Kapitel 10

»… die Sturmwolken am Horizont waren fast direkt über uns.«

George W. Bush

Washington, D. C., 11. Mai 2001

Arny und ich trafen um zehn vor elf bei der Polizeistation von Pak Nam ein. Seit Langem hatten wir die Vereinbarung, dass er mitkam, wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit wegmusste und nicht zu einem Date ging – drei in den letzten drei Jahren. Er tut so, als hätte er Angst, dass mir der Pick-up geklaut wird, aber ich weiß genau, wenn er nicht mitkäme, würde er die ganze Nacht wach liegen und sich Sorgen um mich machen. Mair ist es gelungen, uns alle auf ganz eigene Weise sonderbar zu machen, aber sie hat uns auch einen tiefen Sinn für Loyalität vermittelt. Wir näherten uns dem Empfangstresen, und ein Sergeant – krumm wie eine Bambuswurzel – saß dahinter auf einem Hocker. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Er wirkte nervös.

»Ich bin …«, setzte ich an, doch er winkte uns durch, ohne ein Wort zu sagen.

Überall waren Polizisten, die ich nicht kannte, und ich dachte schon, der Laden hätte den Besitzer gewechselt, doch dann sah ich, wie Constable Ma Dum aus dem Einsatzraum gelaufen kam. Ich rief ihn.

»Da drinnen«, sagte er und sah sich meinen Bodyguard gleich zweimal an.

Wir betraten einen vollen Raum, in dem nichts passierte. Es war wie nach der ersten Hälfte eines Spiels, das die Mannschaft bisher nur mit Hängen und Würgen überlebt hatte. Einige leise Gespräche endeten, und alle Blicke wendeten sich in unsere Richtung. Ich erkannte die beiden Detectives, die wir im wat Feuang Fa gesehen hatten. Major Mana war da und Chompu und ein Dutzend Uniformierte, von denen ich die meisten nicht kannte.

»Nun, das ist eine interessante Wendung der Ereignisse«, sagte der größere der beiden Detectives. Seine Haare waren starr und stachlig wie die Borsten einer Flaschenbürste, und sein Gesicht war welk wie die Haut einer Longanfrucht. Auch sein Partner sah schlecht aus, schien aber zu glauben, er käme mit engen Jeans und schwarzem T-Shirt davon, in die Hose gestopft. Kam er aber nicht. Beide Männer starrten Arny an, der an der Tür stehen geblieben war.

»Offenbar haben Sie es geschafft, Ihren Schmerz wegzubeten, was?«, sagte der Cop mit der Wampe.

Natürlich, sie erkannten ihn von dem Tag, als wir zum ersten Mal im Tempel gewesen waren. Mich hatten sie damals nicht gesehen.

»Was führt Sie her, großer Mann?«, fragte Longanhaut.

»Er gehört zu mir«, sagte ich, trat den beiden Detectives entgegen und entbot ihnen meinen unterwürfigsten wai. Keiner der beiden machte sich die Mühe, entsprechend zu reagieren.

»Das ist die Reporterin«, erklärte Mana ihnen. Chompu stand hinter ihm, mit starrem Blick auf meinen Bruder.

»Interessant«, sagte der Detective. »Was für ein Zufall. Der Titan hier taucht am Tag nach dem Mord im wat Feuang Fa auf, um irgendeinen imaginären Verlust zu betrauern, und seine Freundin mischt sich rein zufällig in einen Fall ein, von dem kein anderer Journalist im Land etwas weiß.«

»Nicht ganz astrein«, sagte der Wanst. »Ich würde ja gern wissen, wie Sie beide überhaupt auf den Tempel gekommen sind.«

»Na schön.« Ich nickte. »Dann machen wir es uns erst mal bequem, ja?«

Ich warf mich dem heimischen Team an die Brust. Es war einer dieser Momente, in denen es galt, ja nichts Falsches zu sagen. Ich brauchte Zeit, um mir eine Geschichte einfallen zu lassen, die das ohnehin fragile Ansehen der Polizei von Pak Nam nicht weiter schädigte, aber weder mich noch Arny verdächtig machte. Ich setzte mich auf die niedrige Fensterbank und verschränkte die Arme.

»Wir waren im Tempel von Feuang Fa«, sagte ich, »weil ich einen Anruf bekommen hatte, dass dort jemand ermordet worden war.«

»Von wem?«, fragte Longanhaut.

»Leider steht es mir nicht frei, meine Quellen zu nennen.«

»Sie wollen uns also erzählen, dass irgendjemand rein zufällig Ihre Nummer hatte, wusste, dass Sie hier in der Gegend wohnen, und Sie willkürlich ausgesucht hat, um Ihnen diese Information zukommen zu lassen?«

»Nein, das war nicht willkürlich. Ich bin vor neun Monaten hergezogen und damals von Pontius zu Pilatus gelaufen, habe meine Visitenkarten verteilt und überall erklärt, dass ich für jegliche Informationen zu Schwerverbrechen im Distrikt bezahlen würde. Es war die erste Knospe, die nach der Aussaat ihr Köpfchen aus dem Boden streckte. Was meinen … unseren Besuch im Tempel angeht, so hatte sich mein Freund, der in Wahrheit mein Bruder ist, bereit erklärt, mich dorthin zu fahren, trotz des Umstands, dass er seinen geliebten Hund – John – betrauerte, der am Morgen vergiftet worden war. Arny ist ein sensibler Mensch, und die Fahrt war schlicht zu viel für ihn. Sein Bedürfnis nach Trost war ehrlich. Ich dagegen bin heimlich ausgestiegen, um nach Zeugen zu suchen. Da der Tatort nicht abgeriegelt war, schien es mir nur rechtens.«

Ich freute mich, dass die Kosten für meinen MA-Kursus und die verlorenen Wochenenden nicht völlig vergebens gewesen waren. Zumindest hatte meine Analyse George W.’s rhetorischer Künste mich gelehrt, dass eine aufrichtige Miene und selbstsichere Haltung genügten, um sein Publikum von dem Umstand abzulenken, dass man Unsinn erzählte.

»Was mich zum Fotoapparat führt«, sagte ich. »Es mag schwer zu glauben sein, aber da war ein kleiner Hund namens Reisbällchen, der die Angewohnheit hatte …«

»Okay«, sagte Longanhaut, »wir kennen die Hundegeschichte. Wir müssen nur wissen, ob Sie die Fotos kopiert haben.«

»Wie können Sie es wagen?«, sagte ich mit überbordender Entrüstung in der Stimme. Es beschämte mich, wie schnell die Täuschung aus meinem Mund gekommen war. Im Hintergrund sah ich, wie Arny die Augen verdrehte.

