Kapitel 6
»Ich bin jemand, der die Irrigkeit der Menschen erkennt.«
George W. Bush
Oprah, 19. September 2000
Lieutenant Chompu kutschierte mich quer durch den langen Südzipfel des Landes. Betrachtet man die Karte von Thailand, so befanden wir uns genau da, wo die Taille am schmalsten ist. Seit dem 17. Jahrhundert war die Rede davon, einen Kanal vom Golf zur Westküste zu bauen, doch um ein derart langwieriges Projekt zu starten, wäre es vermutlich hilfreich, wenn man eine Regierung hätte, die länger als fünf Monate im Amt ist. Sollte es je dazu kommen, wären sie hier genau richtig. Hier gab es viel hübsche Natur, die man umgraben konnte. In einem klimatisierten Polizeiwagen mit Mai Charouenpura im CD-Player und einem kleinen, erdbeerförmigen Lufterfrischer am Armaturenbrett dauerte die Fahrt von Küste zu Küste etwa eine Dreiviertelstunde. Chompu fuhr wie ein Irrer.
Die Polizei von Pak Nam in meine Erkundigungen mit einzubeziehen barg ein kalkulierbares Risiko. Falls wir hier blieben, ich meine, falls meine Familie nicht wegzog oder als Mitwisser an Mairs Fememord im Gefängnis landete, würde ich im örtlichen Revier Freunde brauchen. Ich beschloss, meine Informationen über die Familie Chainawat preiszugeben, und lud den Lieutenant ein, mich zum Interview zu begleiten. Es konnte nicht schaden, wenn man einen Polizisten dabeihatte. Da er offiziell für die Ermittlungen im Fall des vergrabenen VW-Busses zuständig war, fand er, heute sei ein hübscher Tag für einen kleinen Ausflug, und wir waren uns darin einig, dass die Route ausgesprochen malerisch war. Er sprach vom Wetter und dem Mangel an Unterhaltung in Pak Nam und der Freude, in einer der letzten Gegenden auf dem Planeten zu leben, in der alle Männer Schnurrbärte trugen.
Ich nutzte die Gelegenheit und fragte ihn nach den Fortschritten im Feuang-Fa-Tempel-Mord. Er sah mich an, mit offenem Mund, und kam fast von der Straße ab.
»Woher wissen Sie …?«
»Ich weiß so manches«, erklärte ich. »Das ist mein Job.«
»Aber es ist streng geheim.«
»Ich weiß.«
»Ich sollte besser darauf achten, was ich sage.«
»Also …?«
»Inoffiziell?«
»Selbstverständlich. Es sei denn, es wäre wirklich interessant.«
»Ist es nicht. Glauben Sie mir. Der Feuang-Fa-Tempel liegt mitten in unserem Zuständigkeitsbereich. Okay, vielleicht nicht mittendrin, aber er gehört sicher eher uns als diesen Krebsgängern in Lang Suan. Die wüssten nicht mal etwas mit einem Mord anzufangen, wenn er ihnen ins Hosenbein krabbeln und sie in den Sie-wissen-schon zwicken würde.«
»Also sollte auch Pak Nam diese Ermittlungen führen?«
»Ja. Aber was soll man machen? Wenn Bangkok, dieser Hexenkessel aus Anarchie und Modekatastrophen, die Sache zu bedeutend findet, als dass wir ihr gewachsen wären. Die schicken uns ein paar zivile Superdetektive, verhängen eine Nachrichtensperre, richten in Lang Suan ihre Ermittlungszentrale ein und tun so, als gäbe es uns gar nicht. Richtig unhöflich finde ich das.«
»Dann bekommen Sie von denen kein Feedback?«
»Kein bisschen. Major Mana fährt jeden Tag rüber nach Lang Suan, weil wir unsere Arbeit eigentlich koordinieren und Informationen mit denen teilen sollen. Aber wir wissen ja, wie das so läuft. Man behandelt ihn wie einen Motorradkurier. Da geht es nur ums Nehmen, Nehmen, niemals Geben. Unsere Leute haben die Lauferei am Hals, die Befragungen, den Papierkram, steuern das Lokalkolorit bei, aber die erzählen uns einen Dreck.«
»Und was glauben Sie, was es mit der Nachrichtensperre auf sich hat? Ist es nicht wieder nur: ›Abt in Tempel ermordet‹?, ›Wieder ein Mönch auf Abwegen‹? Zweite Seite der Daily News. Ende des öffentlichen Interesses?«
»Was ich glaube?«
»Ja.«
»Nun, ich will Ihnen sagen, was ich glaube. Ich glaube, da ist jemand jemand.«
Eine solche Aussage hätte einem Nicht-Thai vermutlich nichts gesagt. Wir aber lebten in einem Land, in dem es erheblich wichtiger war, jemand zu sein oder mit jemandem verwandt zu sein, als das, was man tat oder wie man es tat. Sissi hatte noch nicht herausgefunden, was die Nachrichtensperre sollte, doch die Idee mit den Verbindungen war naheliegend. Während dieser ausgiebigen Phase der Idiotie, in der sich die Hauptstadt befand, sah ich förmlich vor mir, wie ein einflussreicher Politiker einem einflussreichen Polizisten zunickte und sagte: »Noch mehr schlechte Presse können wir jetzt nicht brauchen.« Wenn einer der Äbte der Bruder von jemandem war oder einer bestimmten Dynastie angehörte, gab es Menschen, die diese Verbindung zum politischen Vorteil nutzten. In einem Hollywoodfilm würde so etwas nie funktionieren, denn im Westen würde es kein Mensch glauben, aber das war eines der Krebsgeschwüre unserer Kultur, und wir erwarteten schon gar nichts anderes mehr.
»Erzählt Ihnen der Major, was er in Lang Suan so aufschnappt?«, fragte ich und stellte die »Jemand-Spur« vorerst hintenan.
