44.
Brautjungfer Elena:
Cappuccinofarbenes trägerloses Etuikleid (Oscar de la Renta)
Fleischfarbene Wildlederschuhe (Manolo)
Schmuck (von Mama ausgeliehen)
Geschätzte Gesamtkosten: 22 800 £
»Nicht schlecht, wie?«
Wir sollten jetzt reingehen, wenn wir noch gute Plätze haben wollen!« Annie sah auf die Uhr und drängte Ed, Lana und Owen – alle zur Hochzeit festlich ausstaffiert – zum Eingang der kühlen grauen Kapelle.
»Du siehst toll aus! Habe ich dir schon gesagt, wie phantastisch du aussiehst?« Ed legte den Arm um Annies Taille und lächelte sie an.
»Ich weiß!« Sie zwinkerte ihm zu.
»Sieh dir bloß deinen Busen an!«, entfuhr es ihm unwillkürlich. »Der ist ja prachtvoll!«
Annie betrachtete flüchtig ihr Dekolleté, das aus den Nähten platzen wollte, und bekam ein schlechtes Gewissen. Es war nicht nur einem neuen BH zu verdanken …
Sie trug ein bewährtes zuverlässiges Hochzeits-Outfit, denn es war ein hektischer Vormittag gewesen, und die fünfundzwanzig Minuten, die sie sich aufgespart hatte, um sich fertig zu machen, ließen ihr keinen Raum zum Experimentieren. Aber sie sah wirklich gut aus in ihrem blaugrünen Seidenkleid im Empire-Stil mit dem Spitzenbolero darüber. Dazu ein phantastischer Hut, phantastische grüne High Heels und ein strahlendes Gesicht in Folge des Morgens, den sie erlebt hatte. Sie war so fleißig gewesen, so gefragt und so großartig in ihrem Job.
Seit sieben Uhr morgens hatte Annie sich in Svetlanas Haus in Mayfair aufgehalten und alle Angehörigen der Braut gestylt und deren Outfits perfektioniert.
Seit Svetlanas Versöhnung mit Harry verlief die Freundschaft zwischen Annie und Svetlana wieder in den gewohnten Gleisen. Vielleicht war es auch keine allzu große Überraschung, dass Svetlana außerdem angefangen hatte, sich mit der Tochter, zu der sie all diese Jahre keinen Kontakt gehabt hatte, anzufreunden.
»Hatte sie es schwer in Ukraine. Ist hartes Leben da. Und ist sie sehr kluges Mädchen. Sehr klug, sehr schön und hat großen Ehrgeiz. Ist sie wie ihre Mama«, hatte Svetlana Annie stolz wissen lassen. Als ob Annie die Ähnlichkeit nicht längst erkannt hätte!
Annie höchstpersönlich hatte Svetlana in ihr aufwendiges Couture-Hochzeitskleid geschnürt und sie in den Inbegriff erwachsener bräutlicher Perfektion verwandelt. Dann half sie Elena in ihr langes cappuccinofarbenes Etuikleid, wobei sie all die körperlichen wie auch geistigen Merkmale zur Kenntnis nahm, die Mutter und Tochter teilten.
»Nicht schlecht, wie?«, fragte Elena, als sie sich im Spiegel sah.
Petrov und Michael trugen aufeinander abgestimmte Pagen-Outfits, die an den meisten anderen kleinen Jungen vielleicht albern gewirkt hätten, doch diese beiden waren dunkelhaarig und ernst genug, um cremefarbene Kniebundhosen, helle Strümpfe und Schnallenschuhe tragen zu können.
Zusätzlich waren noch zahlreiche Freundinnen Svetlanas gekommen, um sich von Annie den letzten Schliff geben und beraten zu lassen, welchen Hut, welche Schuhe sie tragen und wo sie das Anstecksträußchen anbringen sollten.
»Wie steht Igor zu deiner Hochzeit?«, fragte Annie ihre Freundin.
»Ist unwichtig«, antwortete Svetlana mit einem Lächeln, »das Scheidungsabkommen ist jetzt wasserdicht. Sind keine Änderungen mehr gestattet, oder ich erhebe Anklage wegen Kindesentführung. Hat er außerdem durch schlechte Investitionen so viel Geld verloren. Und seine neue Freundin ist mit dem Tennislehrer durchgebrannt …« Daraufhin hatte Svetlana schallend gelacht, bis die prachtvolle Hochfrisur auf ihrem schönen Kopf sich aufzulösen drohte. »Dummerrr, dummerrr Igor!«, fügte sie mit beinahe weichem, wehmütigem Blick hinzu.
