Kapitel 11

»Ich bin eigentlich kein Mensch, der losgeht und sich hinsetzt und schwer mit seiner Seele ringt.«

George W. Bush

zitiert in Vanity Fair, Oktober 2000

Ich saß auf einem Hocker vor »Maprao Markisen«, dem Laden, der Meng, dem Privatdetektiv, gehörte. Es war erniedrigend. Er hatte einen Klienten. Seine Frau hatte mir den Hocker in den Schatten gestellt und eine kühle Tüte mit dreißigprozentigem Fruchtsaft gegeben, aber von der Straße aus war ich immer noch zu sehen. Seit Opa Jahs Geschichte war ich etwas neben der Rille. Ich hatte völlig vergessen, Mittag zu machen, sodass Chompu nach Pak Nam zurückgefahren war und meine Familie sich mit Instantnudeln mit Dom-Yam-Geschmack und getrockneten Tintenfischen als Beilage begnügen musste. Ich konnte nichts essen. Ich saß da und sah ihnen zu und fragte mich, wieso ich dermaßen erpicht darauf gewesen war, mich ins hässliche 20. Jahrhundert zurückzubeamen. Als ich es nicht mehr ertragen konnte, ihnen dabei zuzusehen, wie sie Fast Food mit derselben Begeisterung in sich hineinschaufelten, wie sie über meine Mahlzeiten herfielen, sprang ich auf meinen Drahtesel und machte mich auf den Weg zum Markisenladen. Ich hätte auch laufen können. Es waren nur dreihundert Meter. Aber ich hatte das Gefühl, ich sollte möglichst schnell Ed hinter mich bringen, der noch immer am Betontisch wartete.

»Koon Jimm …?«, hörte ich hinter mir.

»Nicht jetzt, Ed.«

Was für ein Mann – das frage ich – hat angesichts der momentanen Wirtschaftskrise mitten am Tag zweieinhalb Stunden übrig? Ein arbeitsloser Loser – das sage ich.

Aber jetzt wünschte ich, ich wäre gelaufen, denn ein kleiner Spaziergang in der Mittagshitze wäre besser gewesen, als von jedem Motorrad und jedem Auto angegafft zu werden, das unsere Dorfstraße entlangfuhr. Schließlich hörte ich Stimmen aus unserem Laden, und Tante Summorn, die Mutter von Mapraos dorfbekanntem Ganoven – Daeng –, dankte dem Detektiv und ging mit ihm bis an den Straßenrand.

»Das beruhigt mich sehr«, hörte ich sie sagen, und ich hatte nicht das Gefühl, dass sie von Markisen sprach. Ein Auto – weder ein Taxi noch ein Lieferwagen, der alte Leute kidnappte – hielt neben ihr und sammelte sie ein. Das passiert hier unten oft. Man geht spazieren, und alle halten an, um einen mitzunehmen. Etwas nervig, aber liebenswert. Der Detektiv drehte sich zu mir um. Falls Sie schon eine Vorstellung von einem Privatdetektiv im Kopf haben, sollten Sie diese löschen und noch mal neu anfangen. Koon Meng war etwa so groß wie ich, aber gebaut wie ein Zahnstocher. Ich staunte, dass er unter der Last seiner Kleidung nicht zusammenbrach. Vermutlich war der Kugelschreiber in der Hemdtasche schuld an seinem krummen Rücken. Sein Oberlippenbart bestand aus fünf Härchen, das graue Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen«, sagte er. »Es ist bald so weit, dass ich ein Wartezimmer brauchen könnte.«

Er lachte nur mit seinen unteren Zähnen, was ich nicht für möglich gehalten hätte.

»Schön zu sehen, dass das Detektivgeschäft so gut läuft«, sagte ich mit einer ordentlichen Portion Ironie, die er vermutlich nicht mitbekommen würde.

Wir gingen in sein Büro, das eigentlich nur das vordere Zimmer seines Hauses war, mit einem Schreibtisch in der Ecke. Ich setzte mich. Er sich ebenfalls.

