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In der ersten Septemberwoche erreichte Trevor völlig überraschend auf der Arbeit ein weiterer Brief von Constance. Er datierte vom elften August und kam aus Costa Rica. Trevor sah sich das Bild mehrere Minuten lang nachdenklich an. Constance stand über einen Zaun gebeugt am Rand einer Klippe, inmitten von einer Wolke oder einem Rauchstrudel. Mit der linken Hand wies sie auf die Erdspalte, und er konnte nicht sagen, ob das, was er in ihrem Gesicht las, ein schlechtes Gewissen oder Übermut war.
Er stellte das Foto so hin, dass das Licht der Schreibtischlampe darauf fiel, und faltete das süßlich duftende Blatt Papier auseinander.
11. August 1985
San José, Costa Rica
Lieber Trevor,
glauben Sie an Himmel und Hölle? Ich erinnere mich, dass Sie mir erzählt haben, Sie seien nicht religiös. Ich habe keinen Fuß in eine Kirche gesetzt, seit ich Donald verlassen habe. Hier in Costa Rica sind sie alle katholisch. Sie glauben alle an Himmel und Hölle. Und an das Purgatorium, das Fegefeuer. Entsetzliche Geschichten, die kleine Kinder das Fürchten lehren. Wenn du gut bist, kommst du in den Himmel, aber wenn du lügst, stiehlst oder böse Dinge tust, ab mit dir in die Flammen der Hölle. Nur was, wenn das wahr ist, Trevor? Sie sind fein raus. All diese wunderbaren Dinge, die Sie mit Ihren Traktoren für die Armen tun. Ich weiß, dass diese Ersatzteile, die Sie Michael geschickt haben, eine Hilfe waren. Sie sind ehrlich und aufrichtig. Und zuvorkommend gegenüber Senioren. Wenn es einen Himmel gibt, werden Sie geradewegs emporschießen zur rechten Hand Gottes.
Nur was wird aus mir? Ich bin verdammt aufgrund dessen, was ich heute getan habe. Ich habe Donald in einen Vulkan fallen lassen. Und es war kein Unfall. Ich bin mit dem Bus zum Vulkan von Poás außerhalb von San José gefahren, bin bis zum Rand des Kraters gelaufen und habe ihn hineingeschmissen, mit der Erdnussbutterdose und allem. Hinein in einen See aus Schwefelsäure. Feuer und Schwefel. Ich nehme mal an, dass der Grund eines Vulkans der Hölle einigermaßen nahekommt.
Ich habe ein nettes amerikanisches Mädchen, das ich im Bus kennengelernt hatte, gebeten, die Tat im Bildfestzuhalten, aber sie hat nicht rechtzeitig geknipst. Sie werden mir also einfach glauben müssen.
Es ist alles ein Geheimnis, Trevor, nicht wahr? Wohin wir gehen, wenn wir sterben. Aber spielt es eine Rolle? Zählt nicht einzig und allein, wie wir unser Leben leben? Am Ende liegt unser aller Schicksal in den Händen von Anubis.
Alles Liebe, Constance
P.S.: Angela wird auch in den Himmel kommen, gar keine Frage bei dem Namen.
Trevor nahm das Foto noch einmal in die Hand. Constance hatte also eine adäquate letzte Ruhestätte für Donald gefunden. Das verdiente der Mistkerl. Ihre Anspielung auf Afrika nagte an seinem Gewissen. Nun denn, er würde geradewegs den Bach runtergehen, zusammen mit Donald, und sich in den Flammen der Hölle winden wegen all seiner Lügen und Täuschungen. Sie hielt ihn für einen netten Jungen. Gute Taten für die Armen.
Tante Gladys und Onkel Pat hatten Brent und Trevor jeden Sonntag in die Lutheranische Kirche geschleppt, wo sie sich drehten, wanden, herumzappelten und Wortspiele mit den Bekanntmachungen auf der Anschlagtafel spielten, bis Tante Gladys ihnen eine klatschte. Im Alter von vierzehn Jahren hatte Brent Geld aus dem Kollektenbeutel gestohlen, und Onkel Pat hatte den Stock herausgeholt, als sie nach Hause kamen. Brent hatte seinen Onkel herausgefordert, sich mit Fäusten mit ihm zu prügeln, und als der Mann verloren hatte, diente ihm dies als Ausrede dafür, fortan selbst zu Hause zu bleiben. Tante Gladys hatte Trevor mitgeschleppt, bis er ebenfalls vierzehn wurde, sie aufgab und fortan allein ging. Onkel Pat hatte vor dem Fernseher gesessen und Bier getrunken, während Brent und Trevor bis zum Mittagessen durch die Straßen von Regina gestreift waren statt die Hausarbeiten zu erledigen, die auf dem Zettel aufgelistet waren, den Tante Gladys an den Kühlschrank gehängt hatte — obwohl sie wussten, dass es dafür eine Tracht mit dem Riemen gab.
