31.

Lana geht aus:

Gelbes Bustier (New Look)

Schwarzer Minirock (dito)

Schwarze Leggings (Topshop)

Hohe schwarze Stiefel (Gretas)

Unmengen Wimperntusche (Rimmel)

 

Geschätzte Gesamtkosten: 45 £

»Mir ist schlecht.«

Ed blickte besorgt auf seine Uhr. Es war bereits 19:45 Uhr, dunkel, und jetzt regnete es auch noch. Er stand an einer verkehrsreichen Straße in der Nähe der Old Street und beobachtete das freitagabendliche Treiben um sich herum.

Arbeiter hatten Feierabend, und auf den Straßen wimmelte es von Leuten, die nach Hause hasteten oder ausgingen. An jeder Straße, jeder Ecke gab es Pubs, Clubs, Bars und Cafés. Es nützte nichts zu wissen, dass Lana irgendwo hier war, denn er würde sie niemals finden. Er musste stillhalten und warten.

Lana ignorierte seine und Annies Anrufe, aber sie hatte Andrei eine SMS geschickt, und wenn sie Geduld aufbrachten, würde sie Andrei noch einmal anrufen oder per SMS kontaktieren. Sie wollte, dass Andrei kam und sie abholte, also musste sie ihn bald einmal wissen lassen, wo genau sie sich aufhielt.

Aber wenn etwas passiert war? Wieder kehrten Eds Gedanken zu dieser Frage zurück. Wenn sie ihr Handy verloren hatte? Oder keinen Empfang bekam? Wenn ihr nun etwas zugestoßen war? Ed kaute an seiner Nagelhaut und versuchte, solche Gedanken abzuwehren. Noch einmal sah er auf die Uhr. Mehr als fünfzig Minuten waren vergangen, seit Lana Andrei gebeten hatte, sie abzuholen. In einer Viertelstunde würde Andrei auf der Bühne sein und debattieren; dann würde er, falls Lana tatsächlich anrief, eine Stunde lang nicht darauf reagieren können.

Ed stieß einen gereizten Seufzer aus und trommelte mit seinen Fingern auf das Lenkrad. Er konnte nur hoffen, dass Lana nicht in Gefahr schwebte. Immer wieder versuchte er sich einzureden, dass sie in zwei Stunden ziemlich sicher im Taxi zu Hause ankam und sich über all die Aufregung wundern würde.

Sein Handy klingelte, und er meldete sich sofort. »Ja?«

»Ich habe noch eine SMS bekommen«, informierte Andrei ihn. »Club Z Old Street.«

»Geht’s ihr gut? Hat sie sonst noch was geschrieben?«, fragte Ed drängend.

»Nein, und ich glaube, der Eingang dieser SMS hat auf sich warten lassen, denn laut Display hat Lana sie gleich nach der ersten abgeschickt. Tut mir leid. Vielleicht liegt es an dem schlechten Empfang hier.«

»Keine Sorge, alles gut. Und viel Glück!«, beeilte Ed sich hinzuzufügen.

»Ja, Ihnen auch. Sagen Sie mir bitte Bescheid, ob alles in Ordnung ist?«

»Natürlich«, versprach Ed, klappte das Handy zu und stieg eilig aus dem Wagen.

Raschen Schrittes lief er die Gehsteige entlang, blickte nach links und rechts, rief in der Hoffnung auf eine Telefonnummer, eine Adresse – irgendetwas, das ihm half, das Lokal schneller zu finden – die Auskunft an.

»Nein, tut mir leid«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, »wir haben keinen Eintrag unter diesem Namen. Sind Sie sicher, dass es sich in E3 befindet?«

»Hm, nein, aber es ist in dieser Gegend. Könnte es E und irgendetwas anderes sein?«, erkundigte Ed sich ungeduldig.

»Nein … nein, ich finde nichts unter diesem Namen.«

Ed beendete das Gespräch und hielt Ausschau nach Leuten, die er fragen konnte. Nach jungen Pärchen, die aussahen, als wären sie zum Ausgehen gekleidet … Er fragte vier oder fünf, aber vergeblich.