»Womit kann ich Ihnen dienen?«, fragte er.

»Ich möchte wissen, welchen Dienst Sie meiner Mutter erweisen und wie viel Sie dafür zu berechnen gedenken«, sagte ich.

Ich hoffte, er würde nicht wissen wollen, ob ich diese Frage auch schon Mair gestellt hatte, denn dann müsste ich zugeben, dass dies nicht – zumindest nicht direkt – der Fall war, was den Eindruck erwecken würde, dass ich mit meiner eigenen Mutter nicht kommunizierte. Während ich draußen auf dem erniedrigenden Hocker gesessen hatte, hatte ich überlegt, wie ich reagieren würde, falls er das Problem der Vertraulichkeit zwischen einem Detektiv und seinem Klienten ansprechen sollte, und ich nahm mir vor, ihn darauf hinzuweisen, dass er Plastikmarkisen installierte, und soweit ich wusste, nahm der Ehrenkodex der Markisenbauer in keiner Weise Bezug auf derart ethische Konflikte. Doch gab er mir keine Gelegenheit, irgendwelche klugscheißerischen Antworten an den Mann zu bringen.

»Ich ermittle für sie wegen einer Vergiftung«, sagte er.

Okay. Ich gab ihm zwanzig Punkte für Aufrichtigkeit.

»Und wie gehen Sie da vor?«

»Ich bringe eine Probe ins Labor nach Chumphon.«

»Eine Probe wovon?«

»Mageninhalt. Von Ihrem vergifteten Hund.«

»Und woher haben Sie …? Oh, iiiih.«

Vor meinem inneren Auge blitzte der Plastikbehälter im Kühlschrank auf. Sie hatte doch wohl nicht … Das konnte doch nicht wahr sein. Ich schüttelte den Gedanken ab wie ein Hund, der eben gebadet hatte, das Wasser.

»Und was haben Sie entdeckt?«

»Lannate 90.«

»Und das ist …?«

»Ein weitverbreitetes Schädlingsbekämpfungsmittel. Als Insektizid hielt man es für zu gefährlich, aber es ist nach wie vor im Handel. Kein schöner Tod, würde ich mal sagen. Viele Restaurants und Ferienanlagen verwenden es, um der Menge streunender Hunde Herr zu werden. Sie mögen es nicht, wenn die Köter ihre Gäste belästigen. Sie mischen es unter Essensreste und stellen ihnen abends eine Schale vor die Tür.«

»Und dieses Gift kann unterscheiden zwischen streunenden Hunden und Hunden mit Halsbändern, auf denen eine Telefonnummer steht?«

»Nein. Bringt alle gleich um.«

»Aber die einzige Ferienanlage, das einzige Restaurant in fünf Kilometern Umkreis, sind wir selbst.«

»Stimmt.«

»Aber wir haben nicht …«

»Stimmt.«

»Und damit war Ihre Beteiligung an diesem Fall beendet?«

»Nein.«

»Was machen Sie denn noch?«

»Ihre Mutter wollte wissen, wie stark Lannate 90 ist, wie es wirkt und wer Zugang dazu hat. Ich habe ihr erklärt, dass jeder es kaufen kann, aber die meisten Leute mit Plantagen oder Obstgärten es ohnehin immer griffbereit haben. Das betrifft allerdings den Großteil der Einwohner von Maprao.«

»Und das war es dann?«

»Fast.«

»Fast?«

Er zwirbelte den Ring von einem Duschvorhang am kleinen Finger herum. Ich funkelte ihn an.