Trevor pinnte das Foto an den Kühlschrank; der Ausdruck auf Constance’ Gesicht war eindeutig eher Übermut als schlechtes Gewissen.
Als er am nächsten Tag zur Arbeit kam, fand er eine Nachricht auf seinem Schreibtisch, er solle sich bei Andy melden. Er klopfte an die Tür von Andys Büro.
»Herein«, rief Andy und schob seinen Stuhl zurück. » Trevor«, sagte er dann. »Nimm Platz.«
»Was gibt’s?«, fragte Trevor. »Wohin soll’s gehen?«
Andy öffnete eine Akte und runzelte die Stirn. »Ich habe dich nicht hergebeten, um über Reisepläne zu sprechen.« Er drehte die Akte herum, sodass sie in Trevors Richtung zeigte. »Deine Verkaufszahlen der letzten paar Monate. Sind in allen Sparten abgesackt, Trev. Was ist los mit dir?«
Trevor richtete sich gerade und steif auf. »Das kann so nicht stimmen. Da müssen dir Unterlagen fehlen.«
Andy blätterte durch den Stapel Papier. »Nein. Die Unterlagen sind vollständig. Dreizehn Reisen seit Februar. Deine Verkäufe sind um dreißig Prozent gesunken, verdammt noch mal! Tansania. Die haben zwei Traktoren geordert. Normalerweise bestellen die zehn. Was ist da passiert?«
Trevor musste schlucken und rutschte tiefer in seinen Stuhl. »Ich... weiß nicht«, log er. Er hatte dem Vertreter der tansanischen Regierung lediglich gesagt, dass sie mit Handpflügen möglicherweise besser bedient wären. Die ungesunde Röte auf Andys Gesicht ließ ihn ahnen, dass diese Information nicht förderlich sein würde.
»Du weißt es nicht?« Andy löste mit einer Hand seine Krawatte.
»Ich... nein.« Er hatte ebenfalls erwähnt, dass sie sich ihre hohe Zahl an verfügbaren Arbeitskräften zunutze machen sollten. »Nein. Keine Ahnung.«
Andy strich mit einer Hand über sein Gesicht und über sein Kinn, als versuche er, seine Wut herauszustreichen, dann sprach er mit fester Stimme weiter. »Vielleicht brauchst du ein wenig Zeit, um dahinterzukommen warum. Nimm dir frei. Bist du überarbeitet, irgendwie gestresst? Probleme zu Hause?«
»Es geht mir gut.«
Andy schlug mit der flachen Hand auf die Akte. »Die Zahlen hier sind nicht gut. Nimm einen Monat frei. Krieg dich wieder auf die Reihe, oder tu sonst was, solange es nur hilft.«
»Einen Monat frei?« Trevor verschluckte sich fast.
»Genau. Einen Monat. Ab heute.« Andy winkte mit der Hand Richtung Tür und griff nach einer anderen Akte, und er machte sich nicht die Mühe Auf Wiedersehen zu sagen, als Trevor den Raum verließ.
In Trevors Kopf drehte sich alles, als er ein paar Sachen von seinem Schreibtisch zusammenpackte. Dreißig Prozent abgesackt? Er hatte lediglich angeregt, dass seine Kunden sich zur Abwechslung mal mit weniger kostspieligen Alternativen auseinandersetzten. Ihre Arbeitskraftreserven voll ausnutzten. Er hinterließ beim Empfang eine Nachricht, dass er bis Oktober nicht im Haus sein würde. Am Vordereingang blieb er stehen, dann drehte er sich noch einmal um und eilte die Treppe zur Abteilung für Teilefertigung und Kundendienst hinunter, nahm dabei zwei Stufen auf einmal. Mehrmals schlug er auf die Klingel auf der Theke.
Schlendernden Schrittes kam Sid aus dem Lagerhaus, mit hochgeschobener Brille. »Nun aber mal halblang, weshalb die Eile?«
»Sid.« Trevor bedachte ihn mit seinem feinsten Verkäufer-in-Not-Lächeln.
