39.

Svetlana eilt nach Hause:

Weißer Pelzmantel (Boutique in Moskau)

Tageskleid aus Seide in Grün, Pink und Weiß (Celine)

Grüne Sandaletten mit Knöchelriemchen (Manolo)

Diamantschmuck (diverse Exmänner)

 

Geschätzte Gesamtkosten: 140 300 £

»Muss ich telefonieren!«

Harry blickte schon wieder entnervt auf seine Armbanduhr: 16:26 Uhr. Er hielt das Mobiltelefon in der Hand, musste jedoch warten. Es war unsinnig, jetzt jemanden anzurufen; er hatte getan, was möglich war. Jetzt konnte er nur noch abwarten und hoffen, dass es nicht zu spät war.

Er stapfte im Wohnzimmer auf und ab, zupfte an seinen Manschetten und kaute an den Fingernägeln. Dann verschränkte er seine Finger und ließ die Knöchel knacken. Wäre Harrys Sekretärin im Zimmer gewesen, hätte sie angenommen, dass er nach einer besonders langwierigen und schwierigen Verhandlung auf den Richterspruch wartete.

Von der Straße her war das Grollen eines Taximotors zu hören, und Harry stürzte zum Fenster. Im Fond des Taxis erkannte er Svetlana. Ihr schönes Gesicht lugte aus einem weißen Pelzkragen hervor. Selbst aus der beträchtlichen Entfernung sah er, wie blass und angstvoll sie aussah. Sie hielt die Hände wie im Gebet vor ihren Lippen gefaltet.

Maria hatte das Taxi offenbar auch bemerkt, denn Harry hörte, wie sie zur offenen Haustür eilte. Kaum tauchte Svetlana auf der Treppe auf, als Maria ihr auch schon entgegenrief: »Ach, Miss Wisneski, wusste ich doch nicht! Hätte ich gewusst, ich Ihnen gesagt! Hätte ich die Jungen nicht lassen mit ihm gehen! Will ich die Jungen sonnabends nie lassen mit ihm gehen!«

Als Harry in die Eingangshalle kam, fand er die beiden Frauen tränenüberströmt auf der Türschwelle vor. Svetlana beugte sich herab, um das zierliche Mädchen umarmen zu können. Maria reckte sich zu ihr auf, um Halt zu finden und gleichzeitig Trost zu spenden.

»Harry …«, setzte Svetlana an und blickte zu ihm hinüber, doch sie war zu verstört, um mehr zu sagen. Sie streckte einen Arm nach ihm aus, und bevor er sich’s versah, lag Harry in ihren Armen und denen des Hausmädchens.

»Am Flugplatz ist alles geregelt«, versuchte er sie zu beruhigen. »Falls sie von dort aus fliegen wollen, wird man es verhindern.«

Doch er hörte selbst das gefürchtete »falls« in dem Satz und wusste gleich, dass Svetlana und Maria sich einzig auf dieses Wort konzentrieren würden.

»Jetzt können wir lediglich auf Nachricht warten. Versuche, ruhig zu bleiben!«, sagte er beschwichtigend.

Maria war die Erste, die sich aus der Umarmung löste. Sie hob ihr weißes Schürzchen und tupfte ihr Gesicht damit ab, bevor sie verkündete, dass sie Tee bereiten würde.

»Komme ich mit in die Küche«, erklärte Svetlana fest. »Weinst du nicht allein.«

Angesichts dieser unverhofften Freundlichkeit brach Maria unverzüglich in Tränen aus.

»Mache ich Tee«, entschied Svetlana und legte ihren Arm um Marias Schultern. »Starken russischen Caravan Tee. Wir müssen jetzt stark sein für …« Doch ihre Stimme brach, bevor sie die Namen ihrer Kinder aussprechen konnte.

Eine Stunde voller Anspannung und Angst verging, in der Svetlana und Maria das gesamte Gefühlsspektrum abarbeiteten. Die Jungen waren verloren. Die Jungen waren gerettet. Sie würden die Jungen nie wiedersehen. Die Jungen würden zurückkommen. Heute. Morgen. Sehr bald. Irgendwann. Sobald das Auslieferungsverfahren begann.

