Kapitel 2

»Ich bin mir sicher, dass Menschen und Fische in friedlicher Koexistenz leben können.«

George W. Bush

Saginaw, Michigan, 29. September 2000

Die neuen Besitzer wollten ein schmales, hohes Apartmenthaus auf unserem Grundstück bauen, sodass uns genau zwei Monate blieben, um von unserem Erbe Abschied zu nehmen. Meine vierunddreißig Jahre Plunder und Erinnerungen wurden in Pappkartons verpackt. Es war eine Reise ins Unbekannte. Mair verließ sich einzig und allein auf eine Computergrafik vom Gulf Bay Lovely Resort & Restaurant in Maprao in der Provinz Chumphon. Ich musste es nachschlagen. Chumphon ist eine dieser thailändischen Provinzen, in die kein Mensch fährt. Man hat eine grobe Vorstellung davon, wo sie liegt, aber man könnte auf der Karte nicht mit dem Finger darauf zeigen. Wäre es ein Land, wäre es Liberia.

Im ersten Monat hielten wir immer wieder Familienrat, und jeder von uns erklärte, wieso und warum er unmöglich aus Chiang Mai wegziehen konnte. Sissi hatte ihre Internetgeschäfte und war sicher, dass es im Süden nicht mal Strom gab. Arny trainierte für den Bodybuilding-Wettbewerb Northern Adonis 2008. Zweimal schon war er nur ein Brustmuskelzucken von der Zulassung zum landesweiten Wettkampf entfernt gewesen, und wir waren allesamt davon überzeugt, dass es ihm dieses Jahr gelingen würde. Er brauchte Zugang zu Hanteln und zu Anabolika. Opa Jah wies darauf hin, dass es in Nakhon Sri Thamarat mehr Morde gab als in jeder anderen Provinz des Landes. – Nicht sonderlich relevant, da Chumphon zwei Provinzen entfernt war. – Und ich? Verdammt. Ich war nur einen Herzinfarkt entfernt vom Chefsessel. Ich liebte meinen Job. Ich würde Chiang Mai ebenso wenig freiwillig verlassen, wie ich die Nacht in einer Wanne mit Wieselspucke verbringen wollte. Ich konnte nicht weg. Ich wollte nicht.

Das schien Mair nichts auszumachen. Im Geiste hatte sie die smogverhangene Stadt im Norden längst hinter sich gelassen und nippte Eiswasser auf einem Balkon, mit Blick über die sanft plätschernde Brandung des Golfs.

»Hört auf zu jammern«, sagte sie und lächelte. »Eure Mair ist groß und hässlich genug, um auf sich selbst aufzupassen. Geht ihr nur und amüsiert euch. Macht euch um mich keine Gedanken. Ich kann immer noch Personal einstellen.«

Ich glaube nicht, dass es sarkastisch klingen sollte. Ich glaube, sie dachte wirklich, sie könne es allein schaffen.

»Es ist nur eine kleine Ferienanlage«, sagte sie. »Nur fünf Zimmer. Das kann auch nicht schwieriger sein, als vier lebhafte Kinder großzuziehen.«

Sofern sie uns nicht etwas verschwiegen hatte, waren wir eigentlich nur zu dritt, aber Zahlen wurden für unsere Mair langsam kompliziert. Tatsächlich wurde so manches für sie doch sehr verwirrend. Und da waren wir nun, zwei Monate später, mitten im Monsun, Opfer familiärer Verpflichtungen, und klammerten uns verzweifelt an den Rand der Erde: Mair, ich, Arny und Opa Jah. Sissi zog mit ihren Computern und ihren Fotoalben in eine kleine Einzimmerwohnung in Chiang Mai. Sie hatte Probleme. Eines dieser Probleme bestand darin, dass sie nicht in die Öffentlichkeit ging, ein bisschen wie diese Wie-heißt-sie-gleich aus Boulevard der Dämmerung. Und »Öffentlichkeit« bezog sich speziell auf verschwitzte Fischerdörfer auf dem Land. Sie war hin- und hergerissen zwischen ihren familiären Pflichten und ihrem eigenen Leben. Allerdings war sie nicht zum ersten Mal hin- und hergerissen und wusste, wie sie damit umzugehen hatte.

Arny und ich widmeten unsere Tage dem Hüten von Mair und unsere Worte dem Schimpfen auf alles, was mit unserem Leben nicht stimmte. Wir waren in ein von Kokos-
hainen umgebenes Dorf namens Maprao gezogen. Der Name bedeutet »Kokosnuss«. Wir sitzen mitten in einer Bucht namens Glang Ow, was »in der Mitte der Bucht« bedeutet, und das nächstgelegene Städtchen liegt an der Mündung eines Flusses. Es heißt Pak Nam. Das muss ich Ihnen wohl nicht übersetzen. Pak Nam liegt an der Mündung des Flusses Lang Suan, der durch den Lang-Suan-Distrikt fließt und von der Stadt Lang Suan herkommt. Lang Suan bedeutet »hinter dem Garten«, sodass wir wohl davon ausgehen können, dass der Fluss einmal bei irgendwem hinterm Garten entlanggeflossen ist.