» Trevor, schön, Sie zu sehen. Was kann ich für Sie tun?«
Trevor durchwühlte seine Brieftasche und reichte Sid einen verkrumpelten Zettel. »Würden Sie wohl ein paar Anlasser und die anderen Ersatzteile für den IH 1066 an diese Adresse hier schicken? Setzen Sie die Kosten auf meine Rechnung.«
Sid hob die Brauen, als er die Liste überflog, und stieß einen lang gezogenen Pfeifton aus. »Vorausgesetzt, dass ich die kriegen kann. Was immer Sie wünschen, Chef«, lachte er in sich hinein, »ist Ihr Geld.«
»Danke.« Über die Theke hinweg schlug Trevor dem Mann auf die Schulter. »Sie sind ein echter Kumpel.«
Drei Tage lang hockte Trevor in seiner Wohnung und blies Trübsal. Er hatte seit Jahren nicht mehr freigenommen. Er putzte seine Wohnung, joggte jeden Tag lange durch den Fish Creek Park, doch sobald der Abend kam, wurde er unruhig und langweilte sich. Das Wochenende auf der Farm kam einer Erleichterung gleich, aber es war ihm zu peinlich, irgendjemandem von seinem Zwangsurlaub zu erzählen, nicht einmal Angela, die ihre eigene Arbeit jeden Abend, wenn die Küche nach dem Abendessen wieder sauber war, auf dem Küchentisch ausbreitete.
Am Mittwoch der zweiten Woche konnte er die Wohnung keine Sekunde länger ertragen und fuhr ziellos durch Calgary, bis er plötzlich feststellte, dass er gen Westen auf dem Highway 22X Richtung Bragg Creek und Kananaskis unterwegs war. Cowboyland, die Ausläufer der Rocky Mountains. Auf der Höhe einer Steigung hielt er an, stieg aus dem Wagen, lehnte sich gegen den Kofferraum, und vor ihm breitete sich die Vorgebirgslandschaft aus. Wie Flüssigkeit sammelte sich die glatte Prärie zu seinen Füßen und wurde zu rastlosen Hügeln, die wie eine gefrorene Welle des Ozeans nach Westen floss, um dort an den mit weißem Schaum bedeckten Bergspitzen zu brechen. Wonach suchte er? War er nicht mehr richtig im Kopf, wie Andy angedeutet hatte?
Am Donnerstag nahm er den Highway Richtung Banff. In Cochrane fuhr er ab und weiter am Ghost River Valley entlang. Auf tausendfünfhundert Metern Höhe war die Luft frisch, und der erste Schnee bedeckte die Bergketten wie mit einer Staubschicht. Er parkte den Wagen und wanderte an der Straße entlang zu einem Aussichtspunkt, von dem aus man über das Tal blicken konnte. Bäume und Höhenzüge versperrten die Sicht, und in seinen Lungen wurde es ganz eng, als ihm bewusst wurde, dass er den Himmel nicht sehen konnte. Ein weißgesichtiger junger Ochse marschierte an den Zaun und brüllte ihn an. »Verpiss dich!«, brüllte Trevor zurück und ging wieder zu seinem Wagen.
Am Freitagmorgen machte er sich auf gen Norden Richtung Edmonton, durch eintöniges, deprimierendes, eingezäuntes Land, das überall von Ölpumpen verunstaltet war. Er verwarf die vage Idee, den ganzen Weg bis Edmonton zu fahren, und drehte vor Red Deer wieder um. Als er die Außenbezirke von Calgary erreichte, wo neues parzelliertes Bauland in die Prärie hineinströmte wie Wellen einer Invasion, erfasste ihn plötzlich das unheimliche Gefühl, als ziehe ihn etwas Richtung Süden. In Richtung von was? Was sollte da draußen auf ihn warten? Swede Lake? Er hielt an einer Tankstelle und rief Angela an.
»Bist du nicht im Büro?«, fragte sie.
»Andy hat verlangt, dass ich ein paar Tage freinehme«, sagte er. »Magst du zur Farm fahren?«
»Ich kann an diesem Wochenende hier nicht weg, aber fahr einfach ohne mich«, schlug sie vor. »Sie können die Hilfe immer gut gebrauchen.«
Er traf nach dem Abendessen ein, und Helen war mit Rachel und Jake im Haus. »Die anderen sind mit zwei unserer Nachbarn draußen bei der Ernte. Du kommst genau zur rechten Zeit«, sagte sie, als sei sein Auftauchen überhaupt nichts Ungewöhnliches. »Wir können einen weiteren Fahrer gebrauchen.« Sie schob ihn ins Haus, damit er aß, was vom Essen noch übrig war, und fuhr ihn dann raus zum Südviertel, wo drei Mähdrescher langsam im Einklang über das Feld kreisten. Ströme von Samen sprühten in fauchenden Fontänen in die Hinterseiten der Korntanker, die seitlich hinter den Dreschern herfuhren. Helen signalisierte ihnen, dass sie anhalten sollten, als sie unweit des Trucks kehrtmachten.
Bjorne sprang aus dem Führerhaus einer der Maschinen und rannte mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht auf sie zu. »Jetzt sieh dir an, wer hier ist«, rief er und schlug Trevor auf den Rücken. »Bist du hier um zu arbeiten?«
Trevor nickte.
