20.
Ed zu Hause:
Blauer Baumwollpullover (Gap-Ausverkauf)
Weißes Rugbyshirt (Schuluniform-Ausverkauf)
Zerfetzte Jeans (uralte Levi’s)
Bloße Füße
Geschätzte Gesamtkosten: 55 £
»Willst du deine Fußfolterinstrumente ausziehen?«
Es war spät, als Bob Annie nach zwei Tagen Filmaufnahmen in Birmingham vor ihrem Haus absetzte. Doch im Wohnzimmer brannte immer noch Licht, denn Ed hatte versprochen, auf sie zu warten.
Owen schlief sicher schon, und Lana übernachtete bei Greta, doch Ed war da, um sie zu Hause willkommen zu heißen.
Als er das Motorengeräusch auf der Straße hörte, öffnete er die Haustür und ging Annie entgegen. Er begrüßte Bob und hob Annies Gepäck aus dem Kofferraum.
»Schön, dass du wieder hier bist«, sagte Ed, zurück im Haus. »Kuschle dich aufs Sofa, und ich mach dir Tee und Toast, wenn du möchtest.«
»Ja, das möchte ich sehr gern«, erwiderte Annie.
»Gut, aber es gibt nur eine Scheibe, und ich streiche nur sehr, sehr dünn Butter drauf, denn ich weiß ja Bescheid über den ewigen Kampf gegen die Pfunde, den ihr Promis auszufechten habt«, konnte er nicht widerstehen, sie aufzuziehen.
»Ach, keine Sorge! Ich weiß nicht, ob sie mich jemals wieder vor die Kamera treten lassen. Ich bin degradiert worden und muss zurzeit wohl die Garderobiere spielen.«
»Oje«, bedauerte Ed sie, als sie sich aufs Sofa legte, »so schlimm?«
»Im Moment, ja.«
»Aber es geht vorbei … oder?«
»Vielleicht … Ich hoffe es … Ich hoffe, dass es nicht mehr so schlimm aussieht, wenn wir alle ein schönes Wochenende zu Hause hatten und ein bisschen ausgeruhter sind.«
»Willst du deine Fußfolterinstrumente ausziehen?« Ed deutete auf Annies High Heels. »Ich könnte dich ein bisschen massieren.«
»Ja, das wäre sehr nett«, musste sie zugeben, »aber könntest du vorher noch Tee und Toast besorgen? Bitte!«, schmeichelte sie. »Du bist ein sehr, sehr lieber Mensch.«
»Ich weiß«, gab er zurück. »Und dabei hast du mich noch nicht einmal gefragt, wie es mir ergangen ist.«
»Nein«, gab sie zu. »Wie ist es dir ergangen, Liebster?«
»Jemand ist in der Jahrgangsstufe sechs in Geige durchgefallen, und mich erwartet am Montag ein sehr unangenehmes Treffen mit zwei über alle Maßen enttäuschten St.-Vincent’s-Eltern.«
»Autsch!«, sagte Annie mitfühlend. »Ich dachte, in St. Vincent’s fallen Schüler grundsätzlich nicht durch.«
»Tja, so sollte es sein«, erwiderte Ed. »Und dabei ist diese Schülerin wirklich gut. Ich glaube, sie war zu nervös.«
»So ein Pech! Bring mir was zu essen, Schätzchen, dann möchte ich dir alles über Tina erzählen.«
Als Annie ihren Bericht beendet und ihre Füße gründlich hatte massieren lassen, konnte Ed ihr nur den Rat geben: »Warte ab, was sich am Montag ergibt.« Doch er war einer Meinung mit ihr, dass es eine sehr liebe, sehr Annie-typische Geste wäre, Tina eine DVD von dem Ereignis zu schenken.
»Und du glaubst nicht, dass es Finn stört, wenn Bob und du das organisiert?«, überlegte er.
»Nein«, versicherte Annie ihm. »Wie soll er überhaupt davon erfahren?«
»Tja … das ist nicht ganz dasselbe«, gab er zu bedenken.
»Ich finde, das sollte meine geringste Sorge sein.«
»Gut, tja … Und jetzt, da du es bequem hast und ein bisschen entspannter bist, würde ich gern etwas mit dir besprechen …«, begann Ed vorsichtig.
»Oh nein!« Annie richtete sich kerzengerade zum Sitzen auf. »Nicht schon wieder das Baby-Gespräch – das Baby-Gespräch kann ich jetzt wirklich nicht ertragen, Ed!«
»Nein, darum geht es nicht. Darüber wollte ich nicht reden«, wehrte Ed ab, »aber wenn du es nun schon einmal zur Sprache bringst – warum sollten wir nicht weiter darüber reden?«
»Ich bin müde.« Annie fuhr sich mit den Händen übers Gesicht.