Hier unten gibt es achtundzwanzig Dörfer, die Maprao heißen, dreißig Buchten namens Thai Bay, vierunddreißig namens Middle Bay und neununddreißigmal River Mouth. Im Süden sind eintausendzweihundertsechsundsiebzig Dörfer nach Obst oder Gemüse benannt. Exakt zweitausendfünfhundertsiebenundsechzig tragen den Namen einer Person, die dort einmal gelebt hat. Genau dieser Mangel an Einfallsreichtum spiegelt für mich den Süden wider. Hier unten interessiert sich bestimmt keiner hinreichend dafür, dass er sich extra vor den Computer setzen würde, um das auszurechnen. Hätten Südthais Australien kolonisiert, wären die Olympischen Spiele im Jahr 2000 vermutlich in Großer Hafen eröffnet worden.

Das bearbeitete Bild vom Gulf Bay Lovely Resort & Restaurant war ausgesprochen schmeichelhaft. Der Laden selbst war ein Loch, umzingelt von Sümpfen voller Moskitos, drei Monate im Jahr bombardiert vom Monsun, meilenweit von der nächsten Touristenroute entfernt und … deprimierend. Bei jedem Sturm holte sich die See etwas mehr vom Strand, und als wir ankamen, fanden wir ein sichelförmiges Ufer vor, das bei der nächsten Flut ins Wasser zu kippen drohte. Ungeachtet der Mängel dieses Orts arbeitete Mair im spärlich bestückten Kiosk und sang viel. Arny kümmerte sich um die Zimmer, und ich zog den Kürzesten und bekam die Verantwortung für die Küche. Fast zehn Monate hatte ich gelitten, toleriert und mitgespielt, wenn auch nicht kommentarlos, bis zu jenem wundervollen Tag, als Käpt’n Kow auf seiner Honda ins Dorf kam und verkündete, man habe zwei Leichen in einem vergrabenen VW-Bus gefunden.

Nachdem ich zehn Minuten nach dem Weg gefragt und nicht ernstlich irgendwas verstanden hatte, stieß ich eher zufällig auf Old Mels Plantage. Hier unten sind die Palmenfelder nicht umzäumt. Man könnte mit einem Sattelschlepper vorfahren und mit vierzig Bäumen abhauen, wenn man wollte. Doch das tat niemand. Ich war ganz wacklig und verschwitzt von der Fahrt und schob Mairs Fahrrad den Sandweg hinauf. Da waren Hunde. Ich bin keine große Hundefreundin, und die beiden gaben sich auch keine Mühe, mich zu bekehren. Sie knurrten und sabberten an meinen Knöcheln herum, den ganzen Weg bis zum hinteren Ende des Grundstücks. Dort parkte ein Polizeiwagen, und weiter hinten sah ich einen Pulk von Schaulustigen. In den USA wäre man vielleicht auf eine Polizeiabsperrung samt Aufpasser gestoßen, doch Pak Nams Freunde und Helfer posierten für Fotos vor einer rapide wachsenden Grube. Alle Nachbarn hatten Hacke oder Spaten mitgebracht und gruben den VW vorsichtig aus wie einen versteinerten Dinosaurier.

Sie hatten sich auf das vordere Ende konzentriert, und der Fahrer und seine Begleitung blickten starr durch eine erstaunlich saubere Windschutzscheibe. Mir war wohl bewusst, dass sie nur noch Skelette waren, doch sie wirkten wie ein entspanntes Pärchen auf einem Wochenendausflug. Der Fahrer hielt das Lenkrad fest, und obwohl ihm sein Sicherheitsgurt und der Bart schon lange auf den Schoß gefallen waren, hielt die John-Lennon-Mütze noch immer seine langen Haare fest. Solches Glück war seiner Freundin nicht vergönnt. Sie war kahl wie eine Billardkugel, und nur ihre Statur und eine dicke, hawaiianische Kette aus Glas- und Plastikperlen um den Hals verrieten ihr Geschlecht.

Anfangs ignorierten mich die Grabenden und die posierenden Polizisten, und ich hätte ohne Weiteres zum Auto in der Grube schleichen und fotografieren können, was ich wollte. Offensichtlich führte man keine sonderlich eingehenden Tatortermittlungen durch. Die Situation verlangte nach Klärung, also beschloss ich, mein Glück zu versuchen. Ich marschierte zu den Polizisten, stellte mich mit dem Rücken vor die klickenden Kameras und sagte, wobei ich bewusst auf die Vergangenheitsform verzichtete: »Meine Herren, ich bin Jimm Juree, stellvertretende Kriminalredakteurin bei der Chiang Mai Mail. Ich bin hier, um über diesen Fall zu berichten.«

Die Fotografen hielten hörbar die Luft an, und die Grabenden schulterten ihre Werkzeuge. Ich bezweifelte, dass die beiden jungen Polizisten je von der Mail gehört oder überhaupt je eine Zeitung gelesen hatten, doch ich blieb unbeirrbar. Wie ein Revolverheld ließ ich meine Hand über der Kamera schweben, die von meiner Schulter hing. Nach mehreren Sekunden überlegte ich schon, ob sie vielleicht stumm waren, doch schließlich meldete sich der jüngere der beiden zu Wort.