»Dann los.«
Bjorne frischte Trevors Kenntnisse darüber auf, wie man einen Mähdrescher bediente. »Fahr einfach dem Knaben vor dir nach, eine Schnittweite daneben.«
»Du lässt mich hier allein?«, fragte Trevor nervös und beäugte die zahlreichen Knäufe und Schalter und Knöpfe.
»Jedem vertrau ich meinen Mähdrescher nicht an«, erwiderte Bjorne. »Du kommst schon klar. Ich muss noch einen weiteren Laster holen.« Er kletterte zurück auf den Boden, drehte sich um und marschierte davon. »Bis später.«
Später war eine Untertreibung. Sie arbeiteten bis weit nach Mitternacht mit einer einzigen Pause, bei der es Butterbrote und Kaffee gab, die Helen ihnen mit dem Pick-up anlieferte. Die Scheinwerfer strahlten in die Nacht hinein wie Funkfeuer, illuminierten das Meer aus reifem Weizen, das sich vor ihnen ausbreitete. Trevor konnte sich nicht entspannen, sein Körper war verkrampft und in Alarmbereitschaft. Er wollte keinen Fehler machen, in den Mähdrescher vor ihm hineinfahren oder in den Laster neben ihm, den falschen Hebel zum falschen Zeitpunkt umlegen. Die schwere Maschine vibrierte unter ihm, und er strengte seine Augen an, um dem Weg der Scheinwerfer zu folgen. Er war erleichtert, als sie mit dem Feld fertig waren und Bjorne und Nancy ihn nach Hause fuhren, damit er ein paar Stunden Schlaf bekam.
»Ich hol dich um halb fünf ab«, sagte Bjorne, als er den erschöpften Trevor vor Helens Haus aussteigen ließ.
Am nächsten Tag arbeiteten sie vierzehn Stunden ohne Pause, und bei Sonnenuntergang hatten sie den Rest der Steffansson-Ernte eingebracht. Helen und die anderen Frauen servierten auf dem Rasen vor dem Haus ein Festmahl auf Tischen, die sich unter dem Gewicht des vielen Essens bogen. Trevor bewunderte die lockere Kameradschaft der Farmmenschen, wie der eine mit dem anderen scherzte, während im Hintergrund über den Haushalt geplaudert wurde, und sie ihre Sorge über die vorhergesagten Regenschauer teilten. Sie schenkten dem spektakulären Farbenspiel aus Pink und Violett am westlichen Horizont keinerlei Beachtung, nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil sie ein Teil des Ganzen waren. Morgen würden sie ihre Mähaktion auf der nächsten Farm weiterführen, und dann kam wieder die nächste, und wieder würden sie die ganze Nacht durcharbeiten, wenn es sein musste, bis alle Ernte eingefahren war. Trevor beobachtete, wie Nancy mit Jake auf dem Arm Bjorne den Nachtisch servierte, und wie Bjorne daraufhin liebevoll seinen Arm um die Taille seiner Frau schlang. Die Intimität ließ ihn an Angela denken; es überraschte ihn festzustellen, dass er sie vermisste.
Er räumte die Teller vom Tisch, doch bevor er in der Küche ankam, fing Bjorne ihn auf der Veranda ab. »Wenn du fertig damit bist, die Frauenarbeiten zu verrichten, Trev, treffen wir uns am Truck. Es wird Zeit, dass wir feiern«, flüsterte er und schlenderte davon, als habe er den Tag an einem Swimmingpool herumgelegen statt bereits vor Sonnenaufgang in einem heißen, staubigen Truck herumgefahren zu sein. Mehr als irgendetwas sonst wollte Trevor sich ins Bett schleichen, um sich für den morgigen Tag zu erholen, einen weiteren langen Tag auf dem Mähdrescher und für die Rückfahrt nach Calgary. Er hob die schmutzigen Teller und Schüsseln hoch, die er in den Händen hielt. Frauenarbeit. Er reichte die Teller durch die Fliegengittertür und machte sich auf den Weg zur Garage.
Bjorne stand gegen das Führerhaus gelehnt; eine Zigarette baumelte ihm aus einem Mundwinkel.
»Guter Junge.« Er hob einen Daumen, um seine Zustimmung zu dokumentieren. »Ich werde dir diese schlechten Angewohnheiten schon noch austreiben.« Er öffnete die Tür des Trucks. »Spring rein.«
»Wohin geht’s denn?«, fragte Trevor. Was hatte er bloß an sich, dass Menschen solche Freude daran hatten, ihn einzufangen und auf unvorgesehene Reisen mitzuschleppen?
