11.

Miss Marlise am Set:

Enge schwarze Jacke (Helmut Lang)

Weißes Hemd (M&S)

Enge Lederleggings (Les Chiffoniers)

Schwarze Boots (LK Bennett)

Leuchtend roter Lippenstift (Clinique)

 

Geschätzte Gesamtkosten: 940 £

»Ha!«

Ein Maskenball?«

Finn, Klemmbrett in der Hand, Bluetooth am Ohr, sah Annie sichtlich verdutzt an.

»Wo zum Teufel sollen wir einen Maskenball auftreiben?«, fragte er sie. »Und müssten unsere Damen dann nicht Ballkleider tragen, die wir uns nicht leisten können? Und überhaupt, wenn alle Masken tragen, wie sollen wir dann den Überblick behalten? Am Ende filmen wir den halben Abend über die falschen Frauen.«

Miss Marlise stieß ein höhnisches Kichern aus und verdrehte die Augen, als wollte sie Finn wissen lassen, dass ja wohl nichts anderes zu erwarten war, wenn die »Garderobenfrau« Vorschläge äußern durfte.

Annie spürte in diesem klaustrophobischen Raum auch Bobs und Nikkis Blicke auf sich. Okay, hätte sie am liebsten geschrien, es war ja nur ein Vorschlag!

Stattdessen sagte sie zu ihrer Verteidigung: »Cath mag ja echt cool und gefasst erscheinen, aber sie geht nicht auf Partys. Ich weiß wirklich nicht, ob sie das bewältigt. Offenbar hat ihr gegenüber niemand diese Partnervermittlungsparty erwähnt, als sie ihrer Teilnahme an der Sendung zustimmte … irgendwie.« Annie wollte niemanden beschuldigen, doch sie vermutete, dass es mit Nikki oder Finn zu tun hatte.

»Ich fürchte, sie könnte eine Panikattacke bekommen, sich den ganzen Abend in der Toilette einschließen oder so, wenn wir ihr nicht wirklich beistehen«, fügte sie hinzu.

»Ach, um Himmels willen!«, stieß Finn gereizt aus. »Wir können sie jetzt unmöglich fallen lassen! Wir haben schon zu viel Zeit und Geld fürs Filmen mit ihr aufgewendet. Außerdem würde sie uns gehörig das Leben schwermachen, wenn sie sich jetzt wieder von ihren schönen neuen Sachen trennen müsste, oder?« Er warf Annie einen bösen Blick zu, als ob alles irgendwie ihre Schuld wäre. Nichts davon war ihre Schuld! Sie hatte alles getan, was er von ihr verlangt hatte. Sie konnte Cath umstylen, aber sie konnte sie nicht in einen anderen Menschen verwandeln.

In diesem Moment rauschte Svetlana in den Raum. Sie hatte schon immer eine lockere Auffassung von Pünktlichkeit gehabt, und ihr Fernsehauftritt würde nichts daran ändern, trotz Finns und Nikkis sorgfältig eingeteilter Zeitpläne. Also kam sie zu dieser Besprechung nicht nur zwei, drei Minuten zu spät, sondern geschlagene fünfundzwanzig.

Dennoch beschwerte sich niemand, als sie eintrat, mit wallendem blonden Haar über einem weißen Pelzmantel. Nur ein kollektives Luftschnappen ging durch den Raum. Doch Annie bemerkte, dass Miss Marlise die Brauen hochzog und auf ihre Uhr sah. Dass sie eifersüchtig auf Svetlana war und auf die Aufmerksamkeit, die diese auf sich zog, war vom ersten Tag an klar gewesen. Annie wusste instinktiv, dass sowohl sie als auch Svetlana sich vor dieser Frau in Acht nehmen mussten. Hatte Bob nicht gesagt, dass ihr Ehrgeiz sie über Leichen gehen lassen würde?

»Svetlana, hi.« Finn lächelte sie zur Begrüßung an. »Du hast nicht zufällig ein paar überschüssige Einladungen zu einem Maskenball in deiner Mayfair-Wohnung herumliegen, oder?«

Das war ganz offensichtlich ein flapsiger kleiner Witz. Doch Svetlana nahm auf dem einzigen noch freien Stuhl im Raum Platz, streifte elegant ihren Pelz ab und erwiderte gleichmütig mit ihrem starken Akzent: »Aberr natürrlich.«

Woraufhin ein frischer Energieschwall durch den Raum zuckte.

»Tatsächlich?«, vergewisserte Finn sich.