»Sie hat mich gebeten, ihr etwas davon zu besorgen.«

»Was? Wie viel denn?«

»Zwanzig Beutel.«

Ich beschloss, nicht gleich wieder nach Hause zu fahren. Ich brauchte eine Pause von all den Intrigen. Mein Hirn war aus der Übung. Seit wir hier wohnten, war nichts Verbrecherischeres passiert als die Entführung unserer nagelneuen roten Mülltonne vorn aus dem Laden, eines Abends im April. Der Fall hatte es nicht mal bis zum Polizeirevier geschafft. Der Nachbarschaftsrat war derart am Boden zerstört, dass man einen Wachtrupp aufstellte. Zum Glück fanden sie die Tonne bei einer kleinen, umherwandernden Fischergemeinde aus dem Nordosten, die darin ihren Fang kühlte. Der Vorsitzende unseres Rats verurteilte sie zu einer Geldstrafe, statt sie einzusperren, wir hatten unseren Mülleimer wieder und bekamen einen Monat kostenlos Tintenfisch. Es war ein beeindruckender Beweis für den lokalen Zusammenhalt, aber kaum eine Schlagzeile für Thai Rat wert.

Jetzt musste mein ungeübter Intellekt mit vergrabenen Hippies und erdolchten Äbten jonglieren, mit verbeulten Polizisten und dem Großen Fernseher-Raub … und verrückten, rachsüchtigen Müttern. Und alles zusätzlich zu meinen Pflichten als Köchin, Gärtnerin und Hühnerfütterin. Ich parkte das Fahrrad unter einem ausladenden Hirschohrenbaum, wo es von der Straße aus nicht zu sehen war, und setzte mich auf einen Styroporblock. Während der Monsunszeit spie der Golf so viel von dem Zeug aus, dass der Strand an manchem Morgen wie die eisige Küste Alaskas aussah. Aber wir können sicher sein, dass dieser unverwüstliche Styroporblock dank des menschlichen Erfindungsreichtums noch manches Jahrzehnt an die Strände dieser Welt gespült werden wird. Wieso wurde ich immer von irgendwelchen Problemen abgelenkt, wo ich doch hier ein Leben zu leben hatte?

Ich brauchte diesen Augenblick. Ich hatte es schon oft im Kino gesehen. Der wettergegerbte, alte Bulle, der in einem Fall von unsagbarer Grausamkeit feststeckt, lässt alles stehen und liegen, nimmt sein Jagdgewehr und seine Akten mit in eine Hütte tief im Wald, wo die Natur seit Jahrtausenden unverändert ist. Nachdem er eine Woche lang eine heiße Affäre mit einer Kiste Roggenwhiskey hatte, kommt ihm die Antwort. »Der Zwillingsbruder leidet unter Gedächtnisschwund. Er ist der Täter.« Das war der Moment der Klarheit, nach dem ich mich sehnte. Ich rief die Bäume, die Farne, den Gott des Styropors an. Das Handy in meiner hinteren Hosentasche klingelte. Ich war beeindruckt. Mutter Natur nutzte moderne Technik. Ich drückte die grüne Taste.

»Jimm am Apparat.«

»Hallo, kleine Schwester.«

»Sissi?«

»Was geht ab?«

»Ich habe mich in den Dschungel zurückgezogen, weitab jeder Form von Kommunikation.«

»Na gut. Ich will dich nicht lange aufhalten. Ich habe die persönlichen E-Mails einiger Würdenträger der Sangha gelesen.«

»Fühlst du dich okay damit?«

»Ich hab mich schlaugemacht. In den Moralgesetzen steht nichts von Hackern. Hacken ist keine Sünde.«

»Dann erzähl mir alles.«

»Dein Abt, der lebende, er hat Verwandtschaft in hoher Position.«

»Das könnte die Nachrichtensperre erklären. Ist dieser Verwandte möglicherweise eine wichtige Figur in dem Brettspiel, das momentan in Bangkok ausgetragen wird?«

»Steht genau zwischen Läufer und Turm.«

»Okay. Dann wäre es nicht sonderlich hilfreich, wenn sein Verwandter in Orange ausgerechnet jetzt des Mordes an einem Abt beschuldigt werden würde.«

»Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre es kein Problem.«

»Kapiert.«

»Es wäre sehr, sehr hilfreich, wenn die Ermittler möglichst bald einen anderen Verdächtigen finden könnten.«

»Wäre eine Nonne recht?«

»Ach, dann bist du selbst schon draufgekommen. Es wurden Recherchen zu deiner Nonne in Auftrag gegeben. Man hat eine Agentur darauf angesetzt, nach schmutzigen Geschichten zu suchen.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das hören möchte.«

»Sie war Sängerin.«

Die Implikationen waren zahlreich.