»Zugegeben, als ich die Kamera fand, habe ich versucht, sie anzustellen«, sagte ich. »Ich meine, sie hätte ja auch jemandem vom Tempel gehören können. Aber der Hund hatte sie ziemlich zugerichtet, und das Display funktionierte nicht.«

»Sie haben nicht daran gedacht, die Speicherkarte rauszunehmen?«, fragte der Wanst.

»Kameras haben Speicherkarten?«, fragte ich gespielt unwissend und seufzte. »Ich dachte, das gilt nur für Computer. Was denen wohl als Nächstes einfällt? Warum fragen Sie? Konnten Sie die Bilder noch nicht öffnen?«

Ich hatte nicht mehr so viele betretene Blicke gesehen, seit uns der Chemielehrer in der Schule mit der Frage kam, wer die Stinkbombe ins Lehrerzimmer geworfen hatte. Ich war in einem geometrischen Netz aus Blickkontakten gefangen. Schließlich nickte der große Detective Mana zu.

»Erstens«, sagte der Major. »Weder das, was Sie in der letzten Woche gehört haben, noch das, was Sie heute Abend hören werden, ist für eine Veröffentlichung geeignet. Wenn Sie irgendetwas drucken, bevor wir dafür bereit sind, lasse ich Sie verhaften.« Er machte eine Pause, aber ich reagierte nicht. »Wir haben Sie herbestellt, weil … die Kamera weg ist.«

»Weg?«

»Gestohlen.«

Die Polizei war immer für einen kleinen Scherz gut.

»Aus dem Polizeirevier?«

»Nein«, sagte er grimmig. »Heute Nachmittag habe ich sie von Sergeant Phoom mit dem Motorrad zum Revier nach Lang Suan bringen lassen. Er hatte einen Unfall.«

»Das war kein Unfall«, sagte Chompu.

»Lieutenant! Still! Wir wissen es nicht sicher. Es könnte ein Unfall gewesen sein.«

»Geht es dem Sergeant gut?«, fragte ich.

»Er liegt im Krankenhaus von Pak Nam«, sagte Chompu. »Ein Auto hat ihn von der Straße gedrängt. Er ist mit schweren Schürfungen davongekommen und war besinnungslos. Ein Passant hat den Notarzt gerufen, und das Krankenhaus hat sich dann bei uns gemeldet. Als wir dort ankamen, war der Passant weg und die Kamera auch.«

»Technisch gesehen, könnte es Straßenraub gewesen sein«, sagte Longanhaut. »Aber das ist unwahrscheinlich. Es gibt leichtere Opfer als einen Polizeibeamten in Uniform. Deshalb müssen wir wissen, wem Sie von der Kamera erzählt haben.«

»Wem ich …?«

Darüber musste ich nachdenken. Wenn sie Arny fragten, würde er es ihnen auch ohne jede Androhung von Daumenschrauben sagen.

»Nur ich und mein Bruder wussten davon«, erklärte ich.

»Sie haben niemandem im Tempel davon erzählt?«

»Ich habe niemanden getroffen, abgesehen von Abt Kem.«

»Haben Sie es ihm erzählt?«

»Äh, nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja, ich bin mir sicher. Ich habe mich von ihm verabschiedet, habe meine Schuhe gesucht und bin den Hunden hinter die Hütte gefolgt.«

»Was ist mit der Nonne?«

»Die war nicht da.«

»Aber sie könnte Sie gesehen haben. Sie könnte woanders gewesen sein.«

Ich sah mich im Zimmer um. Einige der Männer wendeten sich verlegen ab.

»Ist die Nonne …?«, begann ich.

»Darum müssen Sie sich keine Sorgen machen«, sagte Mana. Ich merkte, dass es ihn beunruhigte, in seinem eigenen Revier derart unterlegen zu sein. Er war zum Ordnungsdienst degradiert. Ich wollte mir die Nonne nicht als Tatverdächtige vorstellen, also lenkte ich das Thema wieder auf den Unfall.

»Ist jemand bei Sergeant Phoom?«, fragte ich.

»Wir haben einen Mann abgestellt«, sagte Chompu.

»Gab es da noch andere Zeugen, abgesehen von der Person, die angerufen hat?«, fragte ich.

»Es ist an einer Stelle auf dem Weg nach Lang Suan passiert, wo die Straße einen Bogen um den Fluss macht«, erklärte mir Chompu. »Da gibt es keine Häuser, und die Straße ist am frühen Nachmittag kaum befahren.«

Der perfekte Ort zur perfekten Zeit.

»Okay, angenommen, ich lüge nicht – und ich habe es wirklich niemandem erzählt«, sagte ich, »woher wusste der Täter dann, dass Phoom mit der Kamera unterwegs war? Hatte der Sergeant einen Verdacht?«

»Er ist noch nicht wieder bei Bewusstsein«, sagte Mana. »Aber wir haben Sie eigentlich nicht zu einem Interview eingeladen. Wir möchten nur, dass Sie unsere Fragen beantworten und die Ermittlungen uns überlassen.«

»Und dabei dachte ich, ich hätte Ihnen geholfen«, sagte ich.

»Haben Sie auch«, sagte der Wanst. »Haben Sie sich zufällig die Marke der Kamera gemerkt?«

»Ja.«

Er nahm einen Zettel aus seinem Ordner.

»Wissen Sie noch, ob es eine Nikon DSLR D3555 war?«

Irgendwas ging da vor zwischen Bangkok und unserem Major Mana. Ihre Blicke waren wie Eiszapfen, die kreuz und quer durchs Zimmer flogen. Ich staunte, dass die Polizei mich nach der Marke der Kamera fragen musste. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Zahlen und Buchstaben.

»Das ist die Typenbezeichnung, die ich mir aufgeschrieben hatte«, erklärte ich.

»Sind Sie sicher?«

Ich wünschte, er würde aufhören, mich zu fragen, ob ich sicher war. Wenn ich nicht sicher wäre, würde ich doch nichts sagen, oder?

»Ja. Wieso?«

»Weil nach Aussage unserer Freunde aus Bangkok hier«, Mana lächelte, »die Typenbezeichnung, die Sie und ich notiert haben, falsch ist.«

»Wir haben nicht gesagt, dass sie falsch ist«, sagte Longanhaut. »Wir haben nur gesagt, dass im Nikon-Katalog eine solche Kamera nicht gelistet ist. Wir müssten uns an die Firma wenden, damit die mal nachsehen. Vielleicht wurde die Reihe eingestellt.«

»Und Sie sind sicher, dass Sie die Bilder nicht kopiert haben?«, fragte der Wanst.

Hätte ich doch nur eine Machete dabei …

»Sir«, sagte ich ernst, »nicht alle Reporter sind Rebellen. Ich habe für eine verantwortungsvolle Zeitung geschrieben, und dort hat man uns Moral und Anstand gelehrt. Mein Großvater war vierzig Jahre lang bei der Royal Thai Police. Er hat mir den Unterschied zwischen legal und illegal beigebracht.« Ich sah, dass Arny vor die Tür ging. »Meine Mutter ist eine gläubige Frau. Sie hat uns den Unterschied zwischen falsch und richtig gezeigt. Bitte kränken Sie mich nicht, indem Sie andeuten, ich würde etwas heimlich tun.«

Clever, oder? Ich habe nicht wirklich Nein gesagt.