»Ich habe einen Vetter in Chiang Mai«, sagte er. »Kovit.«

Ich fürchtete, er würde mich vielleicht fragen, ob ich ihn kannte, doch stattdessen überraschte er mich damit, dass sein Vetter der stellvertretende Direktor des Zoologischen Gartens war und lukrative Angebote aus Europa ausgeschlagen hatte, um in Chiang Mai zu bleiben, weil sie dort versuchen wollten, Pandas zu begatten. Er meinte ein Panda den anderen … glaube ich. Der andere Polizist fügte die kaum bekannte Tatsache hinzu, dass Pandas zwanzig Jahre leben und die Weibchen nur über ein Zeitfenster von drei Jahren verfügen, in dem sie fruchtbar genug sind, um schwanger zu werden. Er fügte hinzu, sie hätten für Sex nicht viel übrig, und die Weibchen bestimmten, wann und wo sie es »trieben«.

Das war alles faszinierend und offensichtlich ein Thema, das sie ausgiebig diskutiert hatten, doch würde es mir einen Exklusivbericht über den tiefergelegten VW-Bus einbringen? Die Antwort kam in einem zweiten braun-
beigen Wagen, aus dem Police Major Mana stieg, der Chef des Reviers von Pak Nam. Er war ein Mann in den besten Jahren, dessen dunkles Gesicht so poliert aussah wie seine Schulterstücke. Er war klein und bewegte sich, wie man es von einem Panda in zu enger Uniform erwarten würde. Ich fragte mich, ob die beiden Streifenpolizisten wohl das-
selbe dachten.

Aus dem Wagen kletterte außerdem ein dürrer, junger Polizist mit einer altmodischen Kamera, die mehr zu wiegen schien, als er tragen konnte. Major Mana verbrachte mehrere Minuten damit, seinen Hut zurechtzurücken und sich im Außenspiegel zu betrachten, dann marschierte er an mir und den beiden Beamten vorbei zur Grabungsstelle. Er hielt etwas Abstand und registrierte mit finsterer Miene, dass die Arbeiten unterbrochen waren. Der Fotograf folgte ihm, richtete sein Objektiv ein und machte ein hübsches Foto von seinem Major bei der Besichtigung des Tatorts – falls es etwas geworden war, falls es weder über- noch unterbelichtet und der Film nicht in der Kamera geschmolzen war. Digital mochte vielleicht nichts für Liebhaber sein, aber wenigstens musste man nicht einen ganzen Tag warten, bis man sah, was man vermasselt hatte.

Nachdem er seiner Pflicht offenbar Genüge getan hatte, nahm Major Mana seinen Hut ab, tupfte seine Stirn mit einem Tuch und machte sich wieder auf den Weg zu seinem Auto. Einer der beiden Polizisten trat vor und salutierte, als er an ihm vorüberkam.

»Major, Sir«, sagte er. »Das hier ist Nong Jimm von der Presse in Chiang Mai.«

Ich konnte es nicht leiden, wenn man mich »Kleine Schwester« nannte. Es ist so, als könne man, nur weil man klein und faltenlos war, unmöglich so alt sein wie sie. Vielleicht lag es an der Hitze oder am ehrlichen Respekt vor der Zunft der Journalisten, doch plötzlich sprühte der Major vor Charme. Er hatte es derart eilig, seine Hände zu einer unverdienten Erwiderung meines wai zusammenzubringen, dass er seine hübsche Mütze fallen ließ.

»Nong Jimm«, sagte er, trat beiseite, damit die beiden Beamten seine Mütze aufheben und entstauben konnten. »Willkommen in unserer Provinz. Wenn ich irgendetwas tun kann, um Ihnen den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten, so müssen Sie es nur sagen.«

Ich kannte diese Sorte nur zu gut. Aalglatt wie eine Schlange in Motoröl. Ich beschloss, seinen Irrtum zu nutzen, bevor er mitbekam, dass ich es mit dem Fahrrad nur eine halbe Stunde bis nach Hause hatte.

»Sobald ich mich hier etwas umgesehen habe, wäre ich Ihnen dankbar, wenn wir uns ein wenig unterhalten könnten«, sagte ich. Das Sonnenlicht auf seinen Zähnen blendete mich.

»Dann will ich Sie gern zu einem Arbeitsessen einladen«, sagte er. »Wenn Sie hier fertig sind, natürlich.«

Das passte mir. Es lag in meinem Interesse, meine lokalen Gesetzeshüter kennenzulernen, und vielleicht bekam ich zur Abwechslung mal etwas zu essen, das nicht schwimmen konnte. Eine schöne Scheibe Schweinebraten würde mich glücklich machen. Eine Scheibe Schinken. Ein paar Scheibchen Wild. Liebend gern nahm ich eine Stunde Schauspielerei auf mich, wenn ich dafür einen Teller mit irgendwas bekäme, das noch vor Tagen auf einer Wiese herumgetollt war. Langsam verlor ich mein fleischfressendes je ne sais quoi.

Es überraschte mich direkt, wie sehr ich die Zeit an dieser Ausgrabungsstelle genoss. In meinem ganzen Jahr in Chumphon hatte ich aus unerfindlichem Grunde bisher nicht das Vergnügen gehabt, mich mit einem Haufen arbeitsloser Männer herumzutreiben. Mehrere waren in Opa Jahs Alter, doch sie schwangen ihre Hacken mit der Kraft von Männern, die früher verletztes Vieh auf ihren Schultern getragen hatten. Und sie fanden alles komisch. Das Graben war ein Riesenspaß. Witze und Gelächter gingen hin und her, doch ich hätte eine Nordthai/Südthai-Simultanübersetzung gebraucht, um auch nur die Hälfte davon zu verstehen. Das bei Weitem Lustigste an diesem Morgen war die forensische Katastrophe.