»Nachtklub?«

»Nein. Molam. Thai-Schlager. Offenbar mit einiger Gefolgschaft. Dann hat sie eines Tages die Bühne hinter sich zurückgelassen und verkündet, dass sie ihren Beruf nicht weiter ausüben wolle. Die Plattenfirma hat versucht, sie zu verklagen, aber da war sie schon weg.«

»Hat sie einen Grund genannt?«

»Nein. Sechs Monate später war sie kahl und musste sich keine Gedanken mehr darum machen, welche Farben man zusammen in der Maschine waschen kann.«

»Wann war das?«

»Vor zweiunddreißig Jahren.«

»Sie ist seit zweiunddreißig Jahren Nonne?«

»In vierzehn verschiedenen Provinzen.«

»Oha, da muss man gut zu Fuß sein.«

»Allerdings. Aber an dieser Stelle möchte ich dich in eine Zeit entführen, als Schwester Bia noch die flachbrüstige Nong Bia war, Schülerin auf der Highschool eines kleinen Dorfs in Burirum. Einer ihrer Klassenkameraden war ein junger Bursche namens Kem.«

»Abt Kem?«

»Verdirb mir nicht meine Geschichte.«

»Die beiden sind im selben Alter? Ich kann’s nicht glauben. Er sieht zwanzig Jahre älter aus.«

»Anscheinend hat er sich während eines längeren Dschungelaufenthalts die eine oder andere Krankheit eingefangen, die seiner Haut nicht gut bekommen ist. Aber du zwingst mich vorzugreifen. Kem war schon vor der Lepra nicht eben der hübscheste Junge in der Klasse. Aber er war ehrlich und aufrichtig. Offenbar hatte er etwas, das den anderen Jungen fehlte, denn Bia verbrachte viel Zeit mit ihm. Es wurde schon darauf spekuliert, dass die beiden eines Tages heiraten würden. Aber am Abend der Abschlussfeier, als sich alle anderen Pärchen in die Büsche schlugen, um ihre Ankunft in der Welt der Erwachsenen zu feiern, verkündete Kem, dass er sich dem Tempel von Thamathiraram anschließen wollte, um Mönch zu werden.

Es hat sie völlig überrascht. Sie singt weiter mit ihrer Familienkapelle und macht sich bald einen Namen. Aber immer, wenn sie in Burirum ist, besucht sie ihren alten Schwarm im Tempel. Sie wird berühmt für ein Liebeslied, das sie selbst geschrieben hat: ›Safrangelb ist meine Liebe‹.«

»Machst du Witze? Das kenne ich. Es ist wunderschön.«

»Kann sein. Dadurch wurde sie jedenfalls unter den molam zur Berühmtheit.«

»Hat sie einen Hut getragen?«

»Was für einen Hut denn?«

»Einen orangefarbenen. So was wie eine Requisite, wie Michael Jackson?«

»Gesehen habe ich keinen. Ich hab mir Bilder von ihr runtergeladen, auf denen sie auf der Bühne steht. Ein Hut ist mir nicht aufgefallen, aber eins kann ich dir sagen: Sie war ein heißer Feger. Man muss schon ein echt ernsthafter Mönch sein, um so eine Braut zurückzuweisen. Es gab Zitate von ihrem Manager. Er meinte, sie war eine schwierige Klientin, weil sie bei ihren Tourneeplänen auf regelmäßigen Besuchen in Burirum bestand. Aber bei einem schicksalhaften Trip zum Tempel ist Kem auf einmal nicht mehr da. Er ist auf Pilgerreise. Jahrelang weiß niemand, wo er ist. Bias Karriere stürzt ab. Ihr fehlt das Selbstvertrauen, die Motivation, und deshalb macht sie ihre unerwartete Ankündigung. Mit Ende zwanzig wird sie Nonne und beginnt ihre Wanderschaft von einer Provinz zur nächsten.«

»Auf der Suche nach Kem.«

»Ist das nicht zu schön?«

In diesem Moment hätte ich nie zugegeben, dass ich Tränen in den Augen hatte, und ich wusste, dass auch Sissi kein Wort über ihre Tränen verlieren würde.