»Ich auch, aber an den Wochenenden sind wir immer sehr beschäftigt, und vielleicht ist es nötig, dass ich darüber spreche.« Er wirkte so ernst.
»Ed.« Annie legte alles in ihre Worte, was sie an Freundlichkeit und Verständnis aufbringen konnte. »Ed, ich finde wirklich, dass ich genug Kinder habe.«
»Ja, mit einem anderen«, fiel er ihr ins Wort. »Bin ich nicht gut genug, dass man Kinder mit mir hat? Das ist so ungerecht! Ich konkurriere mit einem Toten, und ich kann nie im Leben gewinnen!«
Annie zuckte zusammen, als er auf Roddy anspielte. Um nichts in der Welt wollte sie, dass Ed sich jemals mit Roddy verglich. Wie er selbst sagte, war das ungerecht. Roddy war tot. Annie, ihre Familie und ihre Freunde hielten größte Stücke auf ihn. So war das, wenn jemand gestorben war. Alle erinnerten sich nur an seine wirklich guten Seiten. Die hinreißenden, die ultraromantischen und die Supervater-Momente. Die gewöhnlichen, alltäglichen Klagen und Nörgeleien waren völlig vergessen. Dachte Annie je daran, wie unordentlich Roddy gewesen war? Oder wie reizend verantwortungslos? Oder daran, dass er an der Theke fast immer der Letzte gewesen war? Nein, mit Gedanken an so etwas verschwendete sie keine Sekunde.
»Ed, bitte nicht!«, warnte Annie. »Es geht nicht allein um dich und ganz sicher nicht um Roddy, sondern um mich. Ich will kein Kind mehr. Okay? Ich wünsche mir ein weiteres Kind nicht aufrichtig genug, um das alles noch einmal durchzustehen. Ich will nicht schwanger sein, ich will keine Geburt, ich will nicht Nacht für Nacht alle drei Minuten geweckt werden und den ganzen Tag Breichen bereiten und mich schlampig und erschöpft fühlen. Und ich will auch nicht wieder auf Spielplatzbänken sitzen und mit den anderen schlampigen und erschöpften Leuten darüber reden. Ich will das alles nicht!«, fügte sie vehement hinzu, für den Fall, dass er nicht kapierte, worauf es ihr ankam.
Ed saß in der Sofaecke und hielt noch immer Annies Füße in seinen Händen. Doch die hatte er völlig vergessen.
Mit einem sehr traurigen, verletzten Gesichtsausdruck entgegnete er: »Aber ich habe das alles nie erlebt! Ich habe noch nie nachts ein Baby herumgetragen, ich habe nie ein Kind auf der Schaukel angestoßen oder im Buggy durch den Park geschoben …«
»Gut, Hanna wäre sicher überglücklich, wenn du etwas mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen würdest«, schlug Annie vor. Eds Schwester hatte mittlerweile zwei kleine Kinder.
»Annie!«, erwiderte Ed verärgert. »Darum geht es nicht. Es geht darum, dass ich ein eigenes Kind haben möchte. Ist das so schwer zu begreifen?«
Mehr sagte er zunächst nicht, doch zu Annies Verblüffung setzte er dann hinzu: »Ich will nicht, dass diese Frage uns auseinanderbringt.«
»Das kann sie nicht!«, rief sie. »Sie kann uns nicht auseinanderbringen. Ich habe nie gesagt, dass ich für dich noch ein Kind bekommen will!«
»Du hast nie gesagt, dass du es nicht willst«, hielt Ed sofort dagegen.
»Aber du hast mich nie danach gefragt!«, warf Annie ihm mit einem Gefühl unbehaglichen Zorns an den Kopf. »Das ist etwas ganz Neues.«
»Haben wir je auch nur darüber geredet? Haben wir überhaupt je über irgendetwas geredet?«, fragte Ed. »Wir sind einfach in größter Hektik hier eingezogen. Und vieles ist dabei nicht diskutiert und nicht entschieden worden.«
»Aber jetzt reden wir.« Annie bemühte sich, ihre Stimme zu senken und ihre Wut zu beherrschen. »Und ich sage dir, dass ich es nicht mache. Dass ich es nicht will.«
»Und ich sage dir, dass es das Einzige ist, was ich mir wirklich sehnlichst wünsche«, konterte Ed. »Ich kann kaum noch an etwas anderes denken. Ich bin fünfunddreißig …«
Annie schnaubte aufgebracht. »Na und? Vor dir liegen mindestens noch vierzig fruchtbare Jahre!«
Sie war zu müde. Warum musste er schon wieder davon anfangen? Ihr war, als wäre sie gerade zur Tür hereingekommen und auf der Stelle tief in diese unangenehme, unlösbare Diskussion verstrickt worden.