»Dann wäre das alles«, sagte er. »Es könnte sein, dass wir uns noch mal an Sie wenden müssen.«

Ich durfte gehen. Das Meeting war beendet. Die Cops und Detectives zogen sich nach Lang Suan zurück, und ich hörte, wie Manas frisierter Geländewagen grollend vom Parkplatz rollte. Ich wusste nicht, wo Arny geblieben war. Vermutlich saß er im Tempel gegenüber und schmollte. Lügen lasteten schwer auf ihm, selbst wenn sie von jemand anderem kamen. Mein Lieutenant hatte mir gesagt, ich sollte mich in fünf Minuten mit ihm drüben in seinem Büro treffen, und ich saß bereits auf seiner Seite vom Schreibtisch und freute mich an der Ordnung, als er hereinkam. Er hatte zwei verdächtig nicht dampfende Becher dabei und stellte einen vor mir ab. Ich warf einen Blick hinein und sah den Fleck am Boden.

»Wasser?«, fragte ich.

»Wodka Tonic.«

»Hier unten gibt es Tonic?«

»Tesco. Bei Tesco kriegt man alles.«

Meine gesamte Familie hatte an der Eröffnung des Tesco-Lotus-Markts draußen am Highway teilgenommen. Es war das Größte, was in der Provinz je passiert war, seit … nein. Es war das Größte, was in der Provinz je passiert war. Unser eigener Superstore und das erste Mal, dass man Frischkäse und Wein und vietnamesische Chez-Guevara-T-Shirts für vierzig Baht bekommen konnte. Sie hatten Öl aus Palmen unserer Region, das allerdings über Bangkok zu uns kam und im Angebot zwanzig Baht pro Flasche kostete, billiger, als wir es selbst herstellen konnten. Sie hatten Schokolade aus der Schweiz und Hautaufheller aus Malaysia. Nur konnten wir am Eröffnungstag leider nicht rein, weil da so viele Leute waren, dass kein Mensch rein- oder rauskam. Wir schafften es bis auf vier Meter an die Tür heran, und Arny hob mich auf seine Schultern, sodass ich das Meer der Köpfe vor mir sehen konnte. Doch es war ein stehendes Gewässer, und ich möchte bezweifeln, dass irgendwer von diesen Leuten es geschafft hat, bevor die Woche um war.

Doch zurück aufs Polizeirevier.

»Sollten wir wirklich im Dienst Wodka Tonic trinken?«, fragte ich.

»Es ist fast Mitternacht, und man hat mich aus einer sehr viel versprechenden Soiree geholt. Da hab ich was gut. Also?«

»Also?«

Wir nippten an unseren Drinks. Das Tonicwater belästigte den Wodka kaum.

»Ihr Bruder?«, sagte er.

»Oho. Nein. Denken Sie nicht mal im …«

»Er sieht mir nicht hetero aus.«

»Er ist weder das eine noch das andere.«

»Er ist hinreißend.«

»Vergessen Sie es.«

»Ich werde Ihren Einwand beherzigen, aber es wäre möglich, dass ich ihn gelegentlich in meine Fantasien einbaue, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Nur zu.«

Wieder tranken wir.

»Sie und ich, wir beide sollten uns verabreden«, sagte er.

»Wozu?«

»Um uns Siewissenschonwas anzusehen.«

»Nein, ich weiß nicht, was.«

»Bestimmt wissen Sie es. Sie möchten doch nicht, dass ich es laut ausspreche, oder?«

»Haben Sie vorhin nicht zugehört?«

»Die Chiang Mai Mail hat Sie Moral gelehrt, Opa hat Ihnen das Gesetz beigebracht, und Mama hat Ihnen gezeigt, wie man sich moralisch korrekt verhält. Was sagen Sie nun?«

»Und wieso ist es bei Ihnen nicht angekommen?«

»Ihr Opa war vierzig Jahre bei der Verkehrsstaffel. Ihre Mutter hat zum Auffrischen einen dreiwöchigen Kurs in Buddhismus belegt, und die Moral der Tageszeitungen …«

Langsam machte mir der Mann Sorgen.

»Haben Sie auch eine Kamera in meinem Badezimmer? Sie wissen rein gar nichts, glauben Sie mir.«

»Ich weiß, dass Sie eine Kopie von dem gemacht haben, was auf der Speicherkarte der Kamera war.«

»Und woher wollen Sie das wissen?«

»Weil es genau das ist, was ich getan hätte. Und wir beide sind uns ganz ähnlich.«

»Wir sind beide im Grunde Mädchen?«

Er zögerte vor seinem nächsten Schluck. Ich fragte mich, ob ich ihn zwischen die Beine getroffen hatte.

»Wir haben beide mehr drauf, als uns die Leute zutrauen«, sagte er.

Er schüttelte meine watteweiche Attacke ab, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Wenn Sie nicht wollen, dass Ihre Karriere in der Jauche endet«, fuhr er fort, »brauchen Sie hier im Revier jemanden, der Sie mit Informationen versorgt. Und ich brauche Ihre Unterstützung, damit ich hier mehr als nur ein hübsches Gesicht bin. Es wäre ein simpler, professioneller Deal, auf freundschaftlicher Basis.«

Ich kippte den Rest von meinem Drink hinunter. Mein Mund war zu klein dafür, doch war ich entschlossen, mich nicht vor seinen Augen zu verschlucken.

»Ich nehme an, Sie wissen, wo ich wohne«, sagte ich.

Er lächelte.

»Morgen früh um zehn«, sagte er.

Ich verbrachte das, was an Schlafenszeit von diesem Morgen übrig war, in einem Alptraum von wahrlich epischen Ausmaßen. Die Farben waren so grell, dass ich keine Dialoge hörte. Da waren Nonnen und Mönche und lärmende Bougainvilleen. Yuppies in gelben Hemden saugten Staub. Lila Köpfe in Plastikbeuteln baumelten an Seilen. Chompu tanzte. John, die tote Hündin, saute alles mit B-Movie-rotem Blut ein. Es war einer von diesen Träumen, für die man eine Skibrille brauchte, um durchzukommen, weil man sonst schneeblind aufwachte. Gegen sechs Uhr kam ich zu mir, erschöpfter als vorher. Der Sonnenaufgang war knallrosa.