»Und wann sind sie dann wieder zusammengekommen?«, fragte ich und schniefte leise.

»Vor vier Monaten kam sie im wat Feuang Fa an.«

»Irgendwelche Angaben dazu, ob sie sich in den Jahren dazwischen getroffen haben?«

»Nichts.«

»Dann findet sie ihn schließlich und weigert sich zu gehen, und er akzeptiert sie als Nonne in seinem Tempel, bis der Sangha-Agent an die Tür klopft.«

»Ironie des Schicksals, oder?«

»Aber sie hat doch gesagt, sie hätten Kontakt gehalten – Briefe, Anrufe …«

»Kein Hinweis darauf.«

»Und wie hat sich der Mönchsrat den Mord erklärt?«

»Die glauben, dass der Abt aus Bangkok in Maprao ankam und der Nonne gesagt hat, sie müsse gehen. Und dass sie ihre große Liebe dreißig Jahre lang gesucht hat und nicht kampflos aufgeben wollte.«

»Deshalb metzelt sie ihn mit einem Tranchiermesser?«

»So sehen sie es.«

»Das war nicht so.«

»Kann sein, aber das ist die Version, die sie an die Polizei weitergeben.«

Ich hatte die Fotos gesehen. Ich sah darin nicht das Werk einer Frau mit gebrochenem Herzen. Die Tat war vorsätzlich, kühl, nicht hitzig. Es war kein Verbrechen aus Leidenschaft.

»Sissi, da stimmt irgendwas nicht.«

»Vielleicht, aber meinst du nicht auch, dass es einen tollen Film abgeben würde?«

Ich überlegte.

»Ja«, antwortete ich.

»Ich könnte die Hauptrolle spielen.«

»Den Abt?«

Stille schwappte wie Tadel aus meinem Hörer. Ich vergesse manchmal, wie empfindlich der Abzug war, an dem ihr Zeigefinger ruhte. Man wusste nie, was ihn zum Zucken brachte.

»Es sollte ein Scherz sein«, sagte ich.

Zunehmende Stille. Ich rechnete schon mit einem Klicken und dem Seufzen einer toten Leitung.

»Komm schon, Sis. Lach doch mal!«

»Nicht komisch.«

»Ich weiß. Tut mir leid. Aber wenn dieser Film mit Clint funktionieren soll …«, wir waren beide glühende Verehrerinnen von Clint Eastwood – wir hatten alle seine Filme auf schwarzgebrannten DVDs gesehen –, na gut, vielleicht verehrten wir ihn doch nicht so sehr, dass wir zu seinen Tantiemen beitragen wollten, aber wir mochten ihn, »… darf Schwester Bia nicht auf dem elektrischen Stuhl enden.«

»Sie würde die Todesspritze bekommen.«

»Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?«

»Ich weiß noch nicht genau.«

Während der folgenden zehn Minuten, bis mein Akku leer war, erzählte ich meiner Schwester von dem Vorfall mit der Kamera und beschrieb ihr die Fotos. Ich glaube, sie hat das meiste mitbekommen. Als ich aufstand, klebte das Styropor wie ein Sattel an meinem Hintern. Ich weiß nicht, ob es an der Hitze lag, die ich da unten ausstrahle, oder ob irgendwie Kautschuk vom Baum getropft war, aber ich brauchte ganze fünf Minuten, um mich zu befreien. Es wäre doch eher unschicklich gewesen, einem ehemaligen Umweltminister mit einem Styroporblock am Hintern meine Aufwartung zu machen.