Dann kam er an einem Kebab-Imbiss vorbei. »Bis spät geöffnet«, verkündeten die Neonbuchstaben im Fenster. Vielleicht wusste dort jemand etwas?

Minuten später hatte Ed einen Straßennamen und eine klare Wegbeschreibung zum Club Z.

»Der ist noch nicht geöffnet, Mann!«, rief der Typ hinter dem Tresen ihm nach.

Aber wenn Elena wegen eines Vorstellungsgesprächs dort war …

Er trat auf die Straße hinaus, fing an zu laufen. Vorbei an Ampeln, die zweite links, diese Straße entlang bis zum Ende … und dort an der Ecke sah er eine schäbige Markise mit der Beschriftung »Club Z« in verblasster silberner Farbe.

Ed ging zur Tür, drückte die Klinke und stellte fest, dass geöffnet war. Im nächsten Moment befand er sich im merkwürdigen, zeitlosen Nachtclub-Land. Ein breiter Flur, dann eine Treppe, beleuchtet von trüben Halogenlampen und mit tiefrotem Teppich ausgelegt. Niemand war zu sehen. Niemand vertrat ihm den Weg, als er die Stufen hinaufstieg und oben die Doppeltür aufstieß, hinter der laute Musik dröhnte.

Jetzt befand er sich in einer großen dunklen Bar mit Tanzfläche. An den Tischen am anderen Ende sah er Leute, die tranken und sich unterhielten.

Es herrschte noch kein Betrieb in diesem Club, aber er war offensichtlich schon geöffnet. Langsam näherte Ed sich dem nächstgelegenen Tisch. Die Beleuchtung war schlecht, aber er konnte die Gesichter erkennen und stellte rasch fest, dass Lana oder Elena nicht hier waren.

Köpfe fuhren zu ihm herum, und wenn er auch die Sprache nicht verstand, hatte er doch das Gefühl, dass diese Kerle entweder über ihn oder mit ihm redeten. Allerdings war er nicht unbedingt dieser Lokalität entsprechend gekleidet.

Er marschierte festen Schritts weiter an einem zweiten, dann einem dritten Tisch vorbei. Hier hielten sich nicht viele Personen auf, aber alle zeigten anscheinend ein bisschen zu viel Interesse an ihm.

Dann sah er in der Ecke gegenüber blondes Haar aufleuchten. Elenas? Rasch schritt er weiter in diese Richtung, als er plötzlich Hände auf seinen Schultern spürte.

»Privater Club«, sagte hinter ihm eine Männerstimme mit starkem Akzent.

Ed drehte sich um und sah sich einem sehr breiten Mann in einem sehr breiten schwarzen Anzug gegenüber.

»Meine Tochter hält sich hier auf, und ich bin gekommen, um sie abzuholen«, sagte Ed genauso energisch.

»Tochter? Nein«, wehrte der Mann ab. »Privater Club«, wiederholte er.

»Sie ist hier«, versicherte Ed. »Lassen Sie mich sie suchen, dann gehe ich! Auf der Stelle.«

Er behauptete sich diesem Mann gegenüber so entschieden, als stünde ein aufmüpfiger hohlköpfiger Rugbyspieler aus der sechsten Klasse vor ihm. Einen Moment lang schien keiner von ihnen recht zu wissen, was als Nächstes passieren würde. Beide hatten den Verdacht, dass es nicht sehr angenehm sein könnte.

Dann öffnete sich links von Ed eine Tür, und Lana taumelte heraus.

»Lana!« Ed rang vor Überraschung und Erleichterung nach Luft.

»Was …?«, setzte Lana an. Sie blieb stehen, schwankte leicht, trat dann einen Schritt vor und taumelte in Eds Arme.

»Alles in Ordnung?«, fragte Ed und drückte sie fest an seine Seite. Ihre bloßen Arme fühlten sich feucht-kühl an, und er gab sich Mühe, ihr enges Bustier nicht zu beachten, das sie tief herabgezogen hatte und das viel leuchtend weißes Dekolleté und den Rand eines mädchenhaften weißen BHs freigab.