Offenbar sah ich das Leben nach wie vor durch diesen teuren Fotoapparat, als ich in das kleine Krankenhaus von Pak Nam kam. Die Ambulanz leuchtete in allen Farben: blasses Gelb von Hepatitis, Hell- und Dunkelrot von frischen Motorradunfällen, Lilablau von Fußballprellungen, helles Grün von Lebensmittelvergiftungen und verschiedene Rosatöne der Schwangeren, die ganze Farbpalette bis hin zur fahlen Blässe der Anämie. Ich saß da und schützte meine Augen mit den Händen, während ich auf die Krankenschwester wartete, die mich zu Sergeant Phoom bringen sollte, und ich überlegte logisch: Wenn tatsächlich der Mörder den Sergeant über den Haufen gefahren und die Kamera gestohlen hatte, dann hatte er jetzt, was er wollte, und keinen Grund mehr hierzubleiben. Irgendjemand war plötzlich abgereist. Ich nahm mein Handy und rief die Hotels an, die ich ein paar Tage zuvor besucht hatte. Meine Verdächtigen in Lang Suan waren noch da. Also versuchte ich es bei den Ferienanlagen. Im Tiwa Resort ging keiner ran. Ich sprach mit der Frau vom 69 und erfuhr, dass die koreanische Dame am Vortag abgereist war. Ein Trupp koreanischer Elektriker war eingezogen und hatte sein Mittagsgelage im Restaurant abgehalten, sodass es da möglicherweise zu einem Konflikt gekommen sein mochte. Das ließ sich schwer sagen. Dr. Jiradet sollte an diesem Morgen ausziehen, und die Frau am Empfang deutete außerdem an, sie glaube, das junge Mädchen sei unter Umständen bei dem Deutschen eingezogen.

Sergeant Phoom lag in einem kleinen Krankenzimmer mit vier Betten. In den anderen Betten lagen Leute, die aussahen, als sei mit ihnen absolut alles in Ordnung. Sie plauderten mit sieben oder acht Dörflern, die im Schneidersitz am Boden hockten und aßen. Nur dem Sergeant schien es schlecht zu gehen, und ich überlegte, ob ich die lustigen Schlemmer bitten sollte, etwas leiser zu sein. Ein junger Constable, den ich nicht kannte, saß neben ihm und las eine Broschüre über Nierenerkrankungen. Er blickte auf, als ich ans Bett trat.

»Wie geht es ihm?«, fragte ich.

Ich hatte einen Beutel mit Mangostinfrüchten dabei, den ich auf den Nachttisch legte. Es würde wohl noch etwas dauern, bis Phoom in der Lage wäre, die dicke Schale abzuschälen. Beide Augen waren dick und lila, und eine rasierte Stelle am Kopf umrahmte den zehn Zentimeter langen Tausendfüßer einer Narbe. Sein Mund war geschlossen und blutverkrustet. Arme und Beine waren bandagiert wie bei einem Bombenopfer im Comic.

»Es geht ihm gut«, sagte der Constable.

Er war ein hübscher Junge, nicht ruppig genug, um zu einem knorrigen, alten Detective heranzuwachsen.

»Wirklich?«

»Eben war er noch wach.«

»Hat er was gesagt?«

»Nichts, was einen Sinn ergeben hätte. Wer sind Sie eigentlich?«

Ich wollte mich schon auf eine Lüge einlassen, falls man ihm gesagt hatte, dass er keine Presse zulassen sollte, aber in unserem kleinen Utopia fiel das sowieso wieder auf mich zurück.

»Mein Name ist Jimm Juree. Ich …«

»Sie sind die Reporterin.«

»Ich kenne den Sergeant. Ich dachte …«

»Ich wollte immer schon schreiben.«

Noch vor neun Monaten wäre meine Reaktion auf einen solchen Satz gewesen: »Dann hättest du im Kindergarten besser aufpassen müssen« oder: »Zum Glück ist die Aufnahmeprüfung bei der Polizei bebildert«. Vermutlich hätte ich es nicht wirklich laut gesagt, aber bestimmt hätte ich es gedacht. Irgendwas jedoch passierte mit meinem sarkastischen Talent, und das gefiel mir überhaupt nicht. Ich merkte, dass es mich in seinem Namen traurig stimmte, dass er Polizist geworden war und seine Chance vergeben hatte, für den South Eastern Write Award nominiert zu werden.

»Es ist nie zu spät, damit anzufangen«, sagte ich.

Sergeant Phoom hustete, und der Constable hielt dem Älteren eine kleine Flasche Red Bull an die blutigen Lippen.

»Hat er das verschrieben bekommen?«, fragte ich.

»Er schwört darauf.«

Hauptsache, es hilft, dachte ich. Warum nicht ein Placebo aus Saccharose und Glukose und Koffein? Der Sergeant drehte seinen blutigen Kopf langsam zu meiner Seite vom Bett. Es war, als drehte sich ein Ferkel am Spieß.

»Nong Jimm«, sagte er. Ich musste mich anstrengen, um ihn zu verstehen.

»Ist dieses Zimmer nicht etwas zu laut für Sie?«, fragte ich.

»So ist es immer«, sagte er.

Ich sah den Constable an, suchte nach einer Erklärung.

»Seine Familie«, sagte er und nickte zu den Leuten am Boden. Einige winkten mir. Ich winkte zurück. Ich zog mir einen Stuhl heran und setzte mich ganz nah an den Sergeant.

»Haben Sie das Auto gesehen, das Sie angefahren hat?«, fragte ich.

»Das habe ich alles schon gefragt«, sagte der Constable.

»Der arme Mann hat sich den Kopf gestoßen«, erinnerte ich ihn. »Es lohnt sich immer, zweimal zu fragen, um sicherzugehen, dass die Antwort auch dieselbe ist. Sergeant?«

»Ich habe es ganz kurz im Rückspiegel gesehen«, sagte er. »Da hatte es mich schon fast erwischt. Schwarzer Benz. Neues Modell.«

Ich spürte dieses Flattern in der Magengrube und blickte zum Constable auf.

»Das hat er vorhin auch gesagt«, nickte er.

»Haben Sie Ihr Funkgerät dabei?«, fragte ich.

Er klopfte hinten an seinen Gürtel.

»Okay. Rufen Sie das Revier. Fragen Sie, ob schon jemand im Tiwa Resort war. Wenn nicht, sagen Sie, da wohnt jemand von außerhalb in Zimmer sieben. Er fährt einen schwarzen Mercedes.«

Der junge Mann wirkte unsicher.

»Mach ruhig«, sagte der Sergeant.

Der Constable nahm sein Funkgerät und gab die Nachricht weiter. Alles war still, während er lauschte. Ich lauschte. Die drei Patienten und die Familie auf dem Fußboden lauschten. Der Polizist nickte, als die Antwort kam, und stellte das Gerät aus.

»Die schicken gleich ein paar Leute rüber«, sagte er.