Das Schild, auf dem stand, dass sich hier die Zentrale der Awuso Foundation befand, war an einen stabilen Betonpfeiler geschraubt, gleich neben einem prunkvoll ziselierten Eisentor, das über mir aufragte. Das einstöckige Haus glich einer Hochzeitstorte mit Zuckerguss, römischen Säulen und Erdbeerbesatz. Mit feuchtem Finger tippte ich an das Tor, für den Fall, dass es unter Strom stand. Die Glasscherben oben auf der vier Meter hohen Mauer hatten mich auf die Idee gebracht, doch mein Finger schrumpfte nicht zu einem Wurststummel. Ich investierte etwas mehr Kraft in das Tor und stellte fest, dass das Riesending mühelos auf Gummirädern lief. Tatsächlich war es so gut geölt, dass es immer weiterrollte und ich ihm hinterherhetzen musste, damit es nicht im reich verzierten Blumenbeet landete.

Mittlerweile spürte ich Blicke. Bei der Zählung fand ich sechs Augen, die auf mich gerichtet waren und Gärtnern in militärischen Tarnanzügen gehörten, die mit Schläuchen und Hacken bewaffnet waren, aber nur herumstanden wie Statisten. Zwei weitere Augen beobachteten mich von einem Balkon im oberen Stockwerk aus. Ich nahm an, dass sie dem Mann gehörten, den ich hier besuchen wollte – Sugit Suttirat. Sie lagen tief in einem kleinen Schweinskopf, der auf einem fleischigen Körper saß. Es war, als betrachtete man die Unterseite einer Schildkröte, nur dass diese Schildkröte einen Kim-Il-Sung-Safarianzug samt Baseballkappe trug. Ich wusste nicht, ob er meinetwegen auf den Balkon gekommen war oder ob er schon den ganzen Tag dort stand und sein Prothesenlächeln und dieses Winken übte, das aussah, als tippte er auf einen Taschenrechner ein. Ich hatte natürlich vorher angerufen. »Freie Journalistin schreibt Serie über unvergessliche Politiker.« Ich wäre nicht warmherziger empfangen worden, wenn man mich nackt auf einer Matratze aus Tausend-Baht-Scheinen hereingetragen hätte.

»Nong Jimm?«, rief er.

Nong war dazu angetan, einem auf den Schlips zu treten, wenn man gar kein jüngerer Verwandter war. Es galt Kellnern und Putzfrauen und Straßenkindern und machte einen zu etwas, das man nicht sein wollte. Bei einem Mann von seinem Ansehen jedoch bedeutete es rein gar nichts.

»Tan Sugit«, quiekte ich.

Tan war superschleimig. So weit von Nong entfernt wie die Slums von Klong Tuey vom Ginza. Nachdem ich durch alle überflüssigen, mir dargebotenen Reifen gesprungen und über eisbrechende Trümmer geklettert war, saß ich neben ihm auf einer endlosen braunen Ledercouch in seinem Wohnzimmer. Aus der Nähe sah ich, dass der eine oder andere Schönheitschirurg an Tan Sugit herumgewerkelt hatte. Er konnte seinen Mund bewegen, aber das war nördlich vom Hals so ziemlich alles. Seine Knopfaugen zwinkerten nicht, und seine Wangen blieben starr, wenn er lächelte. Sein Gesicht war statisch wie ein Fachwerkhaus.