»Mir ist übel«, sagte Lana und schwankte wieder unsicher auf ihren wackligen High Heels.

Sie roch auch so, als wäre ihr übel. Und das würde auch erklären, warum ihr Gesicht feucht glänzte und so ungewöhnlich bleich gegen die dunkel geschminkten Augen und Lippen abstach.

»Was hast du genommen?«, erkundigte Ed sich angstvoll, ohne die drohenden Blicke zu beachten, mit denen der Rausschmeißer sie beide bedachte.

»Eine Zigarette«, gestand Lana, »und einen Drink. Davon ist mir schlecht geworden … Ich glaube, mir wird schon wieder schlecht …«

Sie schien in seinen Armen schlaff zu werden, doch zu seiner Erleichterung musste sie sich nicht übergeben.

»Ed?«

Er erkannte Elenas Stimme, drehte sich um und sah sie auf sich zu kommen.

»Los«, befahl er scharf, »hol deine Sachen! Hol Lanas Tasche, wir wollen gehen!«

»Nein«, widersprach sie. »Kriege ich Arbeit hier.« Sie wandte sich einem Tisch zu, an dem zwei mürrische Männer saßen.

»Wenn du nicht auf der Stelle mit uns hier rauskommst, hast du kein Dach mehr über dem Kopf!«, ließ Ed sie ruhig wissen. »Und jetzt hol deine Sachen!«

Der Türsteher rief etwas in einer fremden Sprache, und die Männer an dem Tisch, dem Elena sich jetzt näherte, riefen zurück. Das behagte Ed nicht. Es klang wütend und bedrohlich.

Die beiden Männer am Tisch standen auf. Sie wollten sie doch nicht etwa daran hindern, das Lokal zu verlassen? Ed drückte Lana fester an sich und bewegte sich mit ihr in Richtung Tanzfläche. Die Männer sollten wissen, dass er keinen Ärger, sondern nur rauswollte.

Elena antwortete den Männern in derselben Sprache. Ukrainisch?, überlegte Ed. Oder sprach sie vielleicht auch Russisch? Er spürte sein Herz in der Brust hämmern. Das alles war ein bisschen zu bedrohlich für seinen Geschmack.

Als er einen flüchtigen Blick über seine Schulter zurückwarf, sah er, wie Elena mit der Faust auf den Tisch schlug. Er drehte sich um, wusste, dass er ihr irgendwie zur Hilfe kommen musste.

Doch dann setzten die Männer sich wieder und reichten ihr zwei Taschen. Sie ergriff sie und folgte Ed.

Er drehte sich erst wieder nach ihr um, als sie die Doppeltür, die Treppe und den Flur hinter sich gelassen hatten und durch die Hintertür nach draußen traten. Auf der Straße, außerhalb der Gefahrenzone, fuhr er – obwohl Lana stöhnte, weil sie sich so abrupt bewegten – heftig zu Elena herum.

»Was um alles in der Welt hast du dir dabei gedacht?«, fragte Ed, vor Wut kaum fähig, seine Stimme unter Kontrolle zu halten.

Elena drückte Lanas Schultasche an sich, weil ihr dünnes Kleid kaum Schutz vor der Kälte gewährte, und hob trotzig ihr Kinn.

»Suche ich Arbeit«, antwortete sie.

»Als was?«, wollte Ed wissen.

»Tänzerin.«

»Du studierst doch Maschinenbau«, konnte Ed sich nicht verkneifen zu bemerken. »Was hat Lana getrunken?« Er wollte seinem Drang, Elena eine wütende Standpauke zu halten, erst nachgeben, wenn er wusste, dass Lana nichts fehlte und man ihr keine Drogen verabreicht hatte.

»Wodka mit Limo.«

»Hast du das auch getrunken?«, fragte Ed.

»Zwei«, gab Elena zu.