»Ich glaube, mit Harry wirst du viel, viel glücklicher.«
Svetlana wandte sich vom Spiegel, in dem sie sich kritisch betrachtet hatte, ab und sah Annie direkt an.
»Ja«, antwortete sie, »ich glaube, hast du recht, werde ich glücklich mit Harry. Bin ich dann nicht mehr superreich, aber glücklich. Etwas Neues für mich, wie? Meine gute Freundin Annah!« Und damit schloss sie Annie völlig unverhofft in ihre Arme.
Jetzt drängte Annie ihre Familie in die viktorianische Pracht der Kapelle. Das Kirchlein stand auf smaragdgrünem Rasen, umringt von einem friedvollen Rechteck ebenfalls gothischer Gebäude, wo später der noble Empfang stattfinden sollte.
Sie konnte es nicht lassen, sich ausgiebig und neugierig nach den in der Kirche Versammelten umzusehen – eine so rätselhafte Vielfalt von Menschen. Auf Harrys Seite waren alle sehr vornehm und ganz alte englische Schule: jede Menge Cuts, Federhüte und zweckmäßige Kleider mit passenden Mänteln.
Auf der Seite der Braut sah es schon ungewöhnlicher aus. Grobschlächtige Männer mit rasiertem Schädel zeigten sich in gangstermäßigen Nadelstreifen und protzigem Goldschmuck. Die Mädchen – eines bezaubernder und umwerfender gekleidet als das andere – waren groß, dünn, blond, elegant und osteuropäisch, in Gucci, Valentino und allen Luxus gehüllt, der für Geld zu haben war.
Harry saß bereits in der vordersten Bank und zupfte nervös an seinen Manschetten. Annie fragte sich, ob er immer noch zweifelte … überlegte, ob diese so oft abgesagte Hochzeit nun wirklich stattfand oder nicht.
Dann entstand hinten in der Kapelle ein Aufruhr, der vermuten ließ, dass die Braut mit ihrem Gefolge eingetroffen war. Annie drehte den Kopf und sah Svetlanas Söhne und Elena in den Vorraum treten.
Da begann das Handy in ihrer Handtasche, zu summen. Sie hatte es auf Vibration geschaltet, nur für den Fall, dass noch in letzter Minute Korrekturen am Kleid erforderlich wurden.
»Annah!«, flüsterte Svetlana am anderen Ende der Leitung. »Ich bin in der Kirche!«
Annie sah sich noch einmal nach dem Vorraum um, doch von der Braut war nichts zu sehen.
»Hat Uri mir per Kurier gerade riesigen Diamantring geschickt. Riesigen!«, wiederholte sie. »Sagt er, soll ich seine Frau werden, nicht Harrys. Jetzt ich bin nicht mehr sicher. Uri sehr reicher Mann. Will er mein ganzes Geld in seinen Fonds investieren, macht er mich zu Multimillionärin. Mit Harry … leben wir einfach nur ohne Sorgen.«
»WAS?!«, fuhr Annie auf und zog neugierige Blicke von den Leuten um sie herum auf sich. In hitzigem Flüsterton erklärte sie Svetlana: »Aber Harry wird dich glücklich machen! Vergiss endlich deinen Multimillionär-Fimmel, Schätzchen, das ist vorbei! Wir leben in einer Wirtschaftkrise. Wenn du mich fragst: Uri ist ein Schwindler. Und außerdem ist Schluss mit Klunkern. Das Echte ist gefragt. Die Nullerjahre sind um, und es ist Zeit, erwachsen zu werden!« In einem letzten Überzeugungsversuch brach es aus ihr heraus: »Du kannst goldene Schlangenledertaschen nicht mal mehr bei eBay verkloppen! Niemand bietet etwas dafür!«
Annie sah hilflos Ed an, der sichtlich verwirrt neben ihr saß.
»Svetlana?«, erriet er. »Krise?«
»Momentchen«, sagte Annie ins Handy.
»Nein! Habe ich keinen Moment Zeit«, erwiderte Svetlana, doch Annie hatte das Handy schon vom Ohr genommen.