Mein treuer, alter Kassettenrekorder stand zwischen uns. Ich hätte den digitalen Weg beschreiten können, aber ich sah gern zu, wie sich die Spulen drehten. Ich testete ihn: »One-two, one-two«, auf Englisch, um meine internationalen Referenzen zu untermauern, dann begann ich das Interview. Ich hatte die Absicht, nicht direkt mit der Frage ins Haus zu fallen: »Haben Sie zwei Hippies ermordet und sie begraben, weil sie gedroht hatten, Ihre kriminellen Machenschaften zu verraten?« Das würde später kommen. Es sollte eine erste Begegnung zum Kennenlernen sein. Als beinah preisgekrönte Journalistin musste ich unparteiisch bleiben und mit ihm sprechen, als hätten ihn Menschen großgezogen und nicht Aale. Als Pressevertreterin blieb man passiv und sprach mit seinem Interviewpartner, ohne sich dabei vorzustellen, wie man den Schoß seines hellblauen Safarianzugs in den Eisstampfer einer Fischfabrik schob. Man gab sich professionell.

Während des gesamten Interviews beobachtete ich ihn, und immer wieder kam mir die Frage in den Sinn: »Wie wird ein kleiner, übergewichtiger Mann, der offensichtlich nicht in der Lage ist, sich mit den eigenen Fäusten zu wehren, dermaßen einflussreich?« Die Antwort lautete – wie immer: »Geld!« Er stank förmlich danach. Nach einem kurzen Abriss seiner frühen Jahre war ich in Surat angekommen, im Jahr 1978. Demonstrativ warf ich einen Blick auf mein Klemmbrett.

»Soweit ich weiß, hatten Sie Ende der Siebziger mit Autovermietungen zu tun«, sagte ich. Es war nur eine unter vielen Fragen auf meiner Liste, und ich hob sie nicht sonderlich hervor. Sein Lächeln streckte sich bis an seine Grenzen. Ich fürchtete schon, gleich könnte eine Naht platzen, von der Wange bis rauf zu seinem kahlen Schädel. Ich würde Zeugin werden, wie ihm alles aus dem Gesicht fiel. Aber es hielt.

»Ich weiß nicht, woher Sie das haben«, sagte er. »Ich hatte damals mit einer ganzen Reihe von bahnbrechenden Unternehmungen zu tun, aber Autovermietung gehörte nicht dazu.«

Eine übergewichtige Mittfünfzigerin mit kurz geschorenen, blutrot gefärbten Haaren brachte uns Kaffee auf einem Tablett. Sie war ganz in Weiß gekleidet wie eine späte Judoschülerin, die noch keinen Gürtel hatte. Er ignorierte sie, und daher wusste ich, dass sie entweder eine Dienstmagd oder seine Geliebte war. Eine Ehefrau hätte er mir vorstellen müssen.

»Tatsächlich?«, fragte ich.

»Ich glaube, das müsste ich wissen.«

Ich blätterte zur vorherigen Seite auf meinem Klemmbrett.

»Hier steht, 1978 sei es zu einem beunruhigenden Zwischenfall gekommen, als es hieß, Ihre … Firma sei am Diebstahl von Mietwagen beteiligt. Meinen Unterlagen entnehme ich, dass Sie einige Zeit im Gefängnis gesessen haben.«

Er lachte wieder, oder zumindest lachte sein Mund. Da sein Gesicht kein Mienenspiel zuließ, konnte ich auch nicht nach Hinweisen auf Schuldgefühle Ausschau halten.

»Nong«, sagte er mit seinem tiefen Bariton, »bei einem Mann von meinem Ruf ist zu erwarten, dass neidische Zeitgenossen ihn in die Knie zwingen wollen. Es steht eine Menge auf dem Spiel. Wenn man einen ehrlichen Mann am Ruder hat, betrachten ihn die kriminellen Subjekte als Bedrohung ihres Wohlergehens. Ein Mann, der unbestechlich und nicht zu korrumpieren ist, wird immer eine gute Zielscheibe abgeben.«

»Also sind Sie nie verhaftet worden?«

»Selbstverständlich nicht.«

Oh, er war aalglatt. Die Lüge war so dreist, dass die Nadel eines Lügendetektors während seines gesamten Auftritts ausgeschlagen hätte. Der geborene Politiker. Er sah auf seine Uhr, und ich merkte, dass ihn die Richtung ärgerte, die dieses Interview genommen hatte. Daher gab ich ihm noch etwas Egofutter, um ihn wieder auf die Bahn zu bringen. Bald schon schnaufte er hübsch vor sich hin, mit der Selbstsicherheit eines gewählten Volksvertreters, also ging ich das Risiko ein, ihm noch eine Eisenstange vor die Lok zu werfen.