»Na ja, wie gesagt, die geben nicht viel preis, aber Major Mana ist stinksauer. Er findet, dieser Fall sollte seiner Karriere auf die Sprünge helfen. Ununterbrochen schimpft er darüber. Bevor Bangkok kam und uns aus dem Rennen warf, war er für die Presseerklärungen, die Tatortfotos, die Beweise, eigentlich für alles verantwortlich.«
»Sie haben Fotos gemacht?«
»Sicher.«
»Kann ich die irgendwann mal sehen?«
»Nein.«
»Seien Sie doch nicht so garstig.«
»Nein. Ich meine, Sie können sie nicht sehen, weil sie alle weg sind. Opfer der umfassenden Beweisplünderung durch die Kriminalpolizei. Die haben sogar unsere Computerdateien gelöscht und die CDs mitgenommen.«
»Klingt ja heftig.«
»Könnte man so sagen.«
»Haben Sie die Fotos gesehen?«
»Leider ja. Die werde ich nie vergessen. Blut war noch nie meine Stärke.«
»Könnten Sie mir den Tatort beschreiben?«
»Muss ich?«
»Es könnte helfen.«
Chompu lenkte den Wagen an den Straßenrand.
»Wieso halten Sie an?«
»Ich muss meine Hände benutzen können.«
»Um einen Tatort zu beschreiben.«
»Dadurch wirkt es dramatischer.«
»Okay.«
»Also, er … der Verblichene, lag mit dem Gesicht nach unten auf dem betonierten Weg, mit den Füßen nach … es muss wohl Osten gewesen sein. Sein Kopf lag fast in den Rabatten, eine Blutlache hatte sich unter ihm ausgebreitet, je einen halben Meter links und rechts.«
»Wie war sein Gesichtsausdruck?«
»Konnte ich nicht sehen. Das Gesicht war von seinem Hut verdeckt.«
»Und seine Kleidung?«
»Eigentlich ganz normal. Keine Wunden, kein Blut am Rücken. Der Major meinte, man hätte ihm mindestens ein Dutzend Mal in den Bauch gestochen.«
Chompu bohrte seinen Finger in die Luft.
»Klingt extrem.«
»Wir haben auf dem Revier darüber gesprochen, nachdem man uns aus den Ermittlungen ausgeschlossen hatte. Die wütenden Messerstiche schlossen diverse Motive aus. Ein Raubmord war unwahrscheinlich, abgesehen davon, dass er ohnehin nicht viel Geld bei sich hatte. Unwahrscheinlich auch, dass der Täter bei etwas erwischt wurde, was er nicht hätte tun dürfen. Selbst ein Auftragsmord war unwahrscheinlich. Da war eher … Groll im Spiel. Es war ein Mord aus Hass, entweder gegenüber Abt Winai selbst oder dem, was er repräsentierte.«
»Jemand, der einen Groll gegen den Buddhismus hegt?«
»Ist schon vorgekommen.«
»Was kann man am Buddhismus hassen? Es ist die gewaltloseste, versöhnlichste Religion, die es gibt.«
»Das kann man nie wissen. Ein Novize, der in jungen Jahren von einem Mönch missbraucht wurde. Jemand, der meinte, seine Großmutter sei eingeäschert worden, bevor sie tot war. Ein alter Zwist. Grundstücksurkunden. Und vergessen Sie nicht: Der Tempel nimmt jeden Exsonstwas ohne weitere Nachfrage in seine Obhut. So mancher Kriminelle trägt die orangefarbene Kutte.«
»Gab es unter den Beweisen, die aufgenommen wurden, irgendetwas, das auf ein Motiv hingedeutet hätte?«
»Rein gar nichts.«
»Und das war das Letzte, was Sie aus Lang Suan gehört haben?«
»Ja … also, nein.«
»Nein?«
»Es kam ein Anruf, ob wir etwas gefunden hätten, was sie versehentlich am Tatort zurückgelassen hatten.«
»Was denn?«
»Eine Kamera.«
Darüber musste ich lachen. »Ich glaub es nicht! Jemand hat die Polizeikamera gestohlen? Heutzutage ist niemand mehr sicher. Gut, dass Sie Ihre eigenen Tatortfotos gemacht haben.«
»Wahrscheinlich glauben sie, wir hätten sie entwendet. Wir sind ja schließlich nur die dummen Dorfbullen.«
Ich starrte aus dem Fenster, und vor meinem inneren Auge breitete sich eine wahre Landschaft von Gedanken aus. Mai sang: »I don’t want you to know.«
»Wann haben sie angerufen?«
»Wer denn?«
»Die Leute, die ihren Fotoapparat verloren haben.«
»Ach, das muss … Sonntag gewesen sein.«
Perfektes Timing.
»Sind Sie sicher, dass es Lang Suan war?«
»Wieso?«
Es schien mir der passende Moment zu sein, um ihm von dem Überfall auf den Wachmann im Feuang-Fa-Tempel am Sonntagabend zu erzählen. Angesichts dessen, was er mir über den Informationsmangel erzählt hatte, überraschte es mich kein bisschen, dass er davon nichts wusste. Ich langte in meine Schultertasche und reichte ihm ein schwarzes Plastiktütchen mit einem leeren Feuerzeug. Ich erzählte ihm, wo ich es gefunden hatte und dass mein Opa meinte, der Angreifer hätte es fallen lassen.