»Die Drinks waren in Ordnung? Da war wirklich nichts beigemischt?«

Elena schüttelte den Kopf und war so anständig, besorgt dreinzuschauen, nachdem sie begriff, was Ed befürchtet hatte.

»Ich glaube, ihr ist vom Rauchen schlecht geworden«, vermutete Elena.

»Ja!«, fauchte Ed.

Ohne ein weiteres Wort geleitete er die Mädchen zum Jeep, löste die Zentralverriegelung und half Lana auf den Rücksitz. Elena schnallte sich neben ihr an.

Dann ließ Ed den Motor an. Erst als sie auf der Straße waren, schaute er in den Rückspiegel und fing Elenas Blick ein.

»Lana ist sechzehn«, sagte er wütend, »sie trinkt nicht und raucht schon gar nicht. Wie um alles in der Welt kommst du auf die Idee, mit ihr einen Nachtclub zu besuchen und dich mit solchen Affen gemeinzumachen? Da hätte Gott weiß was passieren können – euch beiden!«

Elena zuckte mit den Achseln und zog die Brauen hoch. Sie war jetzt seit mehreren Jahren schon auf sich selbst gestellt und rechnete ganz sicher nicht mit Vorwürfen ihres Verhaltens wegen.

»Ich habe dir am Mittwoch verboten, Lana mitzunehmen, wenn du ausgehst«, erinnerte Ed sie. »Du kannst nicht bei uns bleiben. Du musst mit deiner Mutter reden und eine andere Unterbringung suchen. So schnell wie möglich!«

»Bring mich jetzt gleich zu ihr!«, verlangte Elena.

»Hm, du musst mit ihr reden … deine Sachen packen.«

»Bring mich zu ihr!«, wiederholte Elena. »Hat sie großes Haus. Kann ich wohnen bei ihr.«

Das war in Eds Augen eine großartige Idee.

Lanas Teenie-Jahre verliefen bisher ziemlich unproblematisch. Wirklich Schreckliches oder Außergewöhnliches war nicht vorgefallen … bisher. Annie und er, sie wollten beide, dass es so blieb. Außerdem hatte sie bald Prüfungen, und sie wollten, dass Lana sie gut bestand. Und nicht all die harte Arbeit zunichtemachte, indem sie mit irgendeiner glamourösen zweiundzwanzigjährigen Belastung abhing, die bei ihnen wohnte, weil Annie es nicht über sich brachte, nein zu sagen, wenn jemand sie um einen Gefallen bat.

»Schön«, stimmte Ed zu. »Die Adresse bitte?«

Elena nannte sie ihm mit Vergnügen. Zwar lebte sie jetzt schon über eine Woche bei der Freundin ihrer Mutter, aber irgendwie hatte Svetlana nie Zeit für mehr als kurze Telefongespräche mit ihrer Tochter gefunden. Und selbst diese waren vage und unverbindlich geblieben.

Wenn Ed sich selbst gegenüber ehrlich gewesen wäre, hätte er sich eingestehen müssen, dass er nicht nur wütend auf Elena war, weil sie Lana in ein derartiges Lokal geschleppt hatte. Er war auch wütend auf Svetlana.

Die verwöhnte Prinzessin durfte immer mit ihrem kindischen, schlechten Benehmen davonkommen, weil sie reich war, weil sie etwas darstellte. Schlimm genug, dass sie ihr Kind Verwandten überlassen hatte und in all den Jahren nicht ein einziges Mal zurückgekommen war, um es zu sehen. Und jetzt, da Elena hier war, versuchte Svetlana erneut, sie abzuschieben. So ging man nach Eds Meinung nicht mit Kindern um. Wenn er jemals Vater werden dürfte … Frische Wut stieg in ihm auf, bestehend aus so vielen verschiedenen Zutaten … nicht zuletzt aus der Enttäuschung darüber, dass er Annie vielleicht nie würde überreden können, ihn Vater werden zu lassen.

Ed folgte der City Road und dachte, dass dies, ob es Svetlana passte oder nicht, der richtige Zeitpunkt für den Empfang von Besuch für sie sein musste.