Ich hatte einige Digitalbilder der beiden Skelette gemacht, bezweifelte jedoch, dass Zeitungen wie die Mail sie verwenden würden. Aber ich war sicher, dass ich sie an 191 verkaufen konnte, diese morbide Zeitschrift in Bangkok. Für die war nichts zu blutrünstig. Ich überlegte gerade, wie ich diese Fotos noch etwas aufpeppen konnte, als Onkel Ly, der Komiker unter den Gräbern, durch das Loch im Dach in den kleinen Bus kletterte und zwischen den Skeletten posierte. Sein Neffe machte ein Foto mit seinem Handy, und gerade stellte ich mich an, um es ihm nachzutun, als das Unvermeidliche geschah.

Wahrscheinlich hätte sich schon mal jemand fragen sollen, wieso die Skelette eigentlich so unversehrt sein konnten, trotz des eklatanten Mangels an körpereigenen Schrauben und Klemmen, die uns alle zusammenhalten. Wie dem auch sei, sie hielten nicht, denn sobald Onkel Ly sein Peace-Zeichen hinter der Schulter des Fahrers gemacht hatte, fiel Letzterer in sich zusammen wie ein Stapel Münzen. Wir alle schwiegen. Dann, als wären die beiden durch einen unsichtbaren Faden miteinander verbunden, neigte die Beifahrerin ihren Kopf ganz leicht nach rechts und nickte, bevor sie – treue Gefährtin, die sie war – ihrem Liebsten auf den Boden der Fahrerkabine folgte. In guten wie in schlechten Tagen und in Einzelteilen.

Es war der Anblick des peinlich berührten Onkel Ly bei dem Versuch, die beiden Leichen wieder zusammenzusetzen, der uns zum Lachen brachte. Constable Ma Yai und Constable Ma Lek kamen zur Grube gelaufen, und einen Moment lang fürchtete ich schon, sie würden uns maßregeln, weil wir lachten, oder sogar verhaften. Doch erst der eine, dann der andere Beamte machte Bemerkungen, die den Übermut der Zuschauer nur noch schürten und den armen Ly vollends aus der Fassung brachten. Als klar war, dass die Skelette nie wieder dieselben sein würden, zogen die beiden jungen Beamten eine sehr gute Schlussfolgerung. Sie folgerten, dass es die Erschütterungen infolge der Grabung gewesen sein mussten, die den Zusammenbruch des Pärchens ausgelöst hatten. Alle stimmten zu. Es schien geradezu ungesellig, es nicht zu tun. Auf meinem Heimweg staunte ich, wie leicht ich Komplizin eines Betrugs geworden war. Es lag wohl in der Luft.

Um zehn vor zwölf war ich wieder zu Hause, sodass mir noch eine halbe Stunde bis zu meiner Essensverabredung blieb. Da ich die Makrele am Morgen halb ausgenommen zurückgelassen hatte, teilte ich der Familie mit, dass heute Instant-Nudel-Tag war. Ich hatte duschen wollen, nachdem ich eine halbe Stunde unter der prallen Sonne geradelt war, doch der kleine Gott der Stromversorgung wählte ebendiesen Augenblick, um seinen Dreizack in den himmlischen Sicherungskasten zu rammen, und die ganze Gegend fiel zurück ins mittelalterliche Reich von Ayutthaya. Das passierte in unserer kleinen, dunklen Ecke des Himmels dermaßen oft, dass ich darüber schon lange nicht mehr leise vor mich hin fluchte. Mir blieb nur, entweder ins Meer zu springen und mich während des gesamten Mittagessens zu kratzen, oder einen Plastikeimer voll aus dem großen Fass hinter dem Haus zu holen, in dem es mehr Viecher gab als im Naturkundemuseum. Ich wählte das Meer.

Major Mana war offenherzig wie eine Venusfliegenfalle. Ich saß ihm gegenüber und rutschte auf meinem Stuhl herum, während das Salz auf meiner Haut prickelte. In meiner Tasche steckte der dicke Bericht, den ich noch am Tatort geschrieben hatte. Nach dem Essen wollte ich ein paar Telefonate erledigen, ihn in mein Notebook tippen und vom Internetcafé aus wegschicken. Da Samstag war, konnte ich mich auf einiges Gerangel mit den Teenagern einstellen, aber ich hatte meine erste echte Geschichte seit einem Jahr am Haken, und da waren ein paar Kinder mit blauen Flecken kein allzu hoher Preis. Vom Major brauchte ich nur die obligatorischen Namen und Dienstgrade aller beteiligten Polizisten und ein Zitat, um der Bevölkerung zu versichern, dass die Polizei alles unter Kontrolle hatte. In Chiang Mai hatten wir einen Vorrat von solchen Zitaten, aus denen sich die hochrangigen Polizeibeamten eins aussuchen konnten, weil es ihnen oft an grammatikalisch korrekten Phrasen mangelte. Ich hatte meine Liste nicht bei mir, also durfte Mana die Leser mit seiner Mord/Unglück/Unfall/Selbstmord-Theorie verblüffen. Der geschäftliche Teil unseres Mittagessens war nach zehn Minuten abgeschlossen, und ich konnte es kaum erwarten, dort wegzukommen und meine Geschichte abzuschicken. Doch da ich aus Chiang Mai kam und zu Besuch im Süden war, hatte der Major frische Makrele und Zackenbarsch aus der Region bestellt und wartete auf meine Reaktion, während ich aß. Ich brachte ein Lächeln zustande.

