noch selten mal Freunde mit nach Hause. Bist du auch Rechtsanwalt von Beruf? Angie, bist du sicher, dass der mit einem Heuballen fertig werden kann?« Sie sprach mit einem Singsang in der Stimme, der den Skandinaviern eigen war.
»Nun nerv ihn nicht gleich«, erwiderte Angela. »Er steht ja noch halb in der Tür. Wir peitschen ihn uns in Form. Wo sind Dad und Bo?«
»Bo ist unten im Südfeld, das Heu prüfen. Wir hoffen, dass sie es spätestens Montag ballen können. Die übrigen Felder sind alle so weit«, gab Helen zur Antwort und öffnete die Tür mit dem Fliegengitter.
»Wie geht es ihm?« Angelas Stimme senkte sich um eine Oktave.
»So gut, wie man das erwarten kann, würde ich mal sagen.« Helen schob sie durch die Tür.
Als Trevor die Küche betrat, hatte er ein Dejà-vu-Erlebnis, das ihn nahezu umwarf. Die Milchschleuder in der Ecke, der Linoleumboden im grün-schwarzen Schachbrettmuster, der schmiedeeiserne Kochherd, das alte Kurbeltelefon an der Wand, die Blumentöpfe auf der Fensterbank. Wenn er den Vorratsschrank neben dem Waschbecken öffnete, würde er Cornflakes und einen Topf mit Wildblütenhonig finden, das wusste er.
»Axel, wir haben Besuch«, rief Helen, als sie durch den Raum zum Herd marschierte. Ihre Bewegungen wirkten nahezu maskulin, als sie ihn öffnete. Die brutzelnden Geräusche und der Duft des Bratens wehten in den Raum. »Zieh dir ein Hemd an.«
Der Geruch des Fleisches, der Plätzchen, die auf dem Kühlrost auf der Arbeitsplatte standen, und das Aroma des Bohnenkaffees, der in einer Aluminiumkanne auf dem Ofen stand, vereinigten sich in Trevors Erinnerung wie alte Freunde. Ein schlanker, weißhaariger Mann, der Hosenträger und ein Unterhemd aus Baumwolle trug, saß in einem gepolsterten Schaukelstuhl neben dem Herd und las Zeitung. Er erhob sich, stand leicht vornübergebeugt; Zeitung und Brille baumelten in seiner Hand.
»Dad, ich möchte dir Trevor vorstellen.« Angela nahm ihren Vater kurz in die Arme. »Mach dir keine Gedanken wegen des Hemdes. Trevor, mein Dad Axel.«
Axel war sehr viel größer als Trevor, und sein Händedruck fühlte sich an wie ein Schraubstock, aber seine Stimme war sanft und klang fast ein wenig scheu, sie hob und senkte sich in dem gleichen Singsang wie Helens. »Willkommen in meinem Haus, mein Sohn.«
»Schön, Sie kennenzulernen... Sir«, stotterte Trevor. Onkel Pat hatte stets darauf bestanden, dass sie ihn Sir nannten.
»Der einzige Sir auf dieser Farm ist der Hahn«, witzelte Helen und stellte einen Stapel Teller auf den Tisch. »Angela, bring Trevor nach oben, damit er seine Sachen auspacken kann«, sagte sie. »Du kannst Bjornes altes Zimmer haben. Trinkst du Kaffee? Klar trinkst du den. Du siehst mir nicht aus wie einer dieser Gesundheitskost-Fanatiker. Abendessen in einer Stunde. Rinderbraten. Selbst gezogen.«
Angela und Trevor schleppten ihre Taschen die steile, enge Treppe hinauf. Die ausgetretenen Holzdielen krächzten vor Altersschwäche. Trevor musste den Kopf einziehen, weil die Decke so niedrig war, und er fragte sich, ob Axel je in die zweite Etage kam. Angela zeigte auf die Tür auf der linken Seite.
»Das da ist dein Zimmer«, sagte sie und grinste ihn von der Seite an. »Meine Eltern sind ziemlich altmodisch. Wirf deine Klamotten eben da rein, und dann geh ich mit dir auf große Besichtigungstour.«
Trevor betrat das Zimmer. Die Decke der Dachkammer, die in Richtung des Erkerfensters abflachte, erinnerte ihn an den Raum, den er in Regina mit Brent geteilt hatte. Er warf seine Tasche auf das schmale Bett und reckte sich über den Holzschreibtisch, um eines der Flügelfenster zu öffnen. Der frische Duft von gemähtem Gras und das Zirpen von Grillen strömten herein in die warme, abgestandene Luft. Zahlreiche Eishockey-Trophäen standen aufgereiht auf einem Regal über dem Bett, und er nahm eine in die Hand, um zu lesen, was darauf eingraviert war. Bjorne Steffansson, erfolgreichster Spieler der Brooks Junior-Liga, 1964.