»Natürrlich.« Svetlana zuckte leicht mit den Schultern. »In der Tate Modern findet nächsten Freitag grroßer Kunstball statt. Man kann Masken tragen, man kann Kostüm, Rüstung, Kleid, Overall tragen … jeder, wie er will. Ein Künstlerball … zu Wohltätigkeitszwecken … machen Leute immer, was sie wollen.«

»Würde man uns dort filmen lassen?«, fragte Finn ziemlich atemlos vor Begeisterung. Eine große glamouröse Veranstaltung, auf der man tragen konnte, was man wollte, und die ihn keinen Cent kosten würde. Er brauchte nur mit einer Kamera aufzutauchen.

»Ja. Bin ich im Komitee, ich sage, du filmst, oder gebe ich keinen großen Scheck«, erklärte Svetlana.

»Okay, das ist ja toll! Großartig! Svetlana, ich weiß nicht, was wir ohne dich machen würden!«, sprudelte Finn heraus.

Miss Marlise stemmte ihre Hände in die schmalen Hüften und verdrehte wieder einmal die Augen. »Ha!«, entfuhr es ihr.

Finn zückte sein Klemmbrett, kritzelte neue Notizen und blätterte gleichzeitig die älteren durch.

»Heute fangen wir mit Annies Einkaufsberatung an. In Ordnung, Bob? Tut mir leid, mein Schatz«, sagte er in Annies Richtung, »du triffst das nächste Mädchen im Einkaufszentrum und arbeitest von dort aus. Die Szenen zu Hause drehen wir morgen Vormittag. So muss das klappen. Also, es wäre toll, wenn du so tun könntest, als hättest du sie schon getroffen, ihre Garderobe durchgesehen und sie ein bisschen näher kennengelernt.«

Er blätterte durch die Seiten und las laut vor: »Jody Wilson, dasselbe Einkaufszentrum, die Erlaubnis ist hoffentlich noch gültig. Nikki, wenn du bitte anrufen und das klären würdest …«

Annie wurde von diesen Anweisungen überrumpelt. Sie hatte Jody nie zuvor gesehen und sollte direkt in die Umkleidekabine mit ihr geschickt werden?

Bei The Store hatte sie das natürlich schon unzählige Male erlebt: Sie hatte Frauen getroffen, sie in einen Umkleideraum geführt, sich den größten Teil ihrer jüngeren Lebensgeschichte angehört und sie binnen zwanzig Minuten in der Unterwäsche gesehen. Aber vor der Kamera? Im Fernsehen? Es war ein Gefühl, als würde sie ohne Text und ohne eine einzige Probe auf die Bühne treten.

»Ach, und wenn wir das Budget dieses Mal unter zweihundert Pfund halten könnten, Annie, wäre ich mehr als dankbar«, lauteten Finns Abschiedsworte, als Annie und Bob schon auf dem Weg zur Tür waren.

 

Bob und Annie trafen Jody Wilson in einem Café im Einkaufszentrum. Als sie einander begrüßten und Bob den Drehplan erläuterte, musterte Annie ihre neue zierliche Umstyling-Klientin eingehend von Kopf bis Fuß.

In ihrem äußerst gediegenen, beinahe nichtssagenden Outfit aus schwarzem Kostüm und schwarzen Stiefeln fand sie kaum einen Anhaltspunkt für Jodys Persönlichkeit. Annie schätzte sie auf Ende zwanzig und fragte sich, ob sie sich freiwillig gemeldet hatte oder von Freunden für die Behandlung der Wonder Women vorgeschlagen worden war.

»Was hat dich veranlasst, uns zu kontaktieren?«, fragte Annie.

»Meine Mum«, antwortete Jody mit einem vorsichtigen Lächeln. »Sie hat den Werbespot im Radio gehört und mich vorgeschlagen. Ich glaube, sie hofft, du schwingst einen Zauberstab, und plötzlich trete ich vor den Traualtar.«

»Ah …« Annie begriff. »Der ›Warum ist meine Tochter noch nicht in festen Händen?‹-Wahn.«

Jody nickte.

»Aber du bist hier«, fuhr Annie fort und fügte behutsam hinzu: »Vermutlich möchtest du jemanden kennenlernen, jemand …«

»Besonderen?«, schlug Jody vor. »Ich würde von Herzen gern jemand Besonderen kennenlernen. Aber ich weiß nicht recht, ob noch jemand Besonderer übrig ist. Die Guten sind frühzeitig weg, und alle Übriggebliebenen haben fatale Mängel«, sagte sie trübselig.