»Wollen Sie damit andeuten, der Mörder hätte uns angerufen, um zu fragen, ob wir seinen Fotoapparat gefunden haben?«
»Ist nur eine Theorie.«
»Und als er feststellen musste, dass wir ihn nicht haben …«
»Ist er zurück zum Tempel, um danach zu suchen. Er hat die halbe Hecke platt getreten.«
»Und wenn Ihr Großvater recht hat, ging dem Feuerzeug das Gas aus, bevor der Täter seinen Fotoapparat wiederfinden konnte.«
»Entweder das, oder er hat ihn gefunden, als ihm gerade das Gas ausging oder nachdem er im Dunkeln herumgetastet hatte. In dem Fall werden wir es nie erfahren. Aber zumindest könnten die Fingerabdrücke des Mörders auf diesem Feuerzeug zu finden sein.«
»Aber wenn wir den Fotoapparat nicht gefunden haben und er ihn auch nicht gefunden hat, dann könnte das bedeuten, dass jemand anders ihn hat.«
»Langsam nimmt die Sache Formen an. Was wollen Sie unternehmen?«
»Sobald ich dazu komme, werde ich den Major anrufen, um ihm davon zu erzählen. Zuallererst müssen wir feststellen, ob nicht doch Lang Suan bei uns angerufen hat. Danach sehen wir weiter.«
Wir fuhren über die saftigen, grünen Hügel von Phato, flogen an Pak Song vorbei und erreichten die Westküste mit knurrenden Mägen. Bevor wir nach Ranong kamen, hielten wir an der großen Kreuzung am Highway 4 und bestellten uns gelben Reis mit Huhn und grüne Currysuppe, und obwohl der Lieutenant im Dienst war, gönnte ich mir ein kleines Bier. Zu meiner Überraschung war es so kalt, dass es wie Schneematsch aus der Flasche kam. Der erste Schluck ließ beinahe mein Hirn gefrieren und löste meine Zunge.
»Wie sind Sie eigentlich zur Polizei gekommen?«, fragte ich ihn.
»Wie meinen Sie das?« Er lächelte.
»Ich habe gesehen, wie rekrutiert wird. Ich habe die Protokolle gelesen. Wenn Sie beim Vorstellungsgespräch so tuntig gewesen wären, hätte man Sie nie im Leben eingestellt.«
Ich dachte, ich hätte es übertrieben. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Ich fürchtete, er wäre mir böse, und wollte mich schon entschuldigen, aber …
»Ich habe geschauspielert«, sagte er. »Wissen Sie, eigentlich wollte ich ein Exempel statuieren. Ich wollte Fernsehsender einladen. Jemanden vor die Kamera holen, der mir erklärte, wieso Menschen mit meinen Neigungen für die Polizei angeblich ungeeignet sind. Das hatte noch nie jemand gewagt. Natürlich gibt es viele Schwule in Uniform, aber die verstecken sich und wagen nicht, sich zu bekennen. Aber als es dann hart auf hart ging, habe ich gekniffen. Ich fürchtete, sie würden so tun, als müssten sie mich aus anderen Gründen ablehnen, und mich damit bloßstellen. Ich fürchtete, ich würde mein Ziel erreichen, aber meine Chance vertun. Also zog ich den Job meinen Prinzipien vor.«
»Und wurden Ihr Leben lang an abgelegene Orte wie Pak Nam versetzt.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich es mir nicht ausgesucht habe?«
»Ihr Talent ist hier vergeudet, Lieutenant.«
»Sie sind wirklich süß.«
Das Chainawat-Gebäude war ein bescheidener, zweistöckiger Steinklotz, unweit des betriebsamen Hafenviertels von Ranong. In der staubigen Seitenstraße gab es eine ganze Reihe ähnlich stilloser Bauten. Die Südchinesen bevorzugten schlichten Pragmatismus, wenn es um ihren Arbeitsplatz ging, bis sie so viel Geld wie möglich verdient hatten, dann bauten sie protzige, grell möblierte Häuser, in denen sie sich zur Ruhe setzen konnten. Irgendwann stellten sie fest, dass sie immer noch die meiste Zeit in der Arbeit verbrachten, denn im Grunde kann man ja nie genug Geld verdienen. In Thailand waren es die Chinesen, die den Süden aufgebaut hatten. Ohne sie lägen die Einheimischen immer noch in ihren Hängematten und schlürften Kokosmilch. Oder … nein. Im Grunde machten es die Einheimischen immer noch so. Die Chinesen dagegen arbeiteten gern. Das Zinn hatte sie im 17. Jahrhundert angelockt. Nachdem das ausgebeutet war, bauten sie die Eisenbahnlinie, um Gummi in die Hauptstadt zu transportieren. Entgegen dem, was Old Mel uns weismachen wollte, hatten die Chinesen die Ölpalme eingeführt, dicht gefolgt von Drogen, Glücksspiel und Prostitution. Und bei all den Einnahmen – ob legal oder nicht – war es nur angemessen, dass der Hof von Siam chinesische Buchhalter aussandte, die das Geld buchhalten sollten. Viele wurden beim Zählen so reich, dass sie als Gouverneure endeten. Geld und Macht waren unentwirrbar miteinander verflochten. Man dürfte in den vergangenen zweihundert Jahren nicht allzu viele Premierminister finden, in deren Adern kein Gutteil chinesischen Bluts floss.
Die Menschen aus dem Süden jedoch, Flüchtlinge aus Malaysia und Indien, standen stets vor demselben Dilemma – jener nicht zu beantwortenden Frage: Warum sollte man achtzehn Stunden täglich arbeiten, nur um Geld zu verdienen, wenn man sich doch einfach zurücklehnen und den Seeschwalben zusehen konnte, wenn man über die himmelhohen Kokospalmen staunen oder im Stillen auf die unterschiedlich schnellen Wolken wetten konnte? Kleine, dicke Kinder auf Fahrrädern spielten vor dem Chainawat-Gebäude, unter Aufsicht einer alten Dame, die so weiß und runzlig war, als hätte man sie mit einem Teppichmesser aus Styropor geschnitzt. Sie funkelte uns an. Diese Straße – wie ganz Ranong – roch nach Fisch. Wir betraten einen großen Empfangsbereich, in dem es nur eine Insel aus klobigen Holzbänken gab, die im Rechteck um einen unpassenden, gläsernen Kaffeetisch standen. Ein kleines Kind spielte mit Holzbuchstaben auf dem gefliesten Boden. Eine Katze rollte herum und zeigte uns ihre Nippel, als wir an ihr vorüberkamen. Dem Mann, der aus einem Nebenraum trat, schien es ganz und gar nicht zu gefallen, dass ein fremder Uniformierter hier hereinkam. Firmen mussten bereits die Polizisten aus ihrem Viertel schmieren und hatten etwas gegen Eindringlinge.