Bjorne warf seinen Hut hinter den Sitz und strich sich das Haar glatt. »Ins Herz des Universums.«
»Ins Herz des Universums?«
»Jawohl, ins Swede Lake Hotel.«
Von der Kuppe des Hügels, etwa eine Meile von Swede Lake entfernt, sah die Stadt nach nicht viel mehr aus als nach ein paar Bäumen, die jenseits der Bahngleise vor drei Getreidespeichern standen. Und tatsächlich bestand Swede Lake eigentlich nur aus ein paar ungepflasterten Straßen entlang der Bahngleise und drei Getreidespeichern. Einer Kirche, einer Schule, einer Feuerwache, einer Curling-Halle und, zu Trevors Erstaunen, einer uralten Tankstelle der Ölfirma White Rose, die noch in Betrieb zu sein schien. Bjorne fuhr hinunter zur Centre Street, den anderthalb Straßenzügen Gewerbegebiet, von denen die Gemeinde in der Hälfte unterteilt wurde. Das Ganze wirkte wie eine Geisterstadt. An der Ecke Centre Street und First Street fuhr er vor dem Swede Lake Hotel vor, einem klapprigen, gold-weißen Gebäude mit Schindeldach, das geradewegs aus einem Western hätte stammen können. Draußen parkten ein paar staubige Trucks. Trevor war fast ein bisschen enttäuscht, dass es am Eingang zum Gebäude keine schwingenden Saloon-Türen gab. Im Inneren der schwächlich beleuchteten Taverne roch es nach abgestandenem Bier und nach Zigaretten. Eine Theke verlief entlang der Rückwand des Raums, und ein großes Glas mit Soleiern und ein weiteres mit Dörrfleisch spiegelten sich in dem langen Rückspiegel an der Wand unter einer Auswahl von Schnapsflaschen, die aufgereiht auf einem Hochregal standen. Eine Treppe mit dem Schild Zimmer zu vermieten führte in den zweiten Stock. Drei Männer saßen an der Bar, und aus einer altmodischen Jukebox ertönte Country-Musik. Bjorne und Trevor setzten sich an einen der runden Tische, in deren lackierte Holzplatte zwischen die Brandstellen von Zigaretten Namen geritzt waren. Bjorne winkte nach dem Barkeeper, der einen Augenblick später mit einem Tablett mit Gläsern frisch gezapften Biers erschien, die er vor sie auf den Tisch stellte. Bjorne leerte das erste Glas ohne abzusetzen und wischte sich mit der Hand über den Mund. »Das sollte den Präriestaub von einer Stunde heruntergespült haben. Bleiben noch dreizehn Stunden.«
Er reichte Trevor eines der Biergläser, nahm sich selbst ein zweites und schwenkte es in der Luft. »Lass uns anstoßen auf die Erschaffung eines Farmers.« Er zwinkerte Trevor zu und leerte das Glas bis zum letzten Tropfen.
»Da bin ich mir nicht so ganz sicher.«
»Nein, du bist ein Naturtalent. Du hast es im Blut.« Bjorne zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hemdtasche und bot Trevor eine an.
»Nein, danke. Ich dachte, du wolltest damit aufhören?«
»Nee, das behaupte ich nur Ma gegenüber, um sie mir vom Hals zu halten.« Bjorne zündete sich seine Zigarette an und löschte das Streichholz, indem er es schüttelte. Es stieß ein Rauchfahnchen aus. »Hast du je geraucht?«
»Mein Bruder hat mich an meinem fünfzehnten Geburtstag dazu herausgefordert, ein ganzes Päckchen zu rauchen. Sagen wir mal, dass mir das für den Rest meines Lebens gereicht hat.« Wenn Trevor sich recht erinnerte, hatte Brent sich vor lauter Lachen gebogen, als Trevor auf die Straße gekotzt hatte.
»Na gut. Ich habe mit acht angefangen. Schnüre, Gras und alles, was wir sonst noch finden konnten. Ich denke mal, was das anging, war ich ein Naturtalent.« Er inhalierte einen weiteren tiefen Zug, und das Ende der Zigarette glühte rot auf. »Ich sollte wirklich aufhören. Nancy und Ang reden ständig auf mich ein.« Er schob seinen Stuhl zurück. »Der Musik da muss ein Ende gemacht werden.«
Bjorne schlenderte hinüber zu der Jukebox, fischte Kleingeld aus der Gesäßtasche seiner Jeans, warf dann eine Münze ein und drückte ein paar Knöpfe. Statt der Westernklänge sangen die Rolling Stones jetzt Honky Tonk Women. »Das ist besser. Wir leben zwar in der Pampa, sind aber keine Hinterwäldler«, meinte er, als er sich hinsetzte und ein weiteres Glas Bier auf ex trank. »Wenn wir erst mal mit dieser verdammten Ernte fertig sind, können wir uns auf die eigentliche Arbeit konzentrieren.«
»Die eigentliche Arbeit?«
»Ja! Die Eishockey-Saison fängt an.«
Während ihrer Eishockey-Fachsimpelei kamen sie vom Bier zum harten Schnaps: Roggenwhisky und Cola für Bjorne, Scotch für Trevor. Trevor hörte auf, sich zu fragen, warum Bjorne ihn ins Swede Lake Hotel eingeladen hatte, und versank in der heiteren, geselligen Stimmung des Abends. Bjorne erinnerte ihn an Brent. Unbekümmert und wagemutig packte er die Welt beim Schopf, selbst wenn der Schopf brannte wie die Zündschnur an einer Stange Dynamit. Bjorne vermied es, in irgendeiner Weise über seinen Herzinfarkt und die geplante Operation zu sprechen. Sein gebräuntes Gesicht strahlte nur so vor Gesundheit. Trevor sah keinerlei Anzeichen dafür, dass der Mann krank war — Tatsache war, dass er sich neben Bjorne Stef-fansson wie ein Invalide fühlte.