Es löste nicht gerade Jubel aus, eher so ein einstimmiges »Hmmm«. Es lässt sich kaum beschreiben, dieses Gefühl, das sich einstellt, wenn man glaubt, man hätte etwas zur Aufklärung eines Verbrechens beigetragen. Ich wäre vielleicht selbst zur Polizei gegangen, wenn ich dann nicht den Rest meiner beruflichen Laufbahn Klos geputzt und Tee gekocht hätte. Die geschlechtliche Gleichberechtigung hat bei der Polizei noch keine rechte Heimat gefunden. Als Journalistin durfte ich wenigstens Fragen stellen. Ich beugte mich wieder zum Sergeant hinab.

»Haben Sie den Fahrer gesehen?«, fragte ich.

»Die Scheiben waren getönt«, sagte er. »Zu sehen war nur ein Schatten. Kleiner Mann. Es ging alles so schnell. Ich fiel hin. Einen Moment war ich benommen. Ich habe mich noch umgesehen, und dann war ich weg.«

Irgendetwas störte mich.

»Hatten Sie Ihren Helm auf?«, fragte ich ihn.

Er lachte, und ein Duft von Zahnarztpraxis, Blut und Antiseptikum schlug mir ins Gesicht.

»Es würde mich meinen Job kosten«, sagte er. »Man muss nur im Sattel sitzen, geparkt, ohne Helm, und schon ist man seine Schulterstücke los.«

»Und saß er auch fest?«

»Bombenfest.«

»Und woher haben Sie dann den Schädelbruch?«

Langsam, unter Schmerzen, hob er die Hand und strich sich über den Kopf. »Das habe ich mich auch schon gefragt«, sagte er.

Ich fand das Büro des Krankenhausleiters Dr. Fahlap. Er war ein kleiner Mann chinesischer Abstammung, Ende fünfzig. Er hatte das vergessenswerteste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Wenn ich ihn beschreiben sollte, wäre ich dazu nicht in der Lage. Ich fragte ihn, ob Sergeant Phooms Kopfverletzung daher rühren konnte, dass er mit dem Kopf auf die Straße geschlagen war. Fahlap war ein Mann, der Fragen einiges an Überlegung widmete, und man sah, wie die Antworten in seinen Augen heranwuchsen.

»Nein«, sagte er schließlich. »Es war ein Schlag mit einem stumpfen Gegenstand. Vielleicht ein Montiereisen.«

Genau das war meine Befürchtung gewesen. Auf der einsamen Straße hatte der Mörder dem Sergeant den Helm abgenommen und ihm eins über den Schädel gezogen. Er wollte, dass der Polizist starb. Vielleicht fürchtete er, der Mann könnte ihn identifizieren. Warum aber lebte der Sergeant dann noch? Warum nur dieser eine Schlag? Natürlich. Der Mörder wurde gestört. Das musste es sein. Wir mussten herausfinden, wer den Unfall gemeldet hatte. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass der Zeuge den Mörder gesehen hatte.

Schon wollte ich dem Doktor danken und wieder nach Hause fahren, als mir noch etwas einfiel.

»Doktor, wissen Sie etwas über einen Krankenhausberater, der im 69 Resort wohnt?«

Kurze Pause.

»Welches Krankenhaus berät er denn?«

»Ihres«, sagte ich.

»Wissen Sie, wie er heißt?«

»Dr. Jiradet.«

»Den Namen habe ich noch nie gehört.«

Ich war um Viertel nach zehn zu Hause. Am Betontisch draußen vor dem Laden saß mein Lieutenant Chompu mit Ed, dem Rasenmähermann. Die beiden schienen sich prima zu verstehen. Das hatte eine seltsame Wirkung auf mich. Es war nicht wirklich Eifersucht. Keiner von beiden gehörte zu mir, und so würde es sicher auch bleiben. Mich nervte eher, dass sie so schnell eine Allianz schmiedeten. Ich ignorierte beide, als ich aus dem Pick-up kletterte und in den Laden ging.

»Nong Jimm!«, rief Chompu. »Reden Sie nicht mehr mit mir?«

»Ich wollte nicht stören«, sagte ich und sah Ed, den Rasenmähermann, bewusst nicht an.

»Wann ist Showtime?«, fragte der Polizist.

»Geben Sie mir fünf Minuten.«

Ich ging durch die offene Ladenfront hinein. Von Mair war nichts zu sehen. Ich suchte im Lagerraum und warf einen Blick in den Garten hinterm Haus. Da waren haufenweise Hühner, aber keine Mütter. Ich war schon wieder auf dem Rückweg, als mir zwei nackte Füße auffielen, die unter dem Tresen hervorlugten. Als ich einen Ausfallschritt machte, bot sich mir ein Ausblick auf den Hintern meiner Mutter.

»Mair?«

»Schscht.«

Ich ging zum Tresen und kniete mich hin.

»Mair, was machst du unterm Tresen?«

»Da draußen sitzt ein Polizist.«

»Ich weiß.«

»Es ist alles vorbei. Das Spiel ist aus.«

Am liebsten hätte ich laut losgelacht, aber mir schien, dieser spezielle Wahnsinn hatte Methode.

»Mair, was hast du angestellt?«

Meine Mutter zitterte wie eine Ratte beim Laborgespräch. Ich langte unter den Tresen und umarmte so viel von ihr wie möglich.

»Mair, der Polizist ist meinetwegen hier. Er ist ein Freund. Wir arbeiten gemeinsam an einem Fall. Du musst dir keine Sorgen machen.«

Langsam, aber sicher ließ das Zittern nach, und ich hörte sie ein paar Mal tief durchatmen, als sie sich erholte, dann ein Pochen. Sie klopfte mit den Knöcheln an die Unterseite des Tresens.

»Ich sollte Ed mal reinholen«, sagte sie.

»Was?«

Sie schob sich rückwärts an mir vorbei und kam steif auf die Beine. Dann klopfte sie oben an den Tresen.

»Die sind überall. Kleine Mistviecher.«

»Wer?«

»Termiten.«

Da musste ich wirklich lachen.

»Mair, das da unten hatte nichts mit Termiten zu tun.«

»Sei nicht albern, Kind! Was sollte ich denn sonst da auf dem Boden machen?«

»Dich verstecken?«

»Du und deine blühende Fantasie. Du solltest Romane schreiben, nicht über anderer Leute Fehlbarkeit.«

Ich sah, wie sie mit der Faust auf das Plastik der Tresenplatte schlug, und wusste, dass es Zeit wurde, mal ein Wörtchen mit dem Markisendetektiv zu reden. Aber eins nach dem anderen. Ich ging hinaus, um meinen Lieutenant einzusammeln, und wollte Ed eigentlich ignorieren, doch die Bohnenstange rief nach mir.

»Koon Jimm?«

Ich fürchtete, er würde etwas Peinliches rufen, also ließ ich Chompu allein über den Kies der Auffahrt tänzeln und kehrte lässig um.

»Ja?«

»Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte er. Er kam hoch und ragte wie eine Palme über mir auf.