Wie zu erwarten, hatte er dafür gesorgt, dass bei unserer Ankunft eine Flasche »Hinnisy«-Brandy auf dem Tisch stand, als sei das ein normaler Service des Restaurants. Aus einem Bericht, den wir für die Mail gemacht hatten, wusste ich jedoch, dass einige dieser nachgemachten Branntweine Deformationen bei Neugeborenen hervorrufen konnten und einem schon beim dritten Glas die Zähne im Mund verfaulten. Major Manas strahlend weiße Zähne stärkten jedoch mein Vertrauen, und ich hielt während des ganzen Essens mit, Schluck für Schluck. Ich kann was vertragen. Ich habe keine Ahnung, woher meine Kondition kommt. Meine Mutter muss nur an einem Fliegenfänger riechen, schon singt sie alte Bird-Thongchai-McIntyre-Balladen. Es muss also an den Genen meines auf mysteriöse Weise nicht vorhandenen Vaters liegen. Vielleicht war er Alkoholiker. Mair schweigt sich über dieses Thema aus. Ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern. Sissi, die Älteste von uns, erinnert sich an einen gut aussehenden, lustigen Mann, der kam und ging und kam … und ging. Das ist alles, was wir von »Dad« wissen. Keine Fotos. Keine liebevollen Erinnerungen von Mair. Nur Gene, die irgendwie nicht passen wollen.

Jedenfalls waren wir beim Obstteller und hatten den Hinnisy fast geschafft, und Major Mana lallte und hatte an Lautstärke gewonnen. Er zwinkerte dem Restaurantbesitzer zu, als er seinen Stuhl herumrückte, um mir Geheimnisse ins Ohr zu flüstern. Da er während des ganzen Essens von sich redete, musste ich nicht lügen, was meinen Wohnort anging. Er bestand darauf, unsere Drinks selbst zu mixen. Ausnahmslos hatte er doppelt so viel Brandy in mein Glas geschenkt, und ausnahmslos wartete ich, bis er abgelenkt war, und tauschte die Gläser. Zweimal hatte er mir nun schon erklärt, dass er ein Motelzimmer gebucht hatte, für den Fall, dass ich mich nach dem Essen ausruhen wollte. Galant wie ein Haufen Echsendung – ich meine, mal ehrlich: Vielleicht war er noch nie mit einer Frau essen gewesen, die weder Fell noch Schuppen hatte.

Irgendwann kam er nicht wieder von der Toilette zurück. Angesichts der Zeit, die er gebraucht hatte, um sie zu finden, war ich nicht sonderlich überrascht. Ein Penis ist viel kleiner als eine Toilette. Ich gab ihm fünf Minuten, schüttete den Rest von meinem Drink in den Eiseimer und spazierte die Hauptstraße entlang zu meinem Moped, das ich dort abgestellt hatte.

»Hattest du einen schönen Sonntag?«, fragte Mair.

»Ja, danke.«

Dabei war Samstag.

Ich konnte ihr noch immer nicht verzeihen, was sie uns angetan hatte, und war entschlossen, ein komplettes Jahr lang zivilen Ungehorsam zu üben, doch wie immer merkte ich, dass meine Bissigkeit ihre bleierne Mutterhülle nicht durchdringen konnte. Die meiste Zeit über war sie Mair – lieb, zugänglich, unfreiwillig komisch, eben die ganz normale Mair. Aber es gab auch Momente, in denen sie uns Angst machte. Es hatte mit kleinen Dingen angefangen. Beispielsweise mochte einem eine Ameisenstraße auffallen, die zu einer Kommode führte, und darin fand man dann einen offenen Karamellpudding.

»Mair, wieso steht der Karamellpudding nicht im Kühlschrank?«

»Steht er nicht?« Dann schüttelte sie den Kopf. »Das ist ja komisch. Da habe ich ihn aber reingestellt, Kindchen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wer ihn da rausgenommen hat.« Dann gab es Momente, in denen sie den Fernseher mit ihrem Handy umschalten wollte oder den lokalen Radiosender in der Mikrowelle suchte. In letzter Zeit fand ich es zunehmend sinnvoll, dass wir in den Süden Thailands und nicht in den Süden von Chicago gezogen waren. Mair schloss den Laden ab, ging ins Bett und ließ fünfzig Säcke Reis über Nacht draußen vor der Tür stehen. Ich weiß gar nicht, wieso sich eigentlich nie jemand selbst bediente.