Um zehn waren die meisten Tische besetzt, der Raum verqualmt vom Zigarettenrauch.
»Ruhiger Abend«, brüllte Bjorne gegen den Lärm an.
»Ruhig?«, brüllte Trevor zurück.
»Samstagabends kannst du dich hier drin meist nicht mehr drehen. Im Moment sind sie alle bei der Ernte.« Die Männer wurden bald müde, einander anbrüllen zu müssen um sich unterhalten zu können, und so reduzierte sich ihre Kommunikation irgendwann darauf, Getränkebestellungen aufzugeben. Leute kamen an den Tisch, um Bjorne zu begrüßen. Sie klopften ihm auf den Rücken oder schüttelten seine Hand, während sie über das Wetter sprachen oder fragten, wie es mit der Ernte voranging. Bjorne stellte Trevor jedem einzelnen als einen Freund vor. Um Mitternacht schlug Bjorne Trevor auf die Schulter und machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Tür. »Wir müssen morgen wieder früh arbeiten.«
Draußen füllte ein orangefarbener Ball den Himmel im Osten.
»Verdammt. Erntemond«, sagte Bjorne mit schleppender Zunge. »Großes Glück steht uns ins Haus.«
Trevor torkelte hinter Bjorne her, erstaunt darüber, dass der Mann lief, als habe er die ganze Nacht Sprudelwasser getrunken. Die Musik aus der Bar folgte ihnen die Straße hinunter. Bjorne öffnete den Gürtel seiner Hose, zog den Reißverschluss herunter und pinkelte an den Straßenrand. Trevor machte es ihm nach; die beiden Ströme heißer Flüssigkeit versickerten fauchend im Gras. Trevor schwankte wie eine Weizenähre im Wind.
»Du bist ein klasse Typ, Trevor«, meinte Bjorne. »Ich weiß gar nicht, worauf du noch wartest. Frag sie.«
»Frah sie?«, lallte Trevor. »Wen soll ich frahen?«
»Angie! Frag sie, ob sie dich heiraten will. Sie wartet nur darauf.«
»Echt?« In Trevors Kopf drehte sich alles. Er hatte sich noch nicht einmal daran gewöhnt, dass sie offiziell seine Freundin war. An eine Ehe hatte er noch nie gedacht. Zumindest nicht bis zu diesem Abend.
»Klar, das weiß ich sicher. Sie ist schließlich meine kleine Schwester, richtig?«
Bjorne schüttelte ab, zog den Reißverschluss wieder hoch und eilte die Straße hinunter, nicht zum Truck, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Trevor packte seinerseits alles wieder ein und hopste, an seinem Hosenstall herumfummelnd, Bjorne hinterher.
»Der Truck steht aber da runter.« Als Trevor sich umdrehte, um hinter sie auf das Hotel zu zeigen, stolperte er über seine eigenen Füße und legte sich lang in den Staub.
Bjorne hob Trevor aus dem Dreck. »Kannst du keinen Schnaps vertragen? Ich dachte, du bist ein Farmerskind.« Er griff von hinten nach Trevors Schultern und schob ihn die Straße hinunter, über den Schulhof und auf einen ovalen Eislaufring zu, der von einer taillenhohen Wand verrotteter Holzplanken umzäunt war.
»Du hast gesagt, du hast mal in der Abwehr gespielt«, meinte Bjorne. »Ich will sehen, wie gut du bist.«
»Kein Eis«, brachte Trevor hervor und schwankte leicht, als Bjorne ihn losließ. »Keine Schlittschuhe.«
»Kein Problem.« Bjorne hob einen Stein vom Boden und verschwand dann hinter einer klapprigen Hütte neben dem Ring. Er kehrte zurück mit zwei ramponierten Hockeyschlägern in der Hand; an dem einen war das Blatt abgesplittert, bei dem anderen hatte sich das schwarze Klebeband vom Griff gelöst, und auf beiden stand auf dem Schaft in verblassten, aber immer noch erkennbaren roten Buchstaben CCM geschrieben. »Die reichen.« Er hielt sie Trevor hin. »Links oder rechts?«
»Wie?«, fragte Trevor, und endlich schwante seinem vom Suff verwirrten Hirn, was Bjorne vorhatte.