»Ich brauche keinen Rasenmäher«, sagte ich. Innerlich nahm ich ordentlich Anlauf und trat mir in den Hintern. Es gab keinen Grund, grob zu ihm zu sein, aber gesagt war gesagt, und ich konnte es nicht zurücknehmen.

»Es geht nicht um den Rasen.«

»Wie Sie sehen, bin ich ziemlich beschäftigt.«

Er hielt seine Kappe vor der Brust wie ein Landarbeiter, der mit der Frau des Premierministers spricht. Ich blickte auf und sah das Funkeln, mit dem er auf mich heruntersah, verwoben mit den Sonnenstrahlen. Es war das erste Mal, dass ich ihm in die Augen schaute. Sein Oberlippenbärtchen stand ihm nicht, und die Haare waren entweder ungekämmt oder unkämmbar. Doch seine Augen waren wie geschmolzene, dunkle Schokolade. Ich wünschte, ich hätte ihm nicht in die Augen geblickt.

»Ich kann warten, bis Sie Zeit haben«, sagte er.

»Es könnte etwas dauern.«

»Ich kann warten.«

»Müssen Sie nicht irgendwo dringend Unkraut jäten oder so?«

Schon jetzt hatte ich Striemen auf den Backen meines mentalen Hinterteils.

»Das Unkraut ist auch morgen noch da«, sagte er und lächelte. Und als wären die Augen nicht schon schlimm genug, dieses Lächeln …

»Wie Sie wollen«, sagte ich. »Ich bin so weit, wenn ich so weit bin.«

Ich ließ ihn dort stehen. Er war wirklich viel zu groß, als dass ich ihn ernst nehmen konnte, und von entnervender Beharrlichkeit. Ich holte Chompu ab, und wir gingen zu meiner Hütte. Sofern es nicht wieder einen Stromausfall gegeben hatte – mittlerweile täglich, eine konzertierte Erziehungsmaßnahme der Thailändischen Elektrizitätswerke, um uns zu zeigen, wie das Leben in der Steinzeit war –, hätte mein Notebook voll aufgeladen sein sollen. Für den Fall, dass dem nicht so war, hatte Chompu sein eigenes mitgebracht. Ein süßes, kleines Dell in Rotbraun. Wir saßen auf der Veranda mit meinem Notebook auf dem Rohrtisch und uns auf Rohrstühlen, die quietschten und knarrten wie Sadomaso-Mäuse. Ich bot ihm eine Dose Bier aus meinem kleinen Kühlschrank an, aber er sagte, er müsse auf sein Gewicht achten, und nahm lieber ein Glas Eiswasser.

Während wir darauf warteten, dass der Computer losbrodelte, erzählte ich ihm von meinem Krankenhausbesuch und dem Benz. Es überraschte mich überhaupt nicht, dass er das alles schon wusste. Er hatte den Fortgang der Ereignisse am Funk in seinem Wagen verfolgt und dem Krankenhaus nach mir einen Besuch abgestattet. Der Fahrer des Benz war schon lange abgereist, und die Polizei prüfte den Namen und das Kennzeichen des Autos, das der Mann angegeben hatte. Chompu sagte, er würde meine Theorie zu Sergeant Phooms Verletzungen weiterreichen.

Ich steckte meinen USB-Stick rein, auf den ich die Fotos bei Home Art kopiert hatte. Als die Aufforderung »Datei wählen« kam, zögerte ich, sie anzuklicken. Die Bilder lasteten noch immer schwer auf meinem Herzen, das ansonsten leicht war.

»Das ist nichts für schwache Nerven«, erklärte ich ihm.

»Ich denke, ich habe schon Schlimmeres gesehen«, sagte er.

Das bezweifelte ich. Ich klickte darauf, und ein grausames Foto nach dem anderen erschien auf dem Bildschirm. Während der ganzen Show hielt er die Hand vor den Mund, doch die Pupillen seiner Augen zuckten von einer Ecke des Bildschirms in die andere. Ich hatte das alles schon hinter mir, das Ranzoomen, das Markieren, das Scharfstellen, und am Ende doch immer wieder nur den brutalen Mord an einem Abt gesehen.

»Noch mal«, sagte Chompu.

Er zog seinen Stuhl näher an den Bildschirm, sodass seine Nase kaum ein Kräuseln vom Blutbad entfernt war. Er sah sich die ganze Show noch einmal an – von vorn bis hinten. Als der dürre Hund auf dem letzten Bild die Zähne fletschte, stand Chompu auf und ließ seine Nackenwirbel knacken, bevor er in meine Hütte ging und sich ein Bier holte.

»Verdammt«, sagte er. »Das war schön.«

Das war bei Weitem der gruseligste Augenblick des ganzen Morgens.

»Schön?«, sagte ich. »Schön? Wie krank sind Sie, dass Sie darin was Schönes sehen?«

Er nahm einen sehr männlichen Schluck Bier und betupfte seine Lippen mit einem Taschentuch.

»Was soll ich denn Ihrer Ansicht nach sagen?«, fragte er. »Dass es grausam und blutrünstig und vorsätzlich und krank ist?«

»Ja.«

»Na, selbstverständlich ›ja‹. Das stimmt alles. Niemand, der noch bei Sinnen ist, würde anders empfinden. Aber haben Sie es denn nicht gesehen? Ist Ihnen die Komposition nicht aufgefallen? Dieser Ausdruck? Der Mord war inszeniert. Es war eine dramatische Montage. Es war eine Tour de Force von Farben und Spektakel.«

Wäre ich in diesem Moment Polizistin gewesen und er der Manager einer heruntergekommenen Ferienanlage, hätte ich ihn gefragt, wo er am Samstagnachmittag gewesen war. Ich fühlte mich direkt unwohl, dort neben ihm zu sitzen.

»Was denken Sie?«, fragte er.

»Ich denke, es ist gut, dass Sie sich die Bilder nicht mit Major Mana und den Detectives aus Bangkok angesehen haben. Sie würden längst in einer Zelle sitzen.«

»Deshalb macht es ja auch so viel mehr Spaß, sie sich mit Ihnen anzusehen. Die anderen hätten nur die Dokumentation eines Mords gesehen. Sie und ich, wir sehen so viel mehr.«

»Ach ja?«

»Sicher. Es ist nicht nur ein Mord. Es ist wie ein Höhepunkt. Es ist ein lautes ›Welt, sieh dir an, was ich getan habe! Sieh, wie poetisch dieser Mord war!‹«

»Poetische Gerechtigkeit?«

»Genau. Es musste alles aufgezeichnet werden, weil es ein Gemälde ist, das der Mörder schon vorher im Kopf hatte. Der Mann oder die Frau hinter der Kamera musste den eigentlichen Mord nur noch mit der künstlerischen Vorstellung in Einklang bringen. Deshalb war es auch so wichtig, den Fotoapparat wiederzubekommen. Er war die Bestätigung dafür, dass der Gerechtigkeit im Zuge der göttlichen Ordnung Genüge getan wurde.«