Seit wir hierhergezogen waren, hatte Mair außerdem ungebührliche Beziehungen aufgenommen. Um unser Thailand zu verstehen, müssen Sie sich vor Augen führen, dass manches schon in der Natur der Sache liegt. Ein Politiker beispielsweise kann schon per Definition unmöglich ehrlich sein. Ehrliche Politiker haben keine einflussreichen Freunde, die ihnen über die erste Hürde hinweghelfen – den Stimmenkauf. Dann ist da die Geschäftswelt. Geschäftsleute haben keinerlei soziale Verpflichtungen. Sie sind im Geschäft, um ihr Gegenüber – wenn möglich, höflich – über den Tisch zu ziehen. Womit wir bei den Hunden wären. Täglich werden Millionen davon geboren. Nach menschlichen Maßstäben gemessen, kommt die überwiegende Mehrheit nicht mal übers Kindergartenalter hinaus. Nur die starken überleben, was bedeutet, dass schon pubertierende Hunde fies und gemein und zutiefst unliebenswert sind. Hilft man einem Hundewelpen, widersetzt man sich also dem Gesetz des Dschungels.

Irgendwas jedoch hatte sich in Mairs Herz verändert, als wir in den Süden zogen. Es war, als hätte sich Mutter Teresa ihrer Seele angenommen. In Chiang Mai war sie voll und ganz damit zufrieden gewesen, streunende Köter mit dem Besen zu vertreiben. Hier nun kam sie an keinem verkrüppelten Tier vorbei, ohne in Tränen auszubrechen. Sie blieb stehen und sprach mit ihnen. Ich meine – mit Worten. So eine Lala-Sprache, mit der man Neugeborene verwirrt. Normalerweise würde ein herrenloser Hund beim Anblick eines Menschen fliehen, aber offensichtlich hatte meine Mutter den Duft von Markknochen an sich.

Der erste Köter, den sie mit nach Hause brachte, bestand nur aus Ellbogen. Die Hündin hatte so wenig Fleisch auf den Rippen, dass sie ohne Weiteres dem Pärchen im VW-Bus hätte gehören können. Mair fütterte sie, pflegte sie gesund und nannte sie John. Nach einem Monat stolzierte John umher wie Bambi, noch nicht ganz koordiniert, aber mit hoffnungsfrohem Schwanken. In den folgenden sechs Monaten hatte die Hündin keine anderen Sorgen, als ihren riesigen Pfoten hinterherzuwachsen und so viele Leute wie möglich mit ihrem feuchten Hundelächeln einzuwickeln. Mich konnte sie nicht täuschen. Sie war weder angeleint noch im Zwinger, und doch blieb sie. Ich habe versucht, meiner Mutter zu erklären, was es mit dem Stockholm-Syndrom auf sich hatte, doch sie bestand darauf, dass der Hund bei uns blieb, weil er uns liebte.

Angestachelt von diesem Wunder des Lebens sammelte Mair eines Tages ein nacktes, quiekendes, madenähnliches Wesen neben der Straße auf. Wenn es nicht auf der Türschwelle des Todes hockte, dann doch zumindest in dessen Vorgarten. Sie erkannte ein Potenzial, das keiner von uns zu sehen imstande war, und brachte das Bündel zu Dr. Somboom, dem Viehspezialisten. Dr. Somboom hatte seine abendliche Tierarztpraxis nicht etwa eingerichtet, weil er Haustiere so sehr mochte – tatsächlich fand er sie höchst unangenehm –, sondern weil nur sehr wenige Leute ihre kranken Kühe nach Feierabend in eine Tierarztpraxis brachten. Und außerdem war mit Haustieren viel mehr Geld zu verdienen. Er zog Gummihandschuhe an, bevor er sich dazu herabließ, Mairs jüngsten Fund anzufassen. Offensichtlich sah auch er den Todesengel, der über dem Welpen schwebte, denn er konnte ihm nur noch eine Sterbehilfe verschreiben. Doch davon wollte Mair nichts wissen. Sie bestellte einen Medikamentencocktail für eine ganze Liste von Gebrechen und verbrachte zwei Wochen damit, den Knochensack gesund zu pflegen. Sie hielt die kleine Hündin in einem Korb unterm Ladentresen, was die wenigen Kunden vertrieb, die zufällig hereinschneiten. Als schokoladige Haare sprossen, gab Mair ihr den Namen Gogo: die thailändische Aussprache von »Kakao«. Gogo hatte ein Magenleiden, das eine normale Verdauung unmöglich machte. Sie fraß mehr als ich und hatte einen Schiss wie ein Büffel. Durch ihre Krankheit war sie permanent in den Wechseljahren. Aus mir unerfindlichen Gründen mochte sie mich nicht. Was auf Gegenseitigkeit beruhte.

Somit hatte Mair im achten Monat unseres Exils bereits die nächste Generation von Nachkommen aufgezogen, über die sie mit derselben Liebe herrschte, die sie ihren Kindern angedeihen ließ. In Arny und mir wuchs die Hoffnung, dass unsere Dienste nicht mehr benötigt würden. Unsere neuen Geschwister saßen links und rechts von Mair, draußen vor dem Laden, als ich vom Internetcafé nach Hause kam. Gogo wandte mir den Rücken zu, als ich mich ihr näherte, doch das konnte mich nicht erschüttern. Ich war guter Dinge. Ich hatte meine Geschichte drei Zeitungen geschickt, und 191 war sofort auf die Fotos angesprungen. Thai Rat und Mail wollten so schnell wie möglich Anschlussartikel. Es sah so aus, als müsste ich nun nicht mehr am Recycling-Truck in der Schlange stehen und leere Flaschen und alte Zeitungen verkaufen. Es war erniedrigend, sich mit dem Müll dort anzustellen. Aber das war längst nicht das Einzige, was mir an unserem Leben missfiel. Ich wollte nicht undankbar erscheinen, dass man mir Gelegenheit gegeben hatte, in die Pampa von Maprao zu ziehen, doch nur mal so aus Spaß hatte ich eine Liste dessen aufgestellt, was mir an meinem neuen Zuhause am wenigsten gefiel.