»Ich kann das jetzt nicht«, erklärte sie leise, stemmte sich vom Sofa hoch und verließ das Zimmer. Auf dem Weg griff sie nach ihrer Reisetasche und suchte dann das Schlafzimmer auf.
Sie wollte sich ausziehen und ein Bad einlassen. Sie würde sich eine Weile im warmen Wasser aalen und ein bisschen ruhiger werden. Frieden und Stille würden einkehren, und Ed würde sich ebenfalls beruhigen. Der Ärger würde verrauchen. Ed überkam der Nestbautrieb. Das war nicht weiter schlimm. Dieses Gefühl würde vergehen. Sie wusste es, weil sie selbst sich in der Vergangenheit so gefühlt hatte, und es war vorübergegangen.
Vielleicht hatte er im Moment zu viel freie Zeit. Vielleicht brauchte er ein neues Hobby oder so. Sie hatte vor, ihm zum Geburtstag Hubschrauberflugunterricht zu schenken. Sein Dad war Hubschrauberpilot gewesen, und Ed hatte geäußert, dass Hubschrauberfliegen etwas wäre, das er schon immer hatte ausprobieren wollen. Vielleicht fand er Geschmack daran und hob dann ein paarmal im Monat ab. Das würde ihn von diesem Babykram ablenken. Aber es war wohl ein reichlich teures Hobby, oder? Hubschrauberfliegen …
Annie öffnete ihre Reisetasche und fing an auszupacken. So ziemlich alles war schmuddelig und gehörte in den Schmutzwäschekorb oder in ihr Büro auf die Stange für die Kleider, die in die chemische Reinigung sollten.
Sie griff nach ihrer schönen blauen Seidenbluse, schüttelte sie behutsam aus und machte sich auf den Weg ins Büro. Als sie die Bluse an die Stange gehängt hatte, spürte sie plötzlich, dass hier etwas nicht stimmte.
Dieser Raum beherbergte einen schmalen Kleiderschrank, in dem sie ihre überschüssigen Sachen aufbewahrte. Darin befanden sich alle Kleidungsstücke, die sie augenblicklich nicht nutzte, und in letzter Zeit war in diesem Schrank der Platz ein bisschen knapp geworden. Deshalb hatte sie überflüssige Tops, Röcke und sogar ein paar Schuhe in großen karierten Wäschesäcken mit Reißverschluss verstaut. Drei davon hatten sich prall gefüllt neben dem Kleiderschrank gestapelt.
Und sie waren nicht mehr da.
Annie durchsuchte das Zimmer flüchtig, aber es war so klein, dass die Säcke sich hier wirklich nicht verbergen konnten. Sie öffnete den Schrank, doch der war gestopft voll; für die Säcke war dort überhaupt kein Platz. Sie ging ins Schlafzimmer zurück und suchte es gründlich ab. Unter dem Bett, in den Schränken, auf den Schränken – nichts.
Vom Kopf der Treppe aus rief sie nach Ed.
»Ed, wo sind meine Säcke – die aus dem Büro? Die großen Wäschesäcke mit meiner überschüssigen Kleidung?«
Schweigen.
Ach, das war doch kindisch! Wollte er jetzt die ganze Schmollnummer abziehen und nicht mit ihr reden?
»Ed!«, wiederholte sie, dieses Mal lauter. »Wo sind meine Wäschesäcke? Die aus dem Büro?«
Ed kam aus dem Wohnzimmer und blieb am Fuß der Treppe stehen.
»Wäschesäcke?«, fragte er und legte eine Hand auf seinen Kopf, als würde ihm das helfen, klarer zu denken.
»Große, weiß-blau karierte Säcke«, erklärte sie.
»Owen hatte solche Säcke. Er hat auf dem Markt einen ganzen Stapel davon für seine Benefizentrümpelung gekauft.«
Die Worte tropften von Eds Lippen, während Annie wie auch er begriff, was das bedeuten konnte.
»Er hat Wäschesäcke für die Entrümpelung benutzt?«, wiederholte Annie entsetzt. »Ich muss ihn wecken!«, rief sie. »Ich muss wissen, ob er in meinem Büro war.«
»Nein«, wehrte Ed ab, »das hat Zeit bis morgen.«
In Annies Kopf drehte sich alles und ihr wurde ganz schlecht, als sie versuchte, Inventur von allem zu machen, was womöglich verloren war.
Die Benefizentrümpelung?
»Wohin schaffen sie die Sachen?«, fragte sie Ed in klagendem Ton.