»Dann kommen wir nun also zu Ihrer Beziehung zur Familie Chainawat in Ranong«, sagte ich beiläufig.

Natürlich hatte ich keine Ahnung, ob es eine solche Beziehung gab, aber einen Versuch war es wert.

»Woher haben Sie diese Informationen eigentlich?«, fragte er ernst.

»Ach, wissen Sie, Bibliotheken, alte Nachrichtenarchive, Internet. Vor ein paar Wochen habe ich sogar mit dem Provinzgouverneur am Telefon über Sie gesprochen. Er war auch derjenige, der vorgeschlagen hat, einen Artikel über Sie zu schreiben. Sie sind wirklich ein Prominenter, und für mich ist es so aufregend, persönlich hier bei Ihnen zu sein. Ich war wegen einer anderen Sache bei den Chainawats, und die haben auch von Ihnen gesprochen.«

»Haben Sie, ja?«

Ich hatte ihn. Seine Zähne waren der Luft zu lange ausgesetzt und klebten innen an den Lippen fest. Mit meiner Probebohrung hatte ich eine Leitung getroffen und ein plötzliches Charisma-Leck verursacht. Da gab es etwas. Ich war bereit, es dabei zu belassen und zu einem anderen Thema zu kommen, aber er ging langsam zum Angriff über.

»Was genau hat sie gesagt?«, fragte er.

»Wer?«

»Die … Madame Chainawat.«

»Nun, eigentlich haben wir über Ländereien gesprochen. Es gibt da ein Stück Land in Ny Kow, das meine Familie gern erwerben möchte. Wir haben eine ganze Reihe von Projekten in Planung: Hotels, Studiencamps, Rinderfarmen, äh …«

Ich kämpfte. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mir was einfallen zu lassen, wieso um alles in der Welt die alte Dame Chainawat diesen Aal mir gegenüber erwähnt haben sollte.

»… Paintball-Seminare, solche Sachen«, fuhr ich fort. »Mrs. Chainawat meinte, wenn ich irgendetwas über Ländereien in der Gegend wissen wollte, sei Nong Sugit der richtige Mann.«

Puh! Ich fand, das mit dem Nong gab dem Ganzen eine hübsche Färbung.

»Das waren ihre Worte?«

»So ungefähr.«

»Nong Jimm«, sagte er nach einem Schluck aus der längst leeren Kaffeetasse, »es gibt sehr viele gute, respektable, chinesische Familien wie die meiner Vorfahren. Familien, deren Herzen für die Zukunft unseres großartigen Königreichs schlagen. Dann gibt es Leute wie die Chainawats. Seien Sie besonders achtsam, wenn Sie mit denen Geschäfte machen, und glauben Sie auf keinen Fall alles, was die Ihnen erzählen.«

Und damit waren wir plötzlich am Ende unseres Interviews. Der Exminister war aufgestanden und schob mich zur Tür.

»Wären Sie damit einverstanden, wenn ich Sie noch um einen zweiten Interviewtermin bitten würde?«, fragte ich. »Ich würde gern auf Ihre Jahre in der Regierung zu sprechen kommen und vielleicht ein paar Fotos machen. Die Zeitschrift Matichon Weekly möchte eine Doppelseite daraus machen.«

»Sicher, sicher«, sagte er und schob mich immer noch voran. »Ich freue mich immer, mit der Presse zu sprechen.«

»Wann kann …?«

Doch er hatte sich umgedreht und war schon wieder im Schatten des Hauses, ließ mich im prallen Sonnenschein auf der Vordertreppe stehen, umgeben von drei oder vielleicht auch vier getarnten Gärtnern.