1. Stromausfall

2. Der ständige Gestank nach trocknendem Tintenfisch

3. Nachbarn, die nichts Wissenswertes zu sagen haben

4. Die schweren Kokosnüsse, die von den Bäumen fallen, auf der Suche nach einem Kopf

5. Flaches Wasser, so warm, dass darin prähistorische Lebensformen wachsen

6. Das Röhren der Fischerboote um drei Uhr nachts

7. Die unmittelbare Nähe von Reptilien

8. Kein Telefon, also auch kein Internet

9. Kein Nachtleben (auch kein Tagleben)

10. Der Müll von sogenannten Nobelhotels wird an unseren Strand gespült.

Die Originalliste enthielt sechzig Punkte, aber ich wollte nicht wie ein Klageweib dastehen, also habe ich sie zusammengestrichen.

Meine häuslichen Pflichten waren auf einem Dienstplan eingetragen. Die Meeresfrüchte landeten unweigerlich bei mir, von Nachbarn in unserer Bucht gefangen. Für Gemüse musste ich – bis ich die Hühner dazu bewegen konnte, sich von meinem Gemüsegarten fernzuhalten – den ganzen Weg bis nach Pak Nam fahren. Pak Nam, die nächste »Stadt« – Verzeihung, wenn ich lachen muss –, liegt zehn Kilometer entfernt, jenseits der Brücke, die über den Lang Suan führt. Der Ort ist echt winzig, als würde man mit einem Humvee durch Legoland fahren. Von allen Seiten kommen ausgetretene Pfade auf einen zu. Urplötzlich tauchen Blinde auf Mopeds und Fahrrädern aus unsichtbaren Gassen auf wie Gegner im Computerspiel, die einen zwingen, ihnen auszuweichen. Händler schieben dir aus Spaß an der Freude ihre Karren vor die Füße. Und Birmanen, mehr Birmanen, als man an zehn Zehen abzählen kann, die alle auf der Straße laufen, als gäbe es in Birma keine Bürgersteige: Mädchen mit gespenstisch weiß gepuderten Gesichtern und Jungen mit langen, karierten Tischtüchern um die Hüften. Bei der letzten Zählung waren mehr als zwei Millionen Birmanen in unserem Land, bestimmt alle gepudert, mit Tischtüchern um die Hüften, mitten auf der Straße.

Das Herz dieses stressigen Weilers ist der 7-Eleven-Markt. Hier herrscht ein wildes Geschiebe und Gedränge des Slurpee-Kaufens, des Herrenzeitschriften-Blätterns und der Selbstbetrachtung im Bildschirm über dem Tresen. Teenager aus der Gegend lungern auf ihren Mopeds vor dem Laden herum, bis abends um sieben, manchmal bis um acht, vor allem, weil er nach Einbruch der Dunkelheit noch beleuchtet ist. Wenn einem der 7-Eleven zu aufregend ist, gibt es da immer noch das Postamt. Das Prinzip des Anstellens, das Mitte der Achtzigerjahre in Thailand eingeführt wurde, hat es noch nicht bis in die Post von Pak Nam geschafft. Ältliche Damen mit Schlapphüten denken, die Leute stehen nur hintereinander, weil sie sich so gern die Schulterblätter ihres Vordermanns ansehen. Sie lächeln einen an, die alten Schachteln, und treten direkt vor einem an den Tresen. Und sie werden bedient. Allerdings wird man selbst bei Hochbetrieb nie mehr als sechs Kunden im Kampf um die Startplätze antreffen. Unsere Postfachnummer ist die Zwei, was zeigt, wie viel Korrespondenz Pak Nam erreicht beziehungsweise verlässt. Ich schätze, den Schlüssel für Nummer eins haben sie nur verloren.

An der Straße gibt es einen kleinen Copyshop, der auf graue, verwaschene Kopien deines Originals spezialisiert ist. Die Ladenbetreiberin zieht jedes Mal ihre Schuhe an, wenn ein Kunde kommt. Daneben gibt es eine chinesische Apotheke, in der man die Medikamente gleich im Laden ausprobieren darf. Sie geben einem ein Glas Eistee, wenn man eine Pille hinunterspülen muss, und lassen einen allein, wenn man Creme auf delikate Stellen schmieren möchte. Es gibt einen Friseursalon mit einem Foto im Fenster, das den unzutreffenden Eindruck vermittelt, Julia Roberts sei dort Kundin, und nicht weniger als vier traditionelle Barbiere. Da wir hier in Thailand sind, gibt es zahlreiche Fressbuden und sieben Restaurants, die allesamt dem Glauben erlegen sind, unbehandeltes, graues Holz, Banner mit der Aufschrift »Frohes Neues Jahr« und Kalender mit halb nackten Mädchen seien im Gaststättengewerbe als Deko akzeptabel. Trotz zweier kleiner Etablissements, die sich als Coffeeshops ausgeben, bekommt man in Pak Nam weder eine vernünftige Tasse Kaffee noch ein essbares Stück Kuchen. Nicht, dass man irgendwo lange genug parken könnte, um eins zu essen. Wenn die Parkplätze nicht von Mopeds und Fahrrädern und Handkarren besetzt sind, stehen dort Lastwagen, die unterhaltsame Güter anliefern, die meistens unter dem Ladentisch landen. An ganz besonderen Tagen legt sich der faszinierende Duft der Fischfabriken wie ein ungewaschener Lappen über den Ort. Das ist also die nächstgelegene Stadt. Muss ich noch mehr sagen?