»Ja?«, sagte er. Er sah aus wie Jackie Chans glückloser Bruder. Wir hatten beschlossen, dass Chompu das Reden übernehmen sollte.
»Wir suchen Vicha Chainawat.«
»Ja.«
Es war nicht klar, ob wir ihn gefunden hatten oder ob er nur die Frage verstand.
»Sind Sie Vicha Chainawat?«
»Nein«, sagte er und machte sich auf den Weg ins hintere Büro. Wir nahmen an, dass wir ihm hinterhertraben sollten. Es herrschte geschäftiges Treiben, Leute an Schreibtischen und Computern und – hinter Glastüren – birmanische Frauen in langen Sarongs, die getrockneten Fisch in Plastikbeutel packten. Überall im Süden stolperte man über unsere benachteiligten Nachbarn. Die Eskorte ließ uns mittendrin allein. Wie Hutständer standen wir da, bis Jackies Bruder eine Minute später mit einer alten Dame und einem absolut hinreißenden Mann wiederkam. Erinnerungen an meine unvollendete Liebesaffäre mit Liu De Hua fluteten mein ungenutztes Herz. Er trug ein weißes Hemd, so scharf gebügelt, dass er wie die Oper von Sydney im Sonnenschein aussah.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte er.
Ich bitte darum, dachte ich.
Chompu sprang ein, stellte sich vor, nannte seinen Dienstgrad und meinen Namen, ohne weitere Erklärung. Vicha führte uns zu den Holzbänken mit dem Kaffeetisch zurück, aus welchem wundersamerweise Gläser mit rot sprudelnder Fanta, ein Teller Rambutan und mehrere kleine Erdnusskekse in Pergamentpapier gewachsen waren. Nachdem wir etwas getrunken und alles andere ignoriert hatten, erläuterte Chompu Vicha und der alten Frau unseren Fall. Er erzählte ihnen vom VW und dem Umstand, dass dieser vermutlich zu einem Zeitpunkt vergraben worden war, als das Land noch der Familie Chainawat gehört hatte. Die ganze Zeit übersetzte der hinreißende Mann für die alte Frau, bei der es sich – wie wir bald erfuhren – um seine Mutter, die Matriarchin des Chainawat-Clans, handelte. Sie war noch blasser als die Styroporfrau draußen auf der Straße. Ihr war nicht anzumerken, ob sie ihrem Sohn eigentlich zuhörte und ob sie sich auch nur im Entferntesten für uns interessierte. Erst als Erzählung und Übersetzung erschöpft waren, wurde sie lebendig. Ihr meckernder Vortrag begann wie das Knistern trockener Zweige im Feuer. Dann warf jemand einen Kracher nach dem anderen in die Flammen. Es war überraschend, dass eine derart farblose Frau mit solcher Pracht knallen und pfeifen und ballern konnte. Wir waren alle erschöpft, als sie fertig war, und genossen die kurze Stille.
»Meine Mutter sagt, unserer Familie gehörte seit Anfang des 19. Jahrhunderts alles Land in dieser Gegend. Natürlich war es vor allem eine Investition in Grund und Boden, denn das Land hätte erst noch erschlossen werden müssen, und die meisten Pflanzen, die so nah am Meer angebaut werden, sind minderwertig. Als unsere Familie erfolgreicher wurde, bot man uns besseres Land an, und so haben wir einige Ländereien rund um Pak Nam verkauft.«
»Erinnert sich Ihre Mutter an das Stück Land, das sie Mel verkauft hat?«, fragte Chompu.
»Sie erinnert sich«, sagte der Sohn. »Sie hat ein sehr gutes Gedächtnis.«
»Erst hat Ihre Familie siebzehn Hektar Land an Mel für eine Palmenplantage verkauft, die angrenzenden sechsundzwanzig Hektar jedoch behalten. Vor sieben Jahren haben Sie Mel dann gefragt, ob er Interesse hätte, einen kleinen Streifen Land zu erwerben, und zwar nur die drei Hektar direkt neben seinem Feld. Ursprünglich gehörte dieser Streifen Ihnen, aber Sie haben sich extra die Mühe gemacht, Ihr Land in zwei Teilen ins Grundbuch eintragen zu lassen: einen Teil mit drei Hektar und einen mit dreiundzwanzig Hektar. Warum hat Ihre Mutter das getan?«
Chompu hatte seine Hausaufgaben gemacht. Braver Junge. Vicha fragte seine Mutter, und wir duckten uns, als die Raketen flogen.
»Sie sagt, wir brauchten dringend Bargeld für eine andere Investition.«
»Okay, aber wieso hat sie das Land dann nicht einfach geteilt? Zwei Grundstücke à dreizehn Hektar? Die wären doch bestimmt besser verkäuflich. Und Mel hatte Interesse an mehr.«
Die Antwort war einer chinesischen Neujahrsfeier würdig, doch inzwischen brachte die alte Dame nur noch kleine Böller und Knallerbsen zustande. Sie spuckte und zischte, und ihre Augen zuckten wütend von mir zu Chompu. Junior unterbrach sie, um ein paar Punkte klarzustellen, bevor er übersetzte.