»Spielst du mit links oder mit rechts?«, fragte Bjorne abermals und schlug die beiden Blätter gegeneinander, dass es krachte.
»Rechts, glaube ich.« Hatte er behauptet, dass er in der Abwehr gespielt hatte? Wenn er es getan hatte, war das eine weitere Schwindelei gewesen. Den Großteil seiner Eishockeyerfahrung — abgesehen von gelegentlichen Spielchen daheim in Regina mit Brent und seinen Freunden auf der Straße und auf dem Teich des Parks — hatte er nach Platzverweisen auf der Bank gesammelt, die Hände wegen der klirrenden Kälte trotz Handschuhen in den Hosentaschen vergraben, um seinem Bruder nach dessen jüngstem Duell mit der gegnerischen Mannschaft Gesellschaft zu leisten. Nicht, dass er nicht hätte spielen wollen, aber Onkel Pat hatte gesagt, dass es reiche, einen Streithahn mit gebrochener Nase im Haus zu haben. Als treuer Fan kannte er jedoch die Regeln des Spiels, und als Bjorne ihm den Schläger in die Hände drückte und sich über den Zaun schwang, fühlte er ein Hochgefühl in sich aufsteigen. Er hievte sich über die Planken, blieb aber auf halber Strecke in Grätschlage hängen. Dort wippte er einen Moment gefährlich hin und her, bis er sich schließlich nach innen auf den Beton rollen ließ.
»Bist du besoffen oder was?«, brüllte Bjorne ihm von der Mitte der Spielfläche zu, wo er hockte, bereit, den Stein auf die verblasste Mittellinie fallen zu lassen. »Ich zieh dir das Fell ab wie einem Kaninchen.«
Trevor taumelte zu ihm hinüber und stellte sich gegenüber von Bjorne hin, der hinter Trevor zeigte, wo die Umrisse der Torlinie ebenso blass zu erkennen waren wie die Mittellinie. »Alles hinter der Linie ist ein Tor.« Trevor beugte sich vor, stützte sich dabei auf seinen Schläger und machte damit die Stellung nach, die Brent immer eingenommen hatte, und an die er sich jetzt erinnerte, weil er ihn jahrelang dabei beobachtet hatte. Wie Bjorne war auch Brent Mittelstürmer gewesen.
Die beiden Männer starrten einander so lange an, dass es sich anfühlte wie eine Ewigkeit. Trevor schüttelte den Kopf, damit Bjornes Gesicht aufhörte, sich zu bewegen, denn es wackelte und verdreifachte sich, wenn er zu lange hinstierte. Er hob das Blatt seines Schlägers, um es gegen das von Bjorne zu legen. Bjorne tippte mit seinem Schläger einmal gegen Trevors und ließ dann den missgestalteten Ersatzpuck zu Boden fallen. Bevor Trevor sich überhaupt rühren konnte, schnappte Bjorne sich den Stein und rannte das Spielfeld hinunter, den Puck mit der Vorderseite seines Schlägers vor- und zurückschlagend.
»Steffansson spielt sich frei, läuft über das Eis, schießt, Tor!«
Der Stein ging klatschend über die Torlinie und prallte mit einem knallenden Geräusch von der Rückwand ab. Bjorne paradierte über das gesamte Spielfeld und hielt dabei seinen Schläger hoch über den Kopf.
Trevor schwankte in der Mitte des Rings vor sich hin, wie betäubt. »Hey, nicht fair!«, rief er.
Bjorne schlurfte an ihm vorüber und tätschelte mit dem Blatt seines Schlägers Trevors Schenkel. »Du hast recht. Du spielst Abwehr.«
Eine halbe Stunde rannte Bjorne im Kreis um Trevor herum und schoss ein Tor nach dem anderen. Endlich war Trevor ausgenüchtert genug, um Bjorne den Puck auch einmal vom Schläger zu nehmen. Er rannte auf das entgegengesetzte Ende des Spielfelds zu. Bjorne folgte ihm auf den Fersen und schlug seinen Schläger auf den Beton.
»Wenn du nicht mein zukünftiger Schwager wärst, würde ich dir jetzt so richtig den Arsch versohlen.«
Trevor machte sich bereit, um einen Schlagschuss auf das Tor zu wagen, doch bevor er mit seinem Schläger auch nur einen halben Bogen zum Ausholen beschrieben hatte, reichte Bjorne zwischen Trevors Beine, holte sich den Stein rückwärts mit dem Blatt heraus und rannte los.