»Mann oder Frau?«

»Bitte?«

»Sie sagten: ›Der Mann oder die Frau hinter der Kamera musste den eigentlichen Mord nur noch …‹«

»Hm. Hab ich?«

»Das wissen Sie genau. Was haben Sie auf diesen Bildern gesehen, dass Sie glauben, es könnte eine Frau gewesen sein?«

»Nicht, dass es einen Mann ausschließen würde, eher dass es eine Frau mit einschließt … der Handschuh.«

»Es war ein Ofenhandschuh. Ich dachte, er hätte ihn getragen, um etwas Farbe hineinzubringen.«

»Wohingegen ich dachte, er hätte ihn zur Tarnung getragen. Ein enger Handschuh oder gar keiner hätte sofort die Größe der Hand verraten, die Länge der Finger.«

»Das ist alles?«

»Ich weiß nicht. Wäre es eine Videoaufzeichnung, würde ich meinem Bauchgefühl noch mehr vertrauen. Aber da war etwas in der Art und Weise, wie das Messer gehalten wurde, dass damit eher gestochen als gestoßen wurde. Außerdem stand im Bericht der Gerichtsmedizin, dass die Wunden nicht sonderlich tief gingen. Es steckte nicht viel Kraft dahinter.«

»Ergo eine Frau. Ha! Und ich dachte, Sie wären einer von uns.«

»Und ich dachte, nur Schwule wären Mimosen.«

»Stimmt doch auch. Aber wenn sich die Möglichkeit eröffnet, dass der Mörder auch eine Frau sein könnte, bleibt nur eine Verdächtige übrig. Und das gefällt mir nicht.«

»Die Nonne? Sie mögen sie.«

»Ich kenne sie nicht gut genug, um sie zu mögen. Aber ich möchte gern glauben, dass die Zeit hier in der Provinz meine Instinkte nicht völlig ausgelöscht hat.«

»Unterschätzen Sie nicht die Kraft der Liebe.«

»Ach, Schnauze. Ich denke, ich werde der Nonne noch einen kleinen Besuch abstatten müssen. Sie wollen sie doch noch nicht verhaften, oder?«

»Woraufhin denn? Wir haben bisher nichts gesehen, was darauf hindeutet, dass der Mörder auch eine Frau sein könnte, weil wir ja überhaupt noch nichts gesehen haben, stimmt’s?«

»Stimmt.«

»Und das ist das nächste Problem.«

»Was denn?«

»Ich muss eine Möglichkeit finden, diese Bilder in den Fall einzufügen, ohne Sie der Gefahr einer dreijährigen Gefängnisstrafe auszusetzen, weil Sie sich unerlaubt an Beweismitteln in einem Mordfall zu schaffen gemacht haben.«

»Kommen Sie. Als ich mich daran zu schaffen gemacht habe, waren es noch nicht mal Beweismittel.«

»Nichtsdestotrotz haben Sie Polizisten belogen, und zwar … wie viele waren es? Zwölf?«

»Hören Sie sich das Band noch mal an. Nichts dergleichen habe ich getan. Ich habe nur Andeutungen gemacht.«

»Stimmt wohl. Im Grunde sind Sie ein ehrlicher Mensch. Deshalb wusste ich, dass Sie mit zusammengebissenen Zähnen gelogen haben. Aber ich möchte bezweifeln, dass Mana es auch so in Erinnerung hat, und die Detectives aus Bangkok allemal.«

»Wer hätte gedacht, dass die verdammte Kamera verloren geht? Was schlagen Sie vor, wie wir es angehen?«

»Haben Sie einen Drucker?«

»Ja.«

»Lässt der sich zu Ihnen zurückverfolgen?«

Mit jeder Begegnung stieg Chompu in meinem Ansehen und stand doch immer weiter unten auf der Liste der Leute, denen ich vertraute, was ohnehin schon eine sehr kurze Liste war. Ich ließ ihn beim quälend langsamen Farbdrucker zurück und machte mich auf den Weg in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten. Ich hatte den Lieutenant eingeladen, mit uns zu speisen. Irgendetwas Klitzekleines, ganz hinten links im Wandschrank meines Verstands, überlegte, ob Ed wohl noch draußen am Betontisch auf mich wartete, doch bevor ich so weit kam, hörte ich ein Grunzen hinter mir. Ich fuhr herum und sah Opa Jah an einem unserer überdachten Tische sitzen. Er war bekleidet, was mich überraschte. Er trug ein dunkelblaues Mao-Hemd und graue Hosen.

»Du hattest also nicht vor, mich irgendwas zu fragen?«, sagte er barsch.

»Du warst gar nicht da«, erklärte ich. »Wie sollte ich …?«

»Ich fahre für dich durchs halbe Land, und du bedankst dich nicht mal dafür.«

»Du warst schon in Surat?«

Ich muss wohl beeindruckt gewesen sein, denn ich quiekte meine Frage hervor. Diesmal lächelte er definitiv. Ich setzte mich und drückte seine Hand, und er freute sich ein paar Sekunden lang daran, bis er seine Korallenfinger zurück-
zog.

»Keine große Sache«, sagte er.

»Und du hast mit Captain Waew gesprochen?«

»Selbstverständlich.«

»Wunderbar.« Wir hatten es alle versucht. Ich, der Major, der Lieutenant. Er wollte nichts mit uns zu tun haben. »Wie hast du das gemacht?«

»Erzähl ich dir irgendwann mal.«

Ich wusste, dass er es nie tun würde. Langsam sah es danach aus, als müsste sich das Mittagessen selbst kochen.

»Na gut. Ich bin ganz Ohr«, sagte ich.

Er räusperte sich und holte einen kleinen Notizblock aus seiner hinteren Hosentasche. Er warf kaum einen Blick darauf.

»Eine einflussreiche Person …«, begann er – nie ein guter Anfang einer Geschichte, »war Chef einer Bande, die mit diversen schmutzigen Machenschaften zu tun hatte. Waew, damals im Rang eines Lieutenant Colonel, war von einem Helfershelfer des Gangsters angesprochen worden, der ihm unverhohlen eine ansehnliche monatliche Summe bot, wenn er die Bande unbehelligt gewähren ließ. Waew gehörte damals zu den ganz wenigen thailändischen Polizisten, die noch ein Gewissen hatten, und deshalb hat er sich auf das Angebot des Helfershelfers eingelassen, aber gleichzeitig seinen Vorgesetzten darüber informiert. Daraufhin kam es zu umfassenden Ermittlungen gegen die Bande. Obwohl der Halunke seine Finger in allen möglichen Geschäften hatte, wollte die Polizei sich nur auf eine ganz bestimmte Aktivität konzentrieren, um eine wasserdichte Anklage zu bekommen.«

Bei einem Blick über den Tisch sah ich, dass in Opa Jahs Notizbuch gar nichts geschrieben stand, aber er erweckte den Anschein, als würde er daraus einen Bericht vorlesen. Beeindruckend. Wenn ich je vierundsiebzig werde, weiß ich wahrscheinlich nicht mal mehr, an welchem Ende man seine Zahnbürste festhält.