»Diese Art von Krise kann auch nur Svetlana haben«, flüsterte Annie Ed eindringlich zu. »Ein anderer angeblicher Millionär hat gerade um sie angehalten. Jetzt weiß sie nicht, was sie tun soll.«
Ein amüsierter Ausdruck trat auf Eds Gesicht, und er schüttelte sachte den Kopf. »Kann es denn noch bunter werden?«, fragte er, eine Braue in die Stirn gezogen. »Gib mir das Handy!«
Jetzt zog Annie die Brauen hoch. »Das Handy? Du willst mit ihr sprechen? Meinst du … Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
Gäste drehten sich zu ihnen um, und Harry nahm eine rosa Färbung an, die, wie Annie wusste, sich noch vertiefen würde, je länger die Verzögerung dauerte. Der Organist klimperte immer noch seine Fließbandmusik und hatte augenscheinlich noch nicht das Zeichen bekommen, den Hochzeitsmarsch zu spielen.
»Hallo, Svetlana, hier ist Ed – Annies Ed«, begann er. »Ich wollte dir etwas sagen …«
»Ed?«, fragte Svetlana verblüfft. Das war der Mann, der Elena zu ihr gebracht hatte. Der Mann, der sie auf ihrer eigenen Türschwelle so streng ins Gebet genommen hatte!
»Wenn du wegen Geld heiratest«, fuhr Ed fort, »findet sich immer noch einer, der mehr Geld hat. Wenn du wegen Schönheit heiratest, kommt immer noch jemand, der schöner ist, aber wenn du aus Liebe heiratest …«
Er hob den Kopf, und sein Blick fand Annies, während er in seinem ruhigen Lehrertonfall fortfuhr: »Dann findest du keinen Menschen, der einem Vergleich standhalten würde.«
Damit klappte er das Handy zu und ergriff Annies Hand.
»Was hat sie gesagt?« Annie brannte darauf, es zu erfahren.
»Weiß nicht.« Ed zuckte mit den Achseln. »Sie ist ein großes Mädchen. Es ist ihre eigene Entscheidung.« Er sah sie immer noch an. »Ich liebe dich«, flüsterte er. »Lass uns heiraten!«
Plötzlich schlang Annie ganz fest beide Arme um ihn und beichtete flüsternd und mit wenigen Worten an seinem Ohr: »Ed, du hast mich geschwängert.«
Zu ihrer Verblüffung wandte er den Kopf und flüsterte zurück: »Ich weiß.«
»Du weißt es?« Sie löste sich von ihm. »Was soll das heißen?«
In dem Bewusstsein, dass die Reihen von Gästen vor und hinter ihnen inzwischen sehr interessiert lauschten, neigte Ed sich ihr zu und raunte ihr so leise wie möglich ins Ohr: »Annie, du siehst schwanger aus, du verhältst dich wie eine Schwangere … wie sollte ich es da nicht wissen?«
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte sie, doch noch während die Worte über ihre Lippen kamen, wurde ihr klar, dass er darauf gewartet hatte, dass sie es ihm erzählte … er wollte ihr Zeit lassen. »Danke«, sagte sie und rückte wieder näher an ihn heran.
Den Arm fest um ihre Taille gelegt, im Flüsterton, um ihre Privatsphäre zu wahren, so gut es ging, musste er jetzt doch die Frage stellen. Er wäre geplatzt, wenn er sie noch länger hätte zurückhalten müssen.
»Ich habe einen Anruf für dich entgegengenommen, und da wollte jemand einen Termin bestätigt haben, in …«, er zögerte kurz, »in einer Klinik?«
»Oh nein, nein! Nicht, was du denkst, ach, Ed!« Sie drückte ihn fest an sich. »Ich habe mir Botox spritzen lassen und darf mir nach der zwölften Schwangerschaftswoche eine klitzekleine Auffrischung genehmigen.«
Was auch immer Ed darauf geantwortet haben mochte, ging unter im Aufbrausen einer Vierundzwanzig-Pfeifen-Orgel, das die Kapelle füllte und von den Wänden widerhallte. Mendelssohns Hochzeitsmarsch: ein Klassiker. Svetlana hatte auf jeder ihrer Hochzeiten darauf bestanden.
Als sie in all ihrer Pracht den Gang entlangschritt, entdeckte sie Annie und Ed in dem Meer der Gäste und hielt wahrhaftig kurz inne, gerade lange genug, um ein paar Worte in ihre Richtung zu hauchen, die sie ihr von den Lippen lesen mussten.
Weil Annie die Tränen in den Augen standen, war sie nicht ganz sicher, aber sie meinte, Svetlana hätte gesagt: »So, so, Liebe, wie? Gut, versuchen wir’s mit Liebe!«