Svetlana wusste mit Sicherheit, dass sie, wenn es sein musste, für den Rest ihres Lebens um sie kämpfen und wenn nötig jeden Penny auf ihrem Konto dafür opfern würde.

Sie befragte Harry ausführlich nach dem Auslieferungsverfahren. Wie funktionierte das? Waren ihm Fälle bekannt? Konnte er ihr sagen, was passiert war?

Harry versuchte, sich so einfach und hoffnungsfroh wie nur möglich auszudrücken, ohne allzu unverfroren zu lügen.

Schließlich hielt Svetlana es nicht länger aus.

»Muss ich telefonieren! Mit irgendwem! Egal wem!«, schrie sie Harry an, und er reichte ihr sein Handy. Sie gab die Durchwahl der Polizeiinspektorin in Luton ein.

»Hallo, hier spricht Inspektor Thompson«, meldete diese sich.

»Hier ist Svetlana Wisneski. Muss ich wissen, was ist passiert mit meinen Jungen auf Flugplatz Luton. Petrov und Michael Wisneski. Gibt es Neues von Flugplatz? Waren sie dort? Hat man gesehen? Sind sie schon aus dem Land entführt?«

»Hallo, Mrs. Wisneski«, erwiderte die Frau ruhig und freundlich. »Ich habe zwei Kollegen zum Flugplatz geschickt. Man sagte mir, die Operation ist angelaufen. Ich rechne in Kürze mit neuen Informationen.«

»Was heißt das?«, fragte Svetlana gereizt. Operation angelaufen? Rechne mit neuen Informationen? »Sie haben die Jungen?«, erkundigte sie sich, wild vor Angst. »Ja oder nein?«

»Die Polizisten befinden sich mit einem Kinderschutzbeauftragten am Tatort, und meines Wissens wurde eine Schutzverordnung herausgegeben. Wie gesagt, ich warte auf einen ausführlichen Bericht dazu«, versuchte die Inspektorin zu erklären.

»Sprich mit ihr!«, befahl Svetlana und reichte Harry das Handy.

Erst als sie ihn endlich lächeln sah und ihn sagen hörte: »Das ist wunderbar, ganz, ganz herzlichen Dank«, beruhigte sie sich ein bisschen.

»Wunderbar! Wunderbar!«, wiederholte sie immer wieder. Sie umarmte Harry, küsste ihn, versicherte ihm, er wäre ebenfalls wunderbar. Bevor er sie in den Arm nehmen und sich richtig mit ihr versöhnen konnte, flitzte sie aus dem Zimmer, um Maria zu informieren.

Egal, sagte Harry sich, vor ihnen lag ja noch die Fahrt nach Luton. Reichlich Zeit, um die Hochzeitspläne wieder aufzunehmen.

Sein Handy klingelte erneut.

Als er sich meldete, überraschte es ihn nicht, die Stimme eines der teuersten Anwälte Londons am anderen Ende der Leitung zu hören.

»Mr. Roscoff?«

»Am Apparat«, bestätigte er.

»Ich glaube nicht eine Sekunde daran, dass Ms. Wisneski Anklage erheben wird«, begann Humphrey Twistleton. »Es steht außer Frage, dass sie verliert …«

»Hören Sie mal zu!«, fiel Harry ihm ins Wort. »Mit Sicherheit wird noch heute Anklage erhoben, es sei denn, wir kommen zu einer klaren Einigung dahingehend, dass gewisse restriktive Klauseln in der Scheidungsvereinbarung unverzüglich annulliert werden. Berufen Sie zu Montagvormittag eine Krisensitzung ein. Dann überlegt meine Klientin sich vielleicht, ob sie die Klage zurückzieht!«

Als Harry auflegte, überkam ihn unwillkürlich das Gefühl, dass er eine Menge von Svetlana gelernt hatte.