»Da Waew drei Anzeigen wegen Diebstahls bei Autovermietungen hereinbekommen hatte«, fuhr er fort, »und da der Detective durch den Helfershelfer wusste, dass diese Diebstähle eine der lukrativsten Einnahmequellen der Bande waren, beschloss er …«

Ich hob eine Hand.

»Was?«

»Warum Autos von Vermietungen? Wozu der Aufwand, Ausweise zu fälschen und in Kautionen zu investieren, wenn man einfach ein geparktes Auto aufbrechen, es kurzschließen und damit wegfahren könnte?«

Es war eine dumme Frage, aber ich dachte, sie würde Opa Jah gefallen.

»Gutes Argument«, sagte er. Das war bestimmt das erste Kompliment, das ich von ihm bekommen hatte, seit ich in der sechsten Klasse den Neujahrskarten-Malwettbewerb gewonnen hatte. »Aber vielleicht solltest du einfach mal dein Hirn benutzen?« – Ernüchterung. – »Für wie lange mietet man ein Auto? Eine Woche? Zwei? Dadurch hat man zwei Wochen Zeit, die Kennzeichen zu tauschen, die Papiere zu fälschen und das Auto über die Grenze zu bringen. Wenn du ein Privatauto klaust, hast du die Polizei vom ersten Tag an im Nacken.«

Ich lächelte zustimmend. Wo war dieser Opa am Anfang meiner beruflichen Laufbahn gewesen? Ich hätte ihn gut brauchen können.

»Soll ich weiterreden, oder möchtest du mich noch mal unterbrechen?«, fragte er.

»Bitte.«

»Klar war, dass die einflussreiche Person für die Drecksarbeit Hippies rekrutierte. Auf den Inseln haben sich viele Rucksacktouristen herumgetrieben, die da billig lebten und Marihuana rauchten. Die meisten waren natürlich Ausländer. Aber es gab auch den Bodensatz der kommunistischen Bewegung, Thais, die vor der Junta in den Dschungel geflohen waren. Die hatten den Weg zurück in die Gesellschaft nie gefunden. Einige gründeten Kommunen, was junge Leute anlockte. Die meisten waren einfach gegen das Establishment. Manche versuchten sich als Blumenkinder. Es gab da ein paar Farmen hier unten im Süden. – Blissy Travel war das sechste Reisebüro, das der Bande zum Opfer fiel. Danach kam nur noch eine Vermietung unten in Songkla. Autos ohne Chauffeur zu vermieten war hier in der Gegend noch neu, und deshalb hatte man die Liste der Firmen, die Mietwagen anboten, schnell beisammen. Man konnte nicht alle gleichzeitig überwachen, also musste Waew es darauf ankommen lassen. Blissy Travel hatte gemeldet, dass einer ihrer Camper nicht zum vereinbarten Termin wieder abgegeben worden war. Der zweite Bus war zwei Tage früher vermietet worden, ebenfalls von einem – wie der Besitzer es nannte – ›Hippiepärchen‹. Waew gab die Fahrzeugdaten heraus und hatte Glück. Der zweite VW-Bus war am Tag nach der Anmietung in Tha Chana aufgefallen. Der Fahrer und seine Begleiterin wurden wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet. Man hatte sie am Morgen nackt schlafend im VW-Bus angetroffen. – Waew besuchte den Beamten, der die Verhaftung vorgenommen hatte, und sprach mit dem Hippiepärchen. Sie ließen sich auf einen Deal ein. Sie wollten besagte einflussreiche Person belasten und Beweise liefern, wenn man im Gegenzug die Anzeige gegen sie fallen ließ. Waew hat den beiden eine Unterkunft besorgt, was man heute wohl als ›sicheres Haus‹ bezeichnen würde, und die Person wurde verhaftet. Waew war am Ziel, der Fall war geklärt. Sie warteten nur auf den Prozessbeginn. Dann, zwei Tage vor dem Prozess, waren die Zeugen plötzlich verschwunden.«

»Haben sie kalte Füße bekommen?«

»Nach Waews Aussage nicht. Er sagte, es gab Spuren eines Kampfs, und die persönliche Habe und ihr Geld waren auch noch da. Alles, was sie mitgenommen hätten, wenn sie einfach abgehauen wären.«

»Wer wusste von dem ›sicheren Haus‹?«

»Nur Waew und sein Chef.«

»Ah. Dann können wir also davon ausgehen, dass die einflussreiche Person doch noch einen Verbündeten bei der Polizei gefunden hat?«

»Keine Frage. Die Sache wurde fallen gelassen. Waew wurde zum Captain degradiert, und der Major General fuhr plötzlich in einem nagelneuen Saab herum.«

»Und unsere Hippies?«

»Keiner hat sie je wiedergesehen.«

»Dann wäre es also gut möglich, dass es sich bei den beiden, die wir auf Old Mels Grundstück gefunden haben, um die vermissten Zeugen handelt. Die Hippies und die Beweise wurden aus der Welt geschafft. Zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Klingt logisch.«

»Ich vermute, es gibt wohl keine Möglichkeit, die einflussreiche Persönlichkeit aufzutreiben, oder?«

»Das wäre kein Problem.«

»Nicht? Wieso nicht?«

»Sagt dir der Name Sugit Suttirat was?«

Das war nicht der Fall.

»Er war kurz Umweltminister, dann Landwirtschaftsminister in zwei kurzen Regierungen Ende der Achtzigerjahre. Gerade lange genug, um ein Vermögen zu machen. Heute ist er Präsident der Awuso Foundation. Er hat ein großes Haus und ein Büro mitten in Lang Suan.«

Nachdem Opa Jah gegangen war, saß ich da und starrte eine Weile aufs Meer hinaus. Es war silbrig und träge wie Brei. Am Horizont stand eine Wetterwand, ein dunkelblauer Streifen wie eine Front von computeranimierten Orcs, die unser Mina Tirith überfallen wollten. Es half nicht eben, meine Sorge zu beschwichtigen, dass ich allein gegen sie antrat. Die letzte Bogenschützin auf den Zinnen. Es war alles tief im System verankert: Werde reich, egal wie, und nutze das Geld, um Macht zu erlangen und noch reicher zu werden. Und es folgte kein öffentlicher Aufschrei, niemand neidete ihnen den Erfolg. Die ach so idealistischen Mittelklasse-Gelbhemden, die in unserem Parlamentsgebäude Pingpong spielten, würden bestimmt nichts ändern, höchstens die Blumenarrangements am Brunnen.