»Bo war ein toller Eishockeyspieler.« Angela lehnte im Türrahmen. »Bettzeug bringe ich dir nach dem Abendessen.«
Er wollte sie fragen, warum sie ihn hergebracht hatte. Der Türrahmen umrahmte ihren Körper. Der verblasste Druck auf der Tapete hatte die gleiche Farbe wie ihr Pferdeschwanz, und ein paar lose lockige Strähnen ihres Haars umrahmten ihr Gesicht. In dem T-Shirt und den kurzen Hosen sah sie eher aus wie ein Teenager als wie eine zweiunddreißigjährige Rechtsanwältin. Er wollte sie küssen. Sie fragen, ob er das durfte. Stattdessen fragte er: »Wo wird Bjorne denn schlafen?«
»In seinem neuen Haus hinter der Scheune«, antwortete sie lachend. »Da lebt er mit seiner Frau und ihren drei Kindern.«
»Was hat er denn?«, fragte Trevor und kämpfte gegen den inneren Drang, seine Arme um sie zu schlingen.
»Er hatte vor ein paar Monaten einen Herzinfarkt und soll sich einer Bypass-Operation unterziehen, sobald er stabil genug dafür ist.« Sie drehte sich um. »Komm. Ich will dir alles zeigen, bevor es dunkel wird. Morgen werden wir keine Zeit haben für irgendwelche Besichtigungen.«
Die Sonne brannte ein Loch in den niedrigen blauen Himmel über dem westlichen Horizont, als sie Richtung Scheune gingen und der Schotter unter ihren Füßen knirschte. Caesar A. folgte ihnen, seine Pfoten nur Zentimeter hinter Angelas Fersen. Als sie am Tor zur Scheune vorübergingen, sahen sie ein geflecktes Kätzchen, das sich die Unterseite der Pfote leckte. Hinter der Scheune ging eine asphaltierte Straße von der Hauptzufahrt ab, die zu einem modernen Bungalow mit versetzten Ebenen führte. Er verfügte über eine Doppelgarage, und auf der Auffahrt war ein Basketballkorb installiert.
»Bjornes Haus?«, riet Trevor.
Angela nickte. »Es gibt drei Häuser auf dieser Farm. Meine Großeltern haben das Land erschlossen und die Blockhütte unten am alten Flussbett gebaut. Meine Eltern haben ihr Haus
gebaut, als sie geheiratet haben, und da haben wir alle zusammen gewohnt, bis Oma und Opa starben. Bjorne und Nancy sind in das neue Haus gezogen, bevor Jake zur Welt kam.«
»Und Angela, wo ist ihr Zuhause?«, wagte Trevor zu fragen.
Sie steckte ihre Hände in die Gesäßtaschen ihrer Shorts und schaute weg. »In einer Parterrewohnung in Calgary?«
Ein brauner Halbtonner, ein Geländewagen mit offener Ladefläche, fuhr um die Ecke der Scheune und kam kurz hinter ihnen zum Stehen. Ein Mann stieg aus der Fahrertür aus, seine blauen Augen sahen aus wie lodernde Lichtflammen in einem Gesicht, das verwittert war von Jahren in Sonne und Wind. Ein weiterer Wikinger, größer und schlanker noch als Axel. Trevor fragte sich, wie Angela nur so zierlich sein konnte bei diesem Clan der Giganten. Und ihre dunklen Augen. Der Mann wischte sich die Hände an seiner von Fettflecken verschmutzten Jeans ab, legte zum Gruß die Hand gegen die rote schmutzige Baseballkappe, dann bleckte er die weißen Zähne und schritt auf sie zu.
»Angie!«, brüllte er, hob sie dabei vom Boden und wirbelte sie durch die Luft.
»Vorsichtig«, rief sie lachend zurück, presste ihre Hände gegen seine Schultern. »Bo, stell mich hin. Du tust dir damit nur wieder was an.«
»Ach, hör doch auf, Ang«, protestierte er. »Mir geht es gut.« Er streckte Trevor seine von der Arbeit verschwielte, raue Hand entgegen. »Hi. Ich muss das rüde Benehmen meiner Schwester wiedergutmachen und mich selbst vorstellen. Bjorne Steffansson.«
» Trevor Wallace. Schön, Sie kennenzulernen.« Bjornes Händedruck war sogar noch fester als der seines Vaters.
Bjorne hob die Brauen. »Ist schon lange her, seit du das letzte Mal einen Mann mit nach Hause gebracht hast, Ang. Seid ihr zwei...?«
»Bo«, schimpfte sie. » Trevor ist ein Freund. Er hat früher auf einer Farm gelebt. Ich habe ihn gebeten, mit rauszukommen und mit dem Heu zu helfen, das ist alles.«
»Okay, okay... Freunde.« Er grinste. »Ma hat mich gebeten, euch zwei fürs Abendessen nach Hause zu schicken. Übrigens, ein Kojote hat sich letzte Nacht eines ihrer Hühner geholt, aber erzählt ihr das nicht. Wir sehen uns morgen früh. Gegen sechs.«
Er küsste Angela auf die Stirn, faltete sich wieder hinter dem Steuer des Pick-ups zusammen, tippte noch mal mit der Hand an die Baseballkappe, dann fuhr er an ihnen vorüber zu seinem Bungalow. Als sie zu dem alten Farmhaus zurückkehrten, fing es an dunkel zu werden auf dem Hof, und in der Ferne, in einem Tümpel, quakten Frösche.