Oft genug habe ich mich darüber beklagt, dass ich das schmutzige Ende der Wurst bekommen hatte, denn ich war die Einzige, die arbeitete – sofern ich mich nicht gerade auf einem meiner regelmäßigen Einkaufstrips in unsere kleine Metropole befand. Mair war verantwortlich für den Laden, was größtenteils bedeutete, dass sie an der Kasse stand und auf die leere Straße hinaussah oder mit den zwei, drei Kunden plauderte, die hereinschauten, um etwas zu kaufen, was sie wahrscheinlich gar nicht brauchten. Ich vermute, sie hatten Mitleid mit Mair. Unser gesamtes Angebot befand sich in Dosen, Packungen, Päckchen oder Flaschen, und manche Aufkleber waren in Sprachen verfasst, die nicht mehr in Gebrauch waren, seit König Taksin vor knapp zweihundert Jahren das Land regiert hatte. Es gab nichts Frisches, Exotisches oder Selbstgemachtes und – was noch entscheidender war – nichts, was man in Yai Yems erheblich größerem Laden einen halben Kilometer die Straße hinunter nicht auch bekam.

Als Herbergsvater war Arny für die fünf bescheidenen Bungalows zuständig, die auf ein größtenteils ereignisloses Gewässer hinausblickten, und die fünf reetgedeckten Tische, die wir humorig als »Restaurant« bezeichneten. Wenn man die hektischen Songkran-Feiertage im April mitrechnete, hatten wir in diesem Jahr im Schnitt zwei Übernachtungen und acht Restaurantgäste pro Woche gehabt. Unser momentaner Goldesel – ohne jemanden kränken zu wollen – war eine Ornithologin von der Khon-Kaen-Universität, die unsere abgelegenste Hütte für eine ganze Woche gebucht hatte. Sie studierte das Wanderverhalten der Falken und war nicht auf uns aufmerksam geworden, weil wir einen Fünf-Sterne-Service und luxuriöse Zimmer boten, sondern weil wir so nah an einem Sumpf lagen, der den Falken offenbar gut gefiel. Vermutlich sollte ich mich schämen, weil ich ein derart eindimensionales Bild von Ornithologen habe. Unsere Vogelfreundin hatte nichts Blasses, Kurzsichtiges, Versponnenes oder Mütterliches an sich. Sie war ein thailändischer Indiana-Jones-Typ mit engen Safarishorts, muskulösen Beinen, üppigem Haar und einer gewissen Haltung, die mir imponierte. Ich habe keine Ahnung, wo sie aß oder wie sie ihre Tage verbrachte, da sie schon vor dem Morgengrauen ihr Zimmer verließ und erst im Dunkeln wiederkam. Sie hatte im Voraus bezahlt und bescherte uns die ersten richtigen Einnahmen, seit wir hergezogen waren.

Angesichts solcher Gästezahlen blieb Arny viel Freizeit, und so hatte er sich unten am Wasser aus Strandgut diverse Sportgeräte gebaut. Mit Ölfässern, Autoreifen, Bambusstöcken und großen Steinen. Er jagte Krebse und schwamm, bis die Quallen ihn aus dem Wasser trieben. Es war ein bisschen traurig, ihm zuzusehen, wie er Kokospalmen vom einen Ende des Strands zum anderen rollte, denn wir wussten beide, dass er auf absehbare Zeit an keiner Bodybuilder-Gala mehr teilnehmen würde, wenn überhaupt je wieder. Nach der Schule saßen Teenager – Jungen und Mädchen – in kleinen Gruppen an beiden Enden des Strands, wo Arny kehrtmachte. Sie lächelten und waren freundlich und trieben Small Talk, aber man weiß nicht recht, was man zu jemandem wie Arny sagen soll. Ich hatte so das Gefühl, dass Arny ihnen eher kurios als prominent vorkam.

Opa Jah war dafür verantwortlich, auf der Bambusplattform gegenüber zu sitzen und unsere armselige Ferienanlage zu beaufsichtigen. Hin und wieder mochten ihn vorbeifahrende Lastwagen und Mopeds und andere alte Männer ablenken, die ihm zunickten, auf die er jedoch nicht reagierte. Vor allem aber saß er stundenlang unter dem Baldachin aus Bananenblättern, in einem seiner korallenweißen Unterhemden, und beaufsichtigte … uns. Falls er einen Plan zur einschneidenden Verbesserung unserer Lage schmiedete, so ließ er uns daran nicht teilhaben.