»Meine Mutter dachte nicht, dass jemand ein Stück Land kaufen wollte, das zwischen anderen Besitzern eingeklemmt war. Sie wollte warten, bis einer der Nachbarn ein Angebot machte. Koon Mel hat sie nur ein kleines Stück angeboten, weil sie wusste, dass er kein reicher Mann war und sie es ihm nicht unter Preis anbieten konnte.«
Jetzt ich.
»Das ist sehr nachbarschaftlich von Ihnen«, sagte ich. Jetzt waren alle Blicke am Tisch auf mich gerichtet. »Sie erinnern sich nicht zufällig an eine offene Grube am Ende Ihres Grundstücks, einen Fischteich oder ein Wasserbecken?«
Ich hatte sie direkt angesehen, als ich meine Frage stellte. Ihre Feindseligkeit mir gegenüber wurde in dem Moment deutlich, als ihr Blick auf meine Turnschuhe fiel, und daher schien es mir sinnlos, mit ihr ein weibliches Bündnis zu schmieden. Sie meckerte eine Frage hervor.
»Meine Mutter würde gern wissen, wer Sie eigentlich sind.«
»Ich bin eigentlich …«, begann ich.
»Koon Jimm ist meine Assistentin«, warf Chompu ein.
Die Frage: »Welchen Dienstgrad hat sie?« wurde durch Vicha an ihn herangetragen.
Mein Lieutenant überraschte mich, indem er in eine Rolle schlüpfte – oder daraus hervor. Er blinzelte und senkte seine Stimme um mehrere Oktaven.
»Koon Vicha«, sagte er. »Bitte erklären Sie Ihrer Mutter, dass wir nicht gekommen sind, um verhört zu werden. Wir ermitteln in zwei ungeklärten Todesfällen auf einem Grundstück, das einmal Ihnen gehört hat. Im Moment ist Ihre Mutter unsere Hauptverdächtige. Wenn es ihr lieber wäre, können wir gern mit zwei Beamten wiederkommen und ihre Grundstücksurkunden einzeln durchgehen. Wenn nicht, beantworten Sie die Frage.«
Ich bekam richtig Gänsehaut. Die alte Dame grinste höhnisch, als sie die Übersetzung hörte, dann schnaubte sie die Antwort hervor.
»Meine Mutter sagt, dass unsere Familie das Land nie wirklich genutzt hat. Es war eine reine Geldanlage. Dort wurde nichts angebaut. Das Land wurde weder zugeschüttet noch ausgehoben. Falls dort irgendetwas vor sich gegangen sein sollte, auch Seltsames, so geschah das ohne Wissen und ohne Genehmigung der Familie.« Mutter und Sohn rückten zusammen. »Meine Mutter sagt, diese Befragung hat sie angestrengt, und sie möchte gern wissen, ob Ihre Freundin hier noch mehr Fragen hat, bevor sie sich ein wenig hinlegt.«
Wir fuhren über die malerischen Hügel von Phato zurück. Es war der trockenste August seit Beginn der Aufzeichnungen, aber dennoch war die Vegetation üppig, und die Bäume am Straßenrand hängten ihre gelben, veilchenblauen und orangefarbenen Blüten heraus wie Dessous am Waschtag. Geisterhäuschen waren in grelle Tücher gewandet. Jemand hatte eine Bushaltestelle mit einer Plastikleine am Mast einer Überlandleitung verknotet. Kinder, die noch nicht mal rauchen durften, fuhren auf Mopeds herum. Unverputzte Häuser aus Beton. Berge von Kokosnussschalen. Reis diverser Schattierungen wurde in Bambusbuden verkauft, die nicht größer als Wandschränke waren. Alles Dinge, die einem nur auffallen, wenn man sich die Mühe macht.
»Sie hat gelogen«, sagte ich.
Chompu drehte Mariah Careys Kreischen leiser.
»Und woher wollen Sie das wissen?«
»Weil kleine, alte Chinesinnen immer lügen.«
»Ah, eine logische, investigative Prämisse.«
»Stimmt doch. Sie haben einen Kodex. Wenn sie das Gefühl haben, dass sie in der Klemme stecken, erzählen sie einem, was man hören will.«
»Und wann genau kamen Ihnen Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit, werte Freundin?«
»Vom ersten Moment an. Finden Sie es nicht merkwürdig, dass eine Firma vierzehntausend Hektar Land besitzt und sich die Besitzerin an Details eines winzigen Grundstücks irgendwo in der Pampa erinnern kann? Und dann der Quatsch, dass sie einem Nachbarn helfen wollte. Machte diese Frau einen besonders mildtätigen Eindruck? Nein, es hat seinen Grund, dass sie sich an dieses Land erinnert. Es hat ihr etwas bedeutet.«
»Sie sind misstrauisch.«
»Kriminalreporter können es sich nicht leisten, alles zu glauben, was sie hören.«
»Kriminalreporter sind selbst nicht gerade vertrauenswürdig. Ach, nun ist es mir doch rausgerutscht …«
»Hatten Sie bei dieser Aussage einen bestimmten Kriminalreporter im Sinn?«
»Nein, wirklich. Ich halte lieber meinen Mund.«
»Jetzt gibt es keinen Weg mehr zurück.«
»Okay, fangen wir mit einer charmanten Reporterin der Chiang Mai Mail an, die hergeflogen ist, um hier im Süden einen Fall zu recherchieren.«
Erwischt.
»So habe ich das nie gesagt.«
»Aber Sie haben auch nicht gesagt: ›Ich habe meinen Job gekündigt und bin hergezogen, um in einer maroden Ferienanlage in Maprao zu wohnen.‹«
»Die Leute hören, was sie hören wollen, ungeachtet dessen, was ich ihnen tatsächlich sage. Selber schuld.«
Ich warf einen Seitenblick auf den Lieutenant, der gleichmütig lächelnd die Landschaft betrachtete.