»Tor!«, brüllte er von der anderen Seite des Spielfelds.
Trevor warf seinen Schläger auf den Boden. Der Holzgriff brach in der Mitte entzwei. Er hob die Teile auf und jagte Bjorne nach, schwenkte dabei die zerbrochenen Hälften in der Luft. »Ich werde dich umbringen, Steffansson.«
»Hoher Stock!«, brüllte Bjorne.
Trevor stürzte sich auf den Mann und warf ihn zu Boden. »Jetzt hab ich dich«, jubelte er.
Bjorne antwortete nicht. Trevor rollte von der Brust seines Freundes und hockte sich auf seine Fersen. Bjornes Gesicht war ganz rot, er stieß grunzende Laute aus und hatte sich zusammengerollt wie ein Ball.
»Hey Buddy.« Trevor streckte die Hand aus und berührte ihn an der Schulter. »Bist du okay?«
Bjorne gab weiterhin grunzende Geräusche von sich, aber als Trevor sich vorbeugte, um seine Hände unter Bjornes Kopf zu legen, hob er die Hand. »Ich bin... in Ordnung«, stieß er keuchend hervor. »War plötzlich ganz außer Atem.«
Einen Moment später gab Bjorne seine Embryonalstellung auf und legte sich flach auf den Boden. Trevor war erleichtert, als die Atmung des Mannes wieder gleichmäßig wurde und sein Gesicht wieder den bräunlichen Schimmer bekam, den es normalerweise hatte. Trevor ließ sich neben ihn auf den Rücken fallen.
»Bist du sicher, dass du okay bist?«, fragte Trevor noch einmal.
»Ja, fühl mich wohl wie eine Schnecke im Regen«, gab Bjorne zur Antwort, und seine Stimme klang wieder normal. »Scheiße, das hätte ich nicht sagen dürfen.« Er zeigte nach oben.
Wolken hatten sich vor den kugelrunden Mond geschoben, und das Sternenzelt, das vor einer Stunde noch gestrahlt hatte, war verschwunden. Zwei nasse Tropfen klatschten auf Trevors Stirn, und Bjorne atmete langsam aus. »Schätze, das ist der Schlusspfiff.«
Sie eilten zurück zum Truck. Der Wind wurde stärker, während sie rannten, sodass er ihnen die losen Zipfel ihrer Hemden um die Lenden schlug. Bevor sie ins Führerhaus klettern konnten, öffnete sich der Himmel, und die Sintflut brach über sie herein.
Bjorne stöhnte. »Verdammte Scheiße. Hey Gott, halt den Regen noch ein paar Tage zurück.«
Sie fuhren gen Norden aus der Stadt heraus in Richtung Farm. Die Scheibenwischer arbeiteten sich auf höchster Geschwindigkeit über die Windschutzscheibe, um zumindest einigermaßen mit den Fluten fertig zu werden. Bjorne beugte sich weit über das Lenkrad, um die Straße überhaupt ausmachen zu können. Als sie ein kaputtes Tor passierten, was bedeutete, dass sie die Hälfte des Heimwegs hinter sich hatten, fing er an zu singen: »Auf dieser alten Farm malochst du dir die Finger wund.« Trevor stimmte ein, und die Scheibenwischer gaben ihnen den Takt vor wie ein Metronom. »Doch geb’ ich sie nie auf, denn sie ist mein Zuhaus’.« Der Schein der Lampen auf dem Armaturenbrett beleuchtete Bjornes Gesicht. In diesem Augenblick wollte Trevor nichts anderes im Leben, als der Bruder dieses Mannes sein. Für immer auf der Farm bleiben und sich jeden Abend mit Angela ins Bett kuscheln. Er könnte hierbleiben. Er hatte nichts mehr, für das es sich noch lohnte, nach Calgary zurückzukehren. Eine leere Wohnung. Keinen Job.
»Frag sie.« Bjornes Kopf wippte mit der eingebildeten Musik auf und nieder.
Trevor schwenkte im Takt die Arme und grölte: »Mein Baby, das liebt den Traktor mehr als mich.«
Am nächsten Morgen löste sich sein Vorsatz ebenso auf wie die Aspirin-Tabletten, die er gegen seine hämmernden Kopfschmerzen nahm. Als sei Bjornes mitternächtliches Gebet erhört worden, hatte der Regen die Farm des Nachbarn verschont, und sie konnten einen halben Tag dreschen, bevor dauerhafte Regenfälle einsetzten. Trevor schüttete Wasser in Massen in sich hinein, unfähig, auch nur einen Bissen fester Nahrung herunterzubringen. Vor dem Abendessen erfand er eine anstehende Geschäftsreise und fuhr zurück nach Calgary.