»Na ja, wir alle haben fatale Mängel«, lautete Annies Urteil.

Als sie sich vom Café aus auf den Weg machten, wollte sie Jody zur Sicherheit informieren, dass auf das Umstyling eine Party folgte.

»Hast du gehört, wohin es geht, wenn wir das Outfit für dich gefunden haben?«, tastete sie sich vor.

Jody schüttelte verneinend ihren kurzen adretten Bob.

»Zu diesem wunderbaren Künstlerball in der Tate Modern. Ein großes Ereignis, brechend voll … bestimmt auch ein paar berühmte Gesichter …«

Sie sah Jody an, die nicht lächelte. Vorsicht!, ermahnte Annie sich, sie wollte die zweite Klientin schließlich nicht vergraulen.

»Ach, aber dort muss man nicht aufgedonnert erscheinen«, fügte sie rasch hinzu. »Offenbar kommen die Gäste, wie sie wollen. Man kann ein Ballkleid oder zerrissene Jeans mit Graffiti anziehen … oder beides! Es geht um Selbstdarstellung, Jody.«

»Genau.« Jody wirkte unsicher.

Als Annie sie in eine Umkleidekabine bei River Island schickte, stellte Bob seine Kamera ein.

»Ich weiß, es ist schwer«, versuchte Annie Jody zu ermutigen, als sie ängstlich zur Kamera blickte, »aber du musst so tun, als wäre er gar nicht da. Stell dir einfach vor, wir zwei wären allein! Konzentrier dich auf mich und mein Gesicht«, fuhr sie fort. »Ich konzentriere mich auf dich, und wir lassen Bob seine Arbeit einfach im Hintergrund machen.

Gut, häng deine Jacke auf«, wies Annie sie an, »dreh dich um, lass mich sehen, womit ich hier zu arbeiten habe, und sage mir etwas wirklich Wichtiges: Wie wer möchtest du aussehen? Wer ist deine Modeheldin? Wessen Garderobe würdest du am liebsten stehlen?«

»Wessen Garderobe ich am liebsten stehlen würde?«, wiederholte Jody.

»Ja«, erwiderte Annie. »Das ist die beste Hilfe für mich. Ich kann problemlos hier herumlaufen und dir einen Armvoll Kleider bringen, die deiner Figur entsprechen. Aber was ich viel dringender wissen muss, ist, was deinen Vorstellungen entspricht.«

»Falls du leuchtend blaue Hüte und flippige Jodhpurhosen liebst«, sprach Annie weiter, »müssen wir die finden! Aber bitte behaupte nicht, dass du eigentlich nur schwarze Kostüme tragen willst und sonst nichts, denn das sagt nicht genug über dich aus. Das gibt jemandem, dem du zum ersten Mal begegnest, nicht genügend Anhaltspunkte, und Anhaltspunkte sind unverzichtbar. Wie soll dich jemand anmachen, wenn er nicht den geringsten Hinweis auf deine Persönlichkeit findet?«

»Ich liebe Audrey Hepburn«, sagte Jody gedankenverloren. »Ihre Garderobe würde ich tatsächlich am liebsten stehlen.«

»Ach, Audrey Hepburn!«, erwiderte Annie leicht verzweifelt. »So elegant, aber so … unterkühlt. Ich meine, glaubst du wirklich, dass sie und Gregory Peck am Ende von Ein Herz und eine Krone heiß und verschwitzt zur Sache gekommen sind? Nein. Sie war eindeutig der Typ Mädchen, der Kopfschmerzen bekommt. Wie wär’s mit Amélie?«, schlug Annie vor. »Hast du den Film Die fabelhafte Welt der Amélie gesehen? Das eigentümliche Mädchen mit dem schicken Bob, so wie deiner, und den süßen Kleidchen und Hütchen?«

»Amélie?« Jody wirkte verblüfft. »Ich mochte den Film, aber ich will nicht schräg erscheinen.«

»Warum nicht?« Annie zuckte mit den Achseln. »Vielleicht zieht dein wunderbar schräges Inneres das wunderbar schräge Innere eines anderen an.«

Jody war nicht überzeugt.

»Ich kleide jetzt seit zwanzig Jahren Frauen ein«, erklärte Annie mit einem zuversichtlichen Lächeln. »Ich meine, du musst mir einfach vertrauen. Okay?«

Jody nickte bedächtig.