»Wie lange wissen Sie es schon?«, fragte ich.
»Seit Ihrem romantischen Mittagessen mit dem Boss.«
»Sie haben mir hinterherspioniert?«
»Nennen Sie mich ruhig neugierig.«
»Wissen die anderen …?«
»Was den Major angeht, bin ich mir nicht sicher. Er ist in letzter Zeit schwer einzuschätzen. Ich kriege ihn nicht mal mehr ans Telefon. Die Constables? Das sind Einheimische. Hier unten breitet sich alles aus wie Wasserhyazinthen in einem warmen Teich. Noch am selben Tag, als Sie die Grenze zur Provinz überschritten hatten, wussten alle Bescheid.«
Ich schmollte. Ich ließ mich nicht gern bei einer Lüge ertappen.
»Sie sind ja selbst nicht gerade übermäßig offen und ehrlich.«
»Wie können Sie es wagen! Ich bin so ehrlich wie ein Bergquell. Nicht dass ich ernstlich wüsste, wie ehrlich Bergquellen sind. Allerdings stelle ich sie mir einigermaßen ungetrübt vor.«
»Tatsächlich? Und heute Morgen? Als ich Ihnen am Telefon erzählt habe, dass ich die ehemaligen Besitzer von Old Mels Land gefunden hatte? ›Oh, darf ich vielleicht mitkommen?‹, hieß es. ›Sie sind ja wirklich findig‹, hieß es.«
»Und?«
»Und wir kommen in Ranong an, und Sie fahren direkt zu der Firma. Ich hatte Ihnen die Adresse gar nicht genannt.«
»Uups. Hatten Sie nicht?«
»Nein.«
»Gut geraten?«
»Man sollte Sie im Auge behalten, Lieutenant Chompu.«
Er wurde richtig rot.
»Und da wir gerade von Männern sprechen, die man im Auge behalten sollte …«, sagte er.
»Hmm. Hübsches Lächeln. Ich wette, er bügelt seine Hemden selbst.«
»Zu schade, dass er ein Muttersöhnchen ist.«
»Hat mich an Liu De Hua erinnert.«
»Ah, kreisch. In den war ich jahrelang verknallt.«
»Ich auch.« Wir klatschten uns ab, und der Wagen schlingerte gefährlich auf den Standstreifen. »Dabei dachte ich, mich würde nie irgendwas mit der Polizei verbinden.«
Die Familie aß an diesem Abend an dem Tisch, der Mairs Laden am nächsten stand, damit sie ihn im Auge behalten konnte, falls es zu einem unerwarteten Kundenansturm kommen sollte. Arny hütete die beiden Cabanas, die in dieser Nacht belegt waren: die eine mit unserer meist abwesenden Ornithologin, die andere mit einem jungen Pärchen, das ohne Gepäck auf einem Motorrad gekommen war. Der Fernseher im Zimmer war alt und klobig und – offen gesagt – keinen Diebstahl wert, also hatte Arny sich das Zimmer im Voraus bar bezahlen lassen und das Ausfüllen der Formulare der Thailändischen Tourismusbehörde erspart. Er betrachtete es als Eindringen in die Privatsphäre seiner Gäste. Es entsprach Arnys Wesen, jedem zu vertrauen, den er traf. Vermutlich war seine Hypersensibilität auf die ständigen Schläge auf den Hinterkopf zurückzuführen, die ihm die Enttäuschung verpasst hatte. Er würde es nie lernen.
Das letzte Licht des Abends schimmerte auf den schleimigen Rücken gestrandeter Quallen: Hunderte, wie makrobiotische Ufos, die durch das Überfischen des Golfs in immer flachere Gewässer getrieben wurden. Über Nacht würde unsere ortsansässige Gemeinde kleiner Krebse über sie herfallen, die in winzigen Löchern im Sand wohnte. Seit ich gesehen hatte, was sie mit einer Qualle von der Größe eines Mülleimerdeckels anstellen konnten, ließ ich mich nur ungern länger als fünf Minuten im Sand nieder. Ein kurzsichtiger Krebs mochte meinen expandierenden Hintern für einen angespülten Seeigel halten.
»Hat jemand was Neues zu erzählen, oder wollen wir hier sitzen und schweigend essen?«, fragte ich und brach Mairs eherne Regel, indem ich heimlich einen Garnelenschwanz durch die Bodenbretter fallen ließ, damit Gogo ihn bekam, die dort im Sand schon wartete.
»Ich habe ein Sportstudio gefunden«, sagte Arny. »Ich meine, so was Ähnliches wie ein Sportstudio.«
»Gute Nachricht, kleiner Bruder«, sagte ich unsicher. Ich wusste, dass ein Sportstudio ihn noch weiter von seinen Pflichten ablenken würde, sodass mehr für mich zu tun blieb.
»Wo ist es denn, mein Junge?«, fragte Mair.
»Bang Ga. Nur zwei Dörfer weiter. Es ist nicht gerade California Fitness. Sie haben Gewichte und ein paar Geräte, aber es ist besser, als Bäume über den Strand zu rollen. Irgendein alter Mann hat dem Dorftempel Geld gespendet, und den Leuten fiel nichts ein, was sie noch brauchten. Also hat jemand vorgeschlagen, sie sollten lieber in die Gesundheit als in den Tod investieren. Er meinte, dann wären sie alle in besserer Verfassung für den Trip ins Leben nach dem Tod.«
»Klingt wie ein Fußballtrainer«, meinte ich.
»Muay Thai Boxen. Ich habe ihn heute kennengelernt. Er hat gefragt, ob ich Interesse hätte, seinem Trupp beizutreten.«
Das möchte ich sehen. Ein Tritt ans Ohr, und mein kleiner Bruder würde sofort losheulen. Er war kein Freund von Handgreiflichkeiten. Ich staunte immer wieder, dass Bodybuilding als Sport betrachtet wurde. Es gab sogar einzelne Kategorien. Das ganze Stolzieren und Posieren. Ich hätte Bodybuilder in dieselbe Kategorie wie Friseure gesteckt. Allerdings würde ich es nie wagen, so etwas zu Arny zu sagen.
»Und was hast du ihm geantwortet?«, fragte ich.
»Hab gesagt, ich würd’s mir überlegen.«
»Gut so. Triff keine übereilten Entscheidungen. Und du, Opa Jah? Was hast du heute so getrieben?«
Ich hoffte, wir könnten auf den ausgiebigen Redefluss des gestrigen Tages aufbauen, aber vermutlich hatte er sich erschöpft. Er blickte von seinem Reis auf und grunzte. Er brauchte Inspiration.
»Gut«, sagte ich. »Dann bin ich an der Reihe.«
Ich hielt mich nicht mit dem Besuch in Ranong auf, und sei es nur, weil der nicht so interessant gewesen war. Stattdessen schilderte ich den Tatort beim Feuang-Fa-Tempel, so wie Lieutenant Chompu ihn mir beschrieben hatte. Es geht doch nichts über die detaillierte Beschreibung eines Mordes, wenn deine Familie beim Essen aufhorchen soll. Einmal blickte Opa Jah auf, und ich dachte schon, er wollte einen Kommentar loslassen. Aber er überlegte es sich anders und schaufelte weiter Essen in sich hinein. Opa Jah hatte kräftige Knochen, aber die meisten davon konnte man sehen, und ich wusste überhaupt nicht, wo er das ganze Essen eigentlich ließ.
»Und Mair«, fragte ich, »wie war dein Tag?«
»Ed kam noch mal vorbei«, sagte sie.
Ich wünschte, ich hätte nicht gefragt.
»Er war gerade unterwegs, einen Dachstuhl zu bauen.«
»Ich dachte, er mäht Rasen.«
»Er ist auch Zimmermann. Er hat schon wieder nach dir gefragt.«
»Ich hoffe, du hast ihm gesagt … du weißt schon.«
»Es war gegen meine Prinzipien, aber – ja – das habe ich.«
»Brave Mair.«
Opa Jah grunzte und deutete mit seiner Gabel. Wir folgten der Richtung der Zinken. Da stand jemand vor dem Laden und wartete. Mair legte ihr Besteck beiseite und kümmerte sich um den Kunden.
»Der Laden brummt«, sagte Arny. Er sammelte die Teller vom Tisch und brachte sie in die Küche. Er war mit dem Abwasch an der Reihe. Opa Jah weigerte sich, seine Schale und den Löffel herzugeben. Offenbar wollte er das Muster aus der Keramikschüssel kratzen. Ich fragte mich, ob er wohl die gleichen Würmer wie Gogo hatte.
»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte er unerwartet.
Fast erschrak ich, seine Stimme zu hören.
»Eine ist«, fuhr er fort, »am Tatort nach dem zu suchen, was nicht da ist, was gestohlen wurde: Messer, die in Schubladen fehlen, verschwundene Computer-CDs. Du hast solche Tatorte schon gesehen.«
Okay. Jetzt wollte er mir erzählen, wie ich einen Tatort betrachten sollte. Bei den einzigen Tatorten, die er je gesehen hatte, ging es um Stoßstangen und eingeklemmte Trucker. Ich hatte mehr echte Tatorte gesehen, als er je zu sehen bekäme. Na gut. Respekt vor dem Alter. Ich ließ ihn machen.
»Man rekonstruiert die Wege des Opfers und legt eine Liste von allem an, das da sein sollte, aber nicht da ist«, fuhr er fort. »Dann gibt es die zweite Möglichkeit. Man sucht am Tatort nach dem, was da ist, aber nicht da sein sollte: Fußabdrücke wären ein Beispiel, Zigaretten im Aschenbecher, ein vergessener Schirm, solche Sachen. Und manchmal ist das, was nicht da sein sollte, so offensichtlich, dass man es nicht sieht.«
Ich wusste nicht, ob das jetzt ein allgemeiner Vortrag sein sollte, oder ob er irgendetwas Bestimmtes im Sinn hatte.
»Gab es etwas, das die Polizei im wat Feuang Fa nicht gesehen hat, Opa?«
»Allerdings, Jimm. Allerdings.«
»Und was war das?«
»Ein Hut.«
»Ein Hut?«
»Du sagtest, Abt Winai hätte einen Hut getragen. Er verdeckte sein Gesicht.«
»So hat der Lieutenant es mir beschrieben.«
»Und wie viele Mönche hast du schon gesehen, die Hüte tragen?«
Darüber musste ich nachdenken. Im Norden gab es einige.
»Oben in den Bergen tragen die Mönche immer kleine Wollmützen«, sagte ich.
»Das stimmt. Manche kommen damit durch. Aber da geht es eher ums nackte Überleben. Besser, als zu erfrieren. Aber es ist immer noch gegen die Vorschriften. Hier unten wird man keinen Mönch finden, der tagsüber einen Hut trägt, ganz besonders keinen hochrangigen Abt.«
»Es war heiß, Opa. Und er war alt.«
»Heiß ist es überall, und die meisten Äbte sind fortgeschrittenen Alters. Trotzdem sieht man keine Hüte. Und zwar weil in den Mönchsregeln festgelegt ist, dass man keinen Hut tragen darf. Man darf einen orangefarbenen Schirm aufspannen oder sich sogar die Robe über den Kopf ziehen, aber ein hoher Abt, der ein solches Maß an Verantwortung erreicht hat, würde nicht mal im Traum die Regeln übertreten. Nie im Leben würde er einen Hut tragen.«
Opa nahm seine Schale und den Löffel und ging damit in die Küche.
»Danke, Opa.«
Ich saß auf meiner Veranda auf dem Rattanstuhl, der immer vorlaut knarrte, als wöge ich achtzig Kilo, und klatschte Moskitos an meine nackten Arme. Ich erzählte mir eine Geschichte. »Ein Abt will in der Nachmittagshitze einen Spaziergang machen. Die Sonne brennt auf ihn herab. Da hängt ein hübscher Strohhut am Haken, den er sich nimmt. Keiner sieht ihn. Nichts passiert. Und er spaziert los, um sich an den Blüten zu erfreuen.« Wozu etwas so Simples verkomplizieren? Mair war eine wiedergeborene Buddhistin. Ich beschloss, sie zu fragen.
Ich ging zum Laden. Mair saß am runden Betontisch direkt davor und unterhielt sich mit jemandem. Ich sah nur seinen Rücken vor den Lichtern des Ladens. Er war schlank und trug eine Kappe. Mair sah mich kommen und sagte etwas, woraufhin der Gast eilig aufstand, die Straße entlanglief und im Dunkel verschwand.
»Wer war das?«, fragte ich.
»Ein Kunde«, sagte sie.
»Mair, du hast einen dreiwöchigen Intensivkurs in Meditation im wat Ongdoi gemacht, um eine bessere Buddhistin zu werden, und ich weiß ganz genau, dass an deiner Tür eine Liste mit den wichtigsten moralischen Grundsätzen hing, und der vierte Punkt lautete: ENTHALTE DICH FALSCHER REDEN!«
»Ich rede nicht falsch. Das war ein Kunde.«
»Es war Meng, der Plastikmarkisenmann. Mapraos berühmter Privatdetektiv.«
»Er hat eine Schachtel Streichhölzer gekauft.«
»Verdrehen ist so ähnlich wie Lügen. Was hatte er dir zu erzählen?«
»Nichts.«
»Mair.«
»Wirklich. Er meinte, die meisten Leute besitzen das eine oder andere Gift. Es ist ein zu weites Feld. Wir müssen es eingrenzen.«
»Mair, du versuchst herauszufinden, wer John getötet hat. Was bringt es dir? Du wirst sie nicht wieder zum Leben erwecken. Und Vergebung ist ein Segen, oder?«
»Ich kann vergeben. Ich muss nur wissen, wem ich vergeben soll. Ich glaube, der Täter braucht das, um seine Schuld abzuladen.«
»Du möchtest wissen, wer John vergiftet hat, damit du ihm sagen kannst, dass John ihm vergibt?«
»Ja, genau.«
Ich spürte meine Maprao-Migräne.
»Es ist spät, Mair. Wir sollten den Laden zumachen.«
Ich nahm eine beschämend kleine Summe aus der Schublade, die unsere Kasse war, machte das Licht aus und half Mair dabei, das Ladengitter herunterzulassen. Wir schlenderten zum Wasser, fanden eine Stelle ohne Quallen und setzten uns in den Sand. Krebse musterten uns hungrig. Ich startete den Timer an meiner Uhr. Mair lächelte den Mond an, der immer wieder hinter den Wolken hervorkam. Sie sah wirklich überall Schönheit. Ich erzählte ihr von Opa Jah und seinen neu entdeckten detektivischen Ambitionen. Ich dachte, sie würde mit mir darüber lachen, doch nahm sie nur meine Hand.
»Dein Großvater Jah ist über den Rang eines Corporals nie hinausgekommen …«
»Ich weiß. Deshalb war ich so erschrocken, als er …«
»… weil er sich in den ganzen vierzig Jahren, die er bei der Polizei war, geweigert hat, Schmiergeld anzunehmen.«
»Er …?«
»Er machte sein Examen, aber wegen seines Rufs wollte ihn kein Revier haben. Er hatte eine Philosophie, einen Ehrenkodex. Er schwor, niemals dagegen zu verstoßen. Wenn etwas gegen das Gesetz war, dann war es gegen das Gesetz, egal, wer der Täter war. Daran änderte sich auch nichts durch die Einflussnahme mächtiger Personen oder den Druck von ranghöheren Polizeibeamten. Wer zu siebenundachtzig Prozent ehrlich war, war seiner Ansicht nach unehrlich. Er war einer der klügsten Rekruten seines Jahrgangs und wäre sicher schnell aufgestiegen, wenn denn … Aber ein sauberer Polizist führt den Kollegen nur vor Augen, wie schmutzig sie sind. Niemand traute ihm. Deine Oma wollte ihn überreden, hin und wieder Geld anzunehmen, um sich anzupassen, aber davon wollte er nichts hören. Also hat er vierzig Jahre lang mit seiner Trillerpfeife den Verkehr geregelt.«
Ich spürte kleine Scheren, die an meinem Körper nagten. Die Zeitspanne, während der man sicher am Strand sitzen konnte, war weit überschritten. Mair hatte mich meinen Gedanken überlassen und war ins Bett gegangen. Jetzt war ich mit Gogos Hintern und den Krebsen ganz allein. Ein Fischerboot fuhr langsam vorbei. Einer der Männer stach mit einem schweren Stock auf das stille Wasser ein, um die Fische im Sand aufzuscheuchen und in die Netze zu treiben. Der stete Rhythmus war wie der Herzschlag eines Büffels. Mein eigener Puls hatte sich etwas beruhigt. Bei uns wurde es wirklich nie langweilig. Wieso hatten weder Mair noch Oma oder Opa Jah selbst uns von seinem Ehrenkodex erzählt? Dachten sie, wir würden ihn deshalb auslachen? War Ehrlichkeit denn peinlich? Warum, fragte ich mich, gab es in unserer Familie so